TEIL A: GRUNDFRAGEN DER DISZIPLIN
Die folgenden Überlegungen zur Disziplin stellen einige Grundgedanken in den Mittelpunkt, die sich in verschiedenen Wendungen aufgreifen lassen. Der erste Abschnitt A, der die Grundfragen der Disziplin berührt, beginnt mit einer historischen Verortung sowie einer anthropologischen Grundlegung. Die historische Dimension zu kennzeichnen, fällt insofern nicht schwer, als sich hier Überschneidungen mit allgemein erziehungswissenschaftlichen und allgemein sonderpädagogischen Entwicklungen ergeben. Im Zusammenhang mit der anthropologischen Dimension aber erhalten diese Überlegungen eine notwendige Erweiterung. Denn es gilt zum einen, nach den konkreten Menschen und Menschenbildern zu fragen, die für die Entstehung der Disziplin überhaupt maßgeblich sind; es müssen gleichermaßen aber auch die wissenschaftlichen, medizinischen, pädagogischen und institutionellen Entwicklungen auf einen Nenner gebracht werden, obwohl sie möglicherweise in vielerlei Hinsicht differieren. Die nachfolgenden Punkte – die Entstehung und Konsolidierung von Organisationsformen, Leitgesichtspunkte der Pädagogik bei Entwicklungsstörungen und inklusive Streitfragen – verstehen sich also aus diesem historischen Entwicklungsprozess heraus. Wenn sich nun zwar kein einheitliches und widerspruchsfreies pädagogisches Gerüst ergibt, so wird es doch die Aufgabe sein zu klären, welche Sinnkriterien für die Disziplin leitend sind. Diese Aufgabe ist, wie wir sehen werden, alles andere als simpel. Denn man könnte sich natürlich an dieser Stelle mit dem Leitziel der sozialen und personalen Integration begnügen und forthin fragen, welche methodischen und praktischen Entscheidungen diesem Ziel dienlich sind. So einfach wird die Selbstbeschreibung der Disziplin allerdings nicht ausfallen und von daher rechtfertigt sich die Beschreibung eines voraussetzungsvollen Perspektivwechsels. Für die Grundlegung der Disziplin ist der Wechsel von einer individualisierenden zu einer verstehenden Sichtweise zentral. Wie sich diese verstehende Perspektive auszeichnet, welche Vorteile sie für die Konsolidierung der Disziplin hat, auf welchem Fundament das Verständnis kindlicher Auffälligkeit fortan aufruht und wie schließlich der Signalcharakter kindlichen Verhaltens einzuordnen ist, dies alles soll im Zusammenhang dieses Perspektivwechsels deutlich werden.
1 DIE GESCHICHTE DES FACHS
Beim Versuch, die Geschichte der Pädagogik bei emotionalen und sozialen Entwicklungsstörungen zu erfassen, trifft man unwillkürlich auf eine Schwierigkeit. Als eigenständige Disziplin gehört sie zu den jüngeren Fachrichtungen der gängigen Behindertenpädagogik, wenn man diese spezielle Pädagogik von der Entwicklung verschiedener Einrichtungen her betrachtet. Zugleich scheint es, dass sich dieses Fach eine diskrete Eigenständigkeit und Legitimation bewahrt hat, dass es sich also im Hinblick auf eine unbestimmte Zukunft eine gesellschaftliche Autonomie bewahrt hat. Die Geschichte der Pädagogik bei emotional-sozialer Störung ist nicht gleichzusetzen mit der herkömmlichen behindertenpädagogischen Geschichtsschreibung, aber können wir hieraus auch schlussfolgern, dass dieser besonderen Pädagogik innerhalb der gegenwärtigen Umstellung auf inklusive Strukturen eine Sonderrolle zufällt? Dies versuchen wir im Folgenden zu prüfen, indem wir auf die historischen Bedingungen blicken, die zur Entstehung der Disziplin beigetragen haben, indem wir ferner nach den historischen Kategorien fragen, die in der Gegenwart nichts von ihrer ursprünglichen Bedeutung eingebüßt haben. Das Ziel soll es demensprechend sein, die disziplinäre und historische Verortung des Fachs mit der Frage nach den gegenwärtigen Aufgabenstellungen zu verknüpfen.
Dazu wäre allerdings einleitend zu fragen, ob man überhaupt sinnvoll von einer Einheit der Disziplin, von einem eigenständigen Fach sprechen kann. Die Wahrnehmung der Autonomie des Fachs ist ja davon abhängig, ob man es lediglich als Anhängsel einer allgemeinen Pädagogik, als Hilfswissenschaft oder als spezialisierte Lehre begreift, die im Zuge der Umstellung der Rechtsvorstellungen nach und nach überflüssig wird. Insbesondere der Leitgedanke der Inklusion könnte ja dazu beitragen, dass eine eigenständige „Lehre“ der Pädagogik bei emotionaler und sozialer Auffälligkeit nur noch als Schwundstufe wahrgenommen wird, als eine pragmatische Hilfspädagogik. Eine Darstellung der Geschichte der Disziplin müsste sich daher verstärkt mit der Frage nach ihrer einheitlichen Form beschäftigen. Tatsächlich ist die Rede von einem einheitlichen Fach dann missverständlich, wenn wir von den betreffenden Institutionen und nicht nur von individuellen Abweichungen ausgehen. Das, was lange Zeit als „Verhaltensgestörtenpädagogik“ bezeichnet wurde, hat zwar psychologische und pädagogisch-therapeutische Wurzeln der Disziplinierung und Normalisierung. Aber sozialgesellschaftlich und institutionell können wir hier an ganz verschiedenen Punkten ansetzen (im Folgenden Myschker 1990). Die Gründung von eigenen Anstalten für hilfsbedürftige Kinder etwa lässt sich bis in das Mittelalter zurückverfolgen. Rettungs- und Waisenhäuser folgten zunächst christlichen Leitvorstellungen, die mehr oder minder christlichen Unterweisungen gleich kamen. Im Zuge der frühen Neuzeit wurde dann auch die Frage der Erziehung und Bildung verwahrloster, bedrohter und unversorgter Kinder und Jugendlicher ins Zentrum gestellt. Die Entwicklung des Jugendstrafvollzugs verlief ähnlich, begann aber erst im ausgehenden 16. Jahrhundert und ist dem Sinneswandel Rechtsbrechern gegenüber geschuldet, der durch religiöse, ethische und ökonomische Entwicklungen flankiert wurde. Beide Entwicklungsstränge sind also in historischen Zusammenhängen zu betrachten, in denen sich der Umgang mit Andersartigkeit, mit hilfebedürftigen Kindern und Jugendlichen, aber auch mit Kriminalität jeweils unterschiedlich ausprägte. Die Entwicklung von Einrichtungen innerhalb öffentlicher Schulen bildet einen weiteren Aspekt, der einer spezifischen Geschichte unterliegt. Zwar lassen sich Vorläufer Ende des 19. Jahrhundert im Rahmen schulhygienischer Forschungen benennen, in denen es um Fragen „moralischer Gesundheit“ und drohender Verwahrlosung ging. Aber die Entwicklung und Entstehung von Beobachtungs-, Erziehungs- und Kleinklassen ist im 20. Jahrhundert zu verorten, während der Ausbau von eigenständigen Sonderklassen, Sonderschulen und integrierten Fördereinrichtungen im Zusammenhang mit Entwicklungen im westlichen Teildeutschland nach dem 2. Weltkrieg zu betrachten ist (Myschker 1990, S. 174 ff.). Die „Sonderschule für Verhaltensauffällige“ ist ein Kind der Moderne, besser gesagt: ein Kind der funktional differenzierten Gesellschaft.
Wenn man sich also die Mühe macht, nach einer distinkten Geschichte einer pädagogischen Disziplin zu fragen, in der es zu differenzierten Betrachtungen und Vorstellungen des Umgangs mit psychischen Störungen kam, ist man auf verschiedene Entwicklungsstränge verwiesen, die hier noch um die Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie ergänzt werden müssten. Was ist nun aber das Gemeinsame und Verbindende, das diese getrennten Teilordnungen zusammen führen kann? Tatsächlich lässt sich für alle genannten Entwicklungsstränge – Fürsorge, Justiz, Bildung, Psychiatrie – ein verändertes Muster des Verständnisses und des Umgangs mit Abweichung postulieren. So unterschiedlich sich die jeweiligen Institutionen historisch entwickelt haben, so ist doch das Verständnis der Entwicklungsstörung weiter entwickelt und ethisch vertieft worden. In den frühen Waisenhäusern blieb die Hilfe noch in der entmündigenden Fürsorge stecken, nicht wenige Rettungshäuser wurden unter merkantilistischen Vorstellungen zu Ausbeutungsinstitutionen kindlicher Arbeitskraft. Die Institutionen des Strafvollzugs unterlagen lange Zeit rigiden institutionellen Zwängen, bis sie durch Reform- und Demokratiebestrebungen gelockert wurden. Die Logik der Sonderklasse/Sonderschule entsprach lange Zeit bekanntlich den gesellschaftlichen Vorstellungen der scheinbar notwendigen Aussonderung und Separierung, bis schließlich Demokratisierungs- und Integrationstendenzen die schulische Isolation ein Stück weit auflöste. Hier wie dort lassen sich also, wenn auch zeitlich versetzt und mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Leitvorstellungen, Humanisierungs- und Demokratisierungstendenzen beobachten, welche die moderne Disziplin in ihren wesentlichen Zügen beschreiben. Heute besteht die Aufgabe der Disziplin bekanntlich darin zu fragen, welche Hilfen für Menschen mit sozial-emotionalen Störungen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Funktionserfordernisse sinnvoll und zielführend sind (Abb. 2). Aber diese Aufgabe ist natürlich von einer verbindlichen Lösung weit entfernt, so dass wir im Folgenden von einer Notwendigkeit sprechen können, die Sinnkriterien der Disziplin im Horizont ihrer historischen Entwicklung zu reflektieren. Anders ausgedrückt: welche Leitvorstellungen haben sich als prägnant und sinnvoll erwiesen und müssen in der Gegenwart neu, aber nicht vollkommen anders bestimmt werden?
Abb. 2: Bezüge zwischen Disziplin, Hilfen und Funktionserfordernissen
1.1 Der Aspekt der Unterversorgung
Dass Sondererziehung auf Kompensation hin angelegt sei und dass die Heil- und Sondererziehung gewissermaßen als wohltätige Antwort auf eine gescheiterte Erziehung hin zu verstehen sei, dies umschreibt eine ältere Leitvorstellung. Ebenso wie die Orientierung an der defizitären kognitiven Lernsituation, galt der Aspekt der Bedürftigkeit, des emotional-sozialen Mangels als grundlegend. Dieser Aspekt leitete Erziehungsmethoden innerhalb der Disziplinen an und diente berufsethischen Leitvorstellungen. Es dürfte nicht weiter schwierig sein zu erklären, dass dies zu einem eingeschränkten Blickwinkel auf das Wesen einer Behinderung und zu einem problematischen Professionsverständnis führte, insofern es in der jeweiligen Sprache um die Separierung der Störenden, um die Disziplinierung der Abweichler oder auch nur um die „Rettung“ Unterversorgter ging. Die Probleme sind heute natürlich anderer Natur und die Sprache hat sich vom diskriminierenden Unterton distanziert. Gleichwohl soll ein besonderer Aspekt in den Vordergrund gerückt werden, der nach wie vor schwierig ist – der Aspekt der Bedürftigkeit. Der Aspekt der seelischen Bedürftigkeit kennzeichnet den engen Zusammenhang zwischen allgemeiner Pädagogik, Sozialpädagogik und Heilpädagogik, der in bestimmter Hinsicht auch heute noch gilt, freilich unter veränderten sozialgesellschaftlichen Vorzeichen. Blicken wir in die Geschichte, fallen u. a. zwei Persönlichkeiten besonders auf: Johann Heinrich Pestalozzi erfasste nicht nur die Unzulänglichkeit des Elementarunterrichts, sondern er erkannte auch die destruktiven Folgen der Industrialisierung und insbesondere die grassierende Erziehungsnot in den Familien (im Folgenden Möckel 1988). Sein Bestreben ging bekanntlich dahin, gesellschaftliche und erzieherische Gegenkräfte zu entwickeln, um das unverschuldete Leid verwahrloster Kinder abzuwenden. Dem Niedergang aller sozialen Ordnungen hielt er die Selbstheilungskräfte von Erziehung und Unterricht in Haus und Schule entgegen. Grundlegend erscheint in seinem Werk aus naheliegenden Gründen die Orientierung an den Kategorien der Leidbedrohtheit, der Verletzbarkeit und der kindlichen Bedürftigkeit. Die Erziehung zu einem nützlichen und tätigen Leben findet ihren logischen Ausgangspunkt in der Orientierung an der „Errettung der im niedersten Stand der untersten Menschheit vergessenen Kinder“ (Pestalozzi 1775, S. 3). Auch die oben bereits erwähnte Rettungshausbewegung versteht sich in diesem Zusammenhang als eine Veranstaltung zur Linderung kindlicher und familiärer Not. Johannes Falk (1768-1826) erkannte im Angesicht der Destruktivität des Krieges, dass die Kraft der Familien nicht ausreichte, um aus Armut und Verelendung heraus zu finden, noch um die drohende Verwahrlosung und Unterversorgung der Kinder abzuwenden. Mit der Rettungshausbewegung sind die Namen Adalbert von der Recke, Christian Heinrich Zeller oder Johann Heinrich Wichern verknüpft. In den Häusern bürgerte es sich ein, die Leiter als Vater und Mutter anzureden, einen religiösen Ernst mit hoher Disziplin zu verknüpfen und vielseitige Erzieher und Helfer auszubilden. Man wusste, dass die leiblichen Eltern nicht ersetzt werden konnte, dass es mitunter notwendig war, die familiären Brücken abzureißen, um der elementaren Not und Aufsichtslosigkeit entgegen zu wirken (Möckel 1988, S. 75-88). Man verstand Armennot durchweg auch als Erziehungsnot und dachte über Wege und Methoden nach, um der Ausweglosigkeit der sozialen Hintergründe zu entrinnen. Wo alte Wege der Erziehung in Sackgassen mündeten, wurden neue Wege beschritten. Ohne dass wir hier den Maßstab der modernen Pädagogik gebrauchen, erkennen wir doch einige wesentliche Sinnkriterien: Aus der Erkenntnis der seelischen und gleichermaßen sozialen Notlage zog man den Schluss, den Kindern zu einer eigenen Existenz verhelfen zu müssen. Die Gründung eines eigenen Hausstammes, mit allen dazugehörigen sozialen Verpflichtungen war das wesentliche Ziel. Rettung hieß hier, die Jugendlichen zu Mitgliedern der Gemeinde zu machen, die Strenge und Zucht, die Strukturierung des Tages, das Exerzieren und die Kontrolle, der religiöse Eifer und der unbedingte Konformitätsdruck, den man natürlich heute kritisch sieht, dienten der fundamentalen Sozialisation, wenngleich dies natürlich mit vielen Schwierigkeiten, auch nicht seltenen Verfehlungen verbunden war.
Wir erkennen also hier eine wichtige Kategorie der Haltgebung, die sich aus der Erkenntnis einer seelischen Not, einer Bedürftigkeit ergibt. „In den Rettungshäusern fanden die Jugendlichen in einer Gemeinde Halt. Mit diesem Rückhalt konnten sie bis zu ihrem Eintritt ins Erwerbsleben rechnen“ (ders. S. 80). Das Sinnkriterium des Halts auszuzeichnen, heißt nun nicht, die Schwächen und fundamentalen Nachteile zu leugnen. Es gibt Beispiele, dass die Erziehung missglückte; viele „erzieherische“ Grundannahmen waren problematischer Natur. Man ging etwa davon aus, dass es darauf ankomme, eingetretene Schäden zu beseitigen und dem Verfall der christlichen Sitten und des christlichen Glaubens mit allen Mitteln entgegen zu wirken. Die Erziehungslehre war restaurativ und rückwärtsgewandt, aber die grundlegenden Reformen und Institutionen, die sich der Rettung der Schwächsten annahmen, waren es nicht. In gleichem Maße ist auch die Leitvorstellung nicht zu unterschätzen, die der Not kindlicher Unterversorgung und der Bedürftigkeit entspringt. Entziehen wir dieser Sinnfigur die hypermoralische und missionarische Hülle und ziehen wir den Vergleich mit modernen gesellschaftlichen Verhältnissen, dann bleibt doch stets die Grundfrage der Unterversorgung – und wie man dieser begegnen könnte – bestehen.
1.2 Die Leitvorstellung der Industriosität
Pädagogische Leitvorstellungen und Entwicklungen, die wir in der Geschichte der Pädagogik erkennen können, sind in einem Horizont von wirtschaftlichen Bedingungen zu betrachten. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen der Entwicklung besonderer Einrichtungen und den jeweils herrschenden ökonomischen Verhältnissen. Dies mag nicht weiter überraschen, aber es ist des Weiteren zu fragen, in welchem Maße pädagogische und ökonomische Leitvorstellungen in der Gegenwart zusammen gelesen werden können. Die Darstellung einer speziellen Pädagogik bei Kindern mit psychischen Störungen und Verwahrlosungstendenzen kommt insofern an einer Kritik an systematischen Ausbeutungsverhältnissen, wie sie sich in der Geschichte abzeichnen, nicht vorbei. Während sich die disziplinäre Struktur der traditionellen Bildungseinrichtungen bekanntlich auf Maßnahmen gründete, die das Verhalten nach den vorhandenen Ordnungsangeboten auszurichten versuchte und Erziehung in der Geschichte nicht selten durch rigide Strenge geprägt war, so lässt sich in der Geschichte der Waisen-, Rettungs- oder Erziehungshäuser eine spezifische Verflechtung mit wirtschaftlichen Imperativen nachlesen. Zwar waren planvolle Erziehung und Bildung für verlassene und verwahrloste junge Menschen ein nach und nach prägendes Element, aber in gleichem Maße wurde auch die Orientierung an gesellschaftlicher Nützlichkeit erkennbar. Nicht wenige Rettungs- und Waisenhäuser entwickelten sich in Anwendung merkantilistischer Vorstellungen zu „Ausbeutungsinstitutionen kindlicher Arbeitskraft“ (Myschker 1989, S. 158). Gleichwohl gilt es zu differenzieren: zwar wurde eine Beschäftigung der verwahrlosten und „verwilderten“ Kindern und Jugendlichen mit Arbeitsaufträgen als notwendig erachtet und die Verbindungen von Anstalt und Arbeit sowie von Schule und Arbeit mit wachsender Verbreitung praktiziert. Aber die gesellschaftspolitischen Konstellationen, insbesondere die wirtschaftlichen Imperative in Folge von Kriegen, gesellschaftlichen Krisen und auch gesellschaftlichen Transformationsprozessen, geben in einem weiten historischen Bogen den Ton an.
Hervorzuheben ist das Beispiel der Entwicklung von Industrieschulen, die unter anderem 1784 in Göttingen gegründet wurden (ders. S. 159). In diese Schulen wurden nicht nur verarmte und obdachlose Kinder, sondern auch die „schwierigeren“ Kinder aufgenommen, die mitunter auch aus gut situierten Familien stammen konnten. Hier erkennen wir das Erziehungsziel der Industriosität, also der Brauchbarkeit für ökonomische Imperative. Wie stellt sich dieser kritische Punkt, dass sich in der Geschichte der Fürsorge und Heilpädagogik auch repressive Formen der Arbeitserziehung nachlesen lassen, zu gegenwärtigen Aufgabenstellungen des Fachs? Hier ist in zwei Richtungen zu denken: einerseits gilt es einem Rückfall in vormoderne Verhältnisse entgegen zu wirken; andererseits ist es notwendig, Erziehungsziele und Sinnkriterien moderner Erziehung im Bewusstsein dieser Tendenzen zu formulieren. Die dominierende pädagogische Diskussion, in der es um gegenwärtige Desintegrationsphänomene geht, stößt sich an einem kritischen Punkt. Die moderne Gesellschaft scheint von ökonomischen Kalkülen in fast allen Bereichen durchdrungen zu sein. Der Staat befindet sich auf vielen sozialen Feldern auf dem Rückzug, sozialpolitische Errungenschaften werden dramatisch zurück gestuft, insgesamt befindet sich die Gesellschaft in einem globalisierungsbedingten Transformationsprozess. Da die Verantwortung für weite Teile der Lebensgestaltung mehr und mehr den Einzelnen überlassen wird, aber auch Individualisierung und Prekarisierung um sich greifen, erleben wir einen „Evidenzverlust des Sozialen“ (Wilken 2002, S. 57). Zu dieser Diagnose zählen die ambivalente Freisetzung des Einzelnen, ein gewisses Maß an Autonomiegewinn und Freiheit, aber insbesondere existentielle Verunsicherungen am unteren Ende der sozialen Leiter. Dass in der Dominanz ökonomischen Denkens eine diskrete Randständigkeit des Sozialen und damit auch eine Gefahr für behinderten- und sozialpädagogische Perspektiven angelegt ist, erweist sich auch im Hinblick auf moderne Arbeitsverhältnisse, insbesondere dort, wo Behinderung und Entwicklungsstörungen als individuell zu verantwortendes Schicksal verstanden werden. Für Kinder und Jugendliche, aber auch junge Erwachsene, die auf der Schwelle zum Arbeitsleben stehen, ergibt sich in der modernen Arbeitsgesellschaft eine nicht zu unterschätzende Gefahr der sozialen Herausnahme. Die gegenwärtige Gesellschaft ist bekanntlich eine Arbeitsgesellschaft, in der Arbeit eine Schlüsselfunktion hinsichtlich der zentralen Einkommens-, Teilhabe- und Lebenschancen zukommt. Für Individuen mit gestörten Entwicklungsverläufen droht in diesem Zusammenhang der faktische Ausschluss aus verschiedenen Funktionssystemen. Die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem – keine Arbeit, kein Geldeinkommen, keine stabilen Mitgliedschaften und Freiheiten – beschränkt den Zugang zu anderen Systemen, mithin aber auch den interpersonalen Zugang, es bedingt also ein soziales Unsichtbarwerden (Gröschke 2002a, S. 273; Luhmann 1997, S. 630).
Spitzen wir die Verhältnisse also versuchsweise zu und erklären die Aufhebung gesellschaftlicher Exklusionsverkettungen zu einem Leitziel der behindertenpädagogischen Reflexion, dann wäre die ältere Kategorie der „Industriosität“ in einem anderen Licht zu betrachten. Sie wäre vereinfacht gesprochen als ein Kriterium für Anerkennung zu verstehen, als ein Aspekt des pädagogischen Selbstverständnisses. Nur: dieses eigentlich unproblematische Kriterium der sozialen und personalen Integration stößt hier auf ein Leerstelle. Das hochrangige und unstrittige Leitziel der Sozialisation im Sinne gesellschaftlicher Ertüchtigung, das damals wie heute gilt, trifft heute auf vielseitige Muster der Exklusion. Vieles, was an pädagogischer Ertüchtigung semantisch harmlos wirkt („Empowerment“, „Selbstermächtigung“, „Selbsthilfe“), ist mit individuellen Brüchen und Versagen konfrontiert. Das Kriterium der Ertüchtigung im Sinne langfristiger Sozialisation ist immer wieder neu auszubalancieren. Dies beginnt schon bei der an sich simplen Frage, ab wann man Willensbildungsprozesse noch beeinflussen kann oder wann z. B. das Konzept der erlernten Hilflosigkeit in gesellschaftliche „Unbrauchbarkeit“ umschlägt.
Ein großer Anteil der Kinder und Jugendlichen, die spezifischen Entwicklungsstörungen unterliegen, lebt in einer Situation objektivierbarer Armut. Für die Gruppe der sogenannten „Lernbehinderten“ – um eine ältere Terminologie zu bemühen – gilt bekanntlich die Diagnose der soziokulturellen Benachteiligung (Weiß 2000). Für Kinder mit emot...