Ausgehend von einem geschichtlichen Ăberblick fasst das Werk den heutigen Stand der Psychodynamischen Psychotherapien mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in komprimierter und verstĂ€ndlicher Form zusammen. Wissenschaftlich fundiert und praxisorientiert bietet es einen Ăberblick ĂŒber die von der Psychoanalyse ausgehenden therapeutischen Schulen und Verfahren. Dabei werden sowohl die von Freud als auch die von C. G. Jung beeinflussten Richtungen dargestellt: ein Kompendium der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie aus psychodynamischer Perspektive. Didaktisch durchdacht wird der Leser in die komplexe Thematik eingefĂŒhrt und durch Fragen und vertiefende Literaturempfehlungen zum weiteren Studium angeregt.
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Teil II Theoretische Grundlagen und therapeutische Implikationen
3 Die Triebtheorie
3.1 EinfĂŒhrung
In diesem Kapitel werden die GrundzĂŒge der Triebtheorie beschrieben, die auf den GrĂŒnder der Psychoanalyse, Sigmund Freud (*1856 in Freiberg, â 1939 in London)1, zurĂŒckgeht. Seither ist die Triebtheorie immer wieder kritisiert und revidiert worden â einige dieser Kritikpunkte werden diskutiert. Die heutige Relevanz der Triebtheorie fĂŒr ein grundlegendes VerstĂ€ndnis der infantilen SexualitĂ€t, der psychosexuellen Entwicklung und fĂŒr die Praxis der psychodynamischen Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen wird kritisch dargestellt.
3.2 Metapsychologie
Seelische VorgĂ€nge lassen sich nicht direkt beobachten und messen wie etwa biochemische oder physikalische Sachverhalte. Sie sind lediglich erkennbar an ihren Auswirkungen im Denken, Phantasieren, FĂŒhlen und Verhalten des Menschen. Was hinter diesen Manifestationen steckt, lĂ€sst sich durch genaue Beobachtung erschlieĂen, wobei die Beobachtung auch den Beobachter mit einschlieĂt. Daraus ergeben sich Modelle, die sich Metaphern bedienen, um psychische VorgĂ€nge und ihre intrapsychischen und intersubjektiven Wechselwirkungen zu beschreiben. Solche Metaphern sind entlehnt aus der Naturwissenschaft ebenso wie aus Literatur, Kunst und Mythologie. Diese Modelle sind solange nĂŒtzlich, wie sie das Psychische einigermaĂen kohĂ€rent und unter BerĂŒcksichtigung des Wissensstandes erfassen und brauchbare klinische Arbeitshypothesen bereitstellen. Kommen wesentliche Erkenntnisse hinzu, werden sie ĂŒberarbeitet, verworfen oder umgestaltet. Die Gesamtheit solcher Modelle oder Konstrukte nennen wir in Anlehnung an S. Freud »Metapsychologie«. »Ich schlage vor, dass es eine metapsychologische Darstellung genannt werden soll, wenn es uns gelingt, einen psychischen Vorgang nach seinen dynamischen, topischen und ökonomischen Beziehungen zu beschreiben.« (Freud 1915e, S. 281; Hervorh. S. Freud). Psychoanalytische Theoriebildung ist nie abgeschlossen; das gilt auch und gerade fĂŒr die Triebtheorie: »Die Trieblehre ist sozusagen unsere Mythologie. Die Triebe sind mythische Wesen, groĂartig in ihrer Unbestimmtheit. Wir können in unserer Arbeit keinen Augenblick von ihr absehen und sind dabei nie sicher, sie scharf zu sehen.« (Freud 1933a, S. 101). Heute wĂŒrden wir die drei Grundpfeiler der Metapsychologie zumindest um den strukturellen und den genetischen Aspekt erweitern.
Die Freudâsche Metapsychologie ist kein feststehender Kanon psychoanalytischer Lehren. Aber sie steht innerhalb der Psychoanalyse auch nicht beliebig zur Disposition. Sie enthĂ€lt einige KernstĂŒcke, die zwar immer wieder ĂŒberarbeitet werden mĂŒssen, aber fĂŒr die Konstituierung der Wissenschaft Psychoanalyse unverzichtbar sind.
Ein solches KernstĂŒck ist die Triebtheorie, die Freud selbst Zeit seines Lebens entlang von Erkenntnissen aus seiner klinischen Arbeit modifiziert hat. Sie gilt als Ausgangspunkt der Psychoanalyse. Ihre Entfaltung geht einher mit:
⹠der Entdeckung und Beschreibung der infantilen SexualitÀt,
âą den topischen Modellen der Psyche mit den Instanzen Unbewusst, Vorbewusst, Bewusst bzw. im »zweiten topischen Modell« Es, Ich und Ăber-Ich,
⹠dem Erfassen der dynamischen VorgÀnge zwischen diesen Instanzen (wie z. B. VerdrÀngung und Hemmung)
âą sowie der Erforschung der Funktionsweisen des Unbewussten (z. B. Verdichtung und Verschiebung).
3.3 Die Entwicklung der Triebtheorie bei Sigmund Freud
3.3.1 Das erste topische Modell
Freuds Interesse fĂŒr die Psychopathologie ging von seinem Studienaufenthalt bei Prof. Charcot am Pariser »Hopital de la SalpetriĂšre« aus, wo er das Krankheitsbild der Hysterie und dessen Beeinflussung durch Hypnose studieren konnte. Im Anschluss daran entwickelte er zusammen mit seinem Arzt-Kollegen Joseph Breuer eine Behandlungsmethode fĂŒr die solcherart Erkrankten. Dabei stellte er fest, dass sich das hysterische Symptom regelmĂ€Ăig auf frĂŒhere nicht integrierbare sexuelle Stimulierungen zurĂŒckfĂŒhren lĂ€sst. Daraus ergab sich die »VerfĂŒhrungstheorie« der Ătiologie der Hysterie. Sie enthĂ€lt bereits eine Psychodynamik, Vorstellungen ĂŒber die Abwehr â und v. a. die Erkenntnis der Sexualgenese der Neurose (
Kap. 1.4.). Bereits hier beschreibt Freud die psychischen VorgĂ€nge der Dissoziation und der Affektverschiebung bzw. -konversion, wie wir sie heute in der psychischen Verarbeitung von Traumata erkennen. AllmĂ€hlich aber entdeckte er, dass seine Patientinnen nicht allein und nicht ausschlieĂlich ĂŒber reale frĂŒhe sexuelle Erfahrungen sprachen, sondern dass er vielmehr infantile sexuelle Phantasien, WĂŒnsche und Theorien vor sich hatte.
Diese Erkenntnis nötigte ihn zur Aufgabe der »VerfĂŒhrungstheorie«. Freud hat zwar die Möglichkeit realer sexueller Traumatisierung nie geleugnet, aber er hat deren AusschlieĂlichkeit in der Entstehung der Neurosen in Abrede gestellt.
Demzufolge muss es eine infantile SexualitĂ€t geben (wobei SexualitĂ€t und GenitalitĂ€t unterschieden werden mĂŒssen). Schon die Beobachtung der reichhaltigen sexuellen BetĂ€tigungen des Kindes lĂ€sst keinen anderen Schluss zu â fĂŒr das Individuum freilich fallen diese mehrheitlich der kindlichen Amnesie anheim.
Die »Entdeckung« der infantilen SexualitĂ€t impliziert ein primĂ€res sexuelles Triebgeschehen, das nicht an die unmittelbare genitale Befriedigung gekoppelt ist, sondern vorhanden ist, lange bevor die körperlich-sexuelle Reifung in der PubertĂ€t ihren Verlauf nimmt. Freud spricht von der zweizeitigen SexualitĂ€t des Menschen (Freud 1923a) â die infantile SexualitĂ€t und die reife genitale SexualitĂ€t, entwicklungszeitlich voneinander abgegrenzt durch die Entwicklungsperiode der Latenz. Diese Sexualentwicklung sei unter allen höheren Lebewesen nur dem Menschen eigen.
Was ist ein Trieb?
ZunĂ€chst muss zwischen Instinkt und Trieb unterschieden werden. Der Instinkt ist eine im Dienste der Fortpflanzung stehende biologische Funktion. Damit allein lĂ€sst sich die dem Menschen eigene SexualitĂ€t aber nicht beschreiben. Gleichwohl nimmt Freud einen biologischen Ursprung an: »âŠvon der biologischen Seite her ⊠erscheint uns der âșTriebâč als ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischem, als psychischer ReprĂ€sentant der aus dem Körperinneren stammenden, in die Seele gelangenden Reize, als ein MaĂ der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhangs mit dem Körperlichen auferlegt ist.« (Freud 1915c, S. 214). Freud verwendet hier die Vorstellung des »Reizes«, welcher auf das Nervensystem einwirkt, im Falle des Triebes bestehe seine »Herkunft von Reizquellen aus dem Inneren des Organismus« (Freud 1915e, S. 212) und seine BewĂ€ltigung sei ein komplexer Vorgang, der sich nicht ohne Weiteres aus der BewĂ€ltigung Ă€uĂerer Reize ableiten lĂ€sst. Der biologische Ursprung ist aber aus den erwĂ€hnten GrĂŒnden nicht gleichzusetzen mit dem »Erwachen« der reifen GenitalitĂ€t. Der Sexualtrieb ist weit mehr als das arterhaltende Streben nach Fortpflanzung. Sachgerechter muss man von »Sexualtrieben« reden, »sie sind zahlreich und entstammen vielfĂ€ltigen organischen Quellen« (Freud 1915e, S. 218). Sie konstituieren von Anfang an die Beziehungen des Menschen und damit das Werden seiner Persönlichkeit und sind psychisches Geschehen.
Unter dem dynamischen Aspekt ist dem Trieb ein Drang zu eigen, Ă€hnlich dem BedĂŒrfnis und dem Wunsch. Sein Ziel ist die â zumindest partielle â Befriedigung, die nach Freud in der Aufhebung oder Minderung des Reizes besteht. Sein Objekt ist dasjenige, woran diese Befriedigung erreicht wird, es ist variabel und nicht ursprĂŒnglich an den Trieb geknĂŒpft.
Unter dem ökonomischen Aspekt schreibt Freud dem Trieb eine Energie zu, eine »ErregungsgröĂe« (1915e, S. 216), die durch Handlungen nach auĂen oder durch psychische VorgĂ€nge nach innen abgefĂŒhrt werden muss, damit ein seelisches Gleichgewicht (wieder)hergestellt wird. Dieses Modell ist umstritten, weil die sexuelle Lust nicht allein im Moment der »Abfuhr« entsteht, sondern bereits mit dem Anwachsen der Erregung verbunden ist. Affekte, die mit TriebwĂŒnschen und Phantasien einhergehen, sowie ihre Verteilung im KrĂ€ftespiel der Seele scheinen angemessenere Paradigmen fĂŒr die ökonomische Betrachtung zu sein.
Unter dem topischen Aspekt wirken der Trieb und seine ĂuĂerungen in den Instanzen Unbewusstes,Vorbewusstes und Bewusstes auf unterschiedliche Weise. (Infantile) TriebwĂŒnsche, die unbewusst sind, drĂ€ngen zur ErfĂŒllung, dem widerspricht eine Schranke, die zwischen dem Unbewussten und den Bewussten im Vorbewussten wirkt, die »Zensur«; so wird ein anstöĂiger Triebwunsch teils zurĂŒckgewiesen, teils umgeformt und gelangt umgearbeitet und weitgehend unkenntlich gemacht ins Bewusste. Diese VorgĂ€nge entscheiden ĂŒber die »Triebschicksale«, so etwa die Verkehrung ins Gegenteil, die Wendung gegen die eigene Person, die VerdrĂ€ngung, die Sublimierung (Freud 1915e, S. 219). In diesem Zusammenhang verwendet Freud auch den Begriff der »Abwehr« â hier schlieĂt sich im zweiten topischen Modell die Ausarbeitung der Instanz »Ich« an, welchem diese Aufgabe zufĂ€llt und dessen AktivitĂ€t spĂ€ter in der Ich-Psychologie, allen voran bei Anna Freud, in das Zentrum der Aufmerksamkeit rĂŒckte (
Kap. 4).
Das Unbewusste
Bereits in ihren AnfĂ€ngen enthĂ€lt die Triebtheorie wesentliche Grundannahmen der Psychoanalyse wie z. B. das topische Modell, das Unbewusste sowie die konflikthafte Dynamik des psychischen Lebens. Sie liegen bereits 1900 in der »Traumdeutung« (Freud 1900a) ausgearbeitet vor. Aus der Analyse von TrĂ€umen erschloss Freud wesentliche Funktionsweisen des Unbewussten. In ihm herrschen visuelle Vorstellungen vor, Ă€hnlich den Halluzinationen. Gesetze der Logik, zeitliche, rĂ€umliche und kausale Kategorisierungen stehen dem Unbewussten nicht zur VerfĂŒgung. Die sprachliche und logische Systematisierung unbewusster Inhalte bleibt einer Arbeit des Vorbewussten/Bewussten, der »sekundĂ€ren Bearbeitung« vorbehalten. Damit TriebwĂŒnsche die »Zensurschranke« ĂŒberwinden können, bedient sich die Arbeit des Unbewussten der VorgĂ€nge der Verdichtung und Verschiebung: Mehrere Elemente unbewusster Triebregungen verdichten sich zu einem Vorstellungsinhalt, der damit mehrfach determiniert ist. Es können auch Triebregungen von ihrem ursprĂŒnglichen Inhalt abgetrennt und auf andere Inhalte verschoben werden â dies betrifft vor allem Triebziele und Triebobjekte.
Eine weitere Arbeit des Unbewussten besteht in der Verwendung von Symbolen, in denen sich mehrere Bedeutungsschichten meist aus dem Sexualleben verdichten. Das können individuelle Symbole sein, die aus der Ontogenese der individuellen Psyche stammen, wenn etwa ein bestimmtes Bild pars pro toto fĂŒr eine Reihe Ă€hnlicher Ereignisse, Empfindungen und Phantasien steht. Wenn etwa ein Kind nachts immer wieder von der Vorstellung eines furchterregenden Monsters unter seinem Bett heimgesucht wird, so steht dieses Monster symbolisch fĂŒr eine Reihe angsterregender VorgĂ€nge, die entweder aus dem Inneren seiner Psyche aufsteigen und/oder mit Ă€uĂeren Erlebnissen verknĂŒpft sind. Das Unbewusste bedient sich auch kollektiver Symbole, die der kulturellen Phylogenese entstammen. Eine vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der kollektiven Symbolik legte dann Jung vor (
Kap. 7.5 sowie den Band Symbole und Archetypen in dieser Reihe).
Diese Bearbeitungen unbewusster Inhalte dienen vor allem dazu, dem Drang des Triebes in einer Weise Geltung zu verschaffen, die im System Vorbewusstes und Bewusstes akzeptabel erscheinen. Die psychische AktivitÀt lÀsst sich also beschreiben als eine Dynamik, ein Wechselspiel der KrÀfte zwischen den Systemen des topischen Modells.
TriebwĂŒnsche unterliegen, sofern ihre Befriedigung nicht möglich ist, der VerdrĂ€ngung bzw. den o. g. Umarbeitungen; oder sie fĂŒhren zu einer Kompromissbildung zwischen dem unabweisbaren Trieb mit seiner Energie und den vorbewussten Strebungen, sie aus dem Bw fernzuhalten bzw. in einer kulturell und individuell gerade noch akzeptierten Form zuzulassen. Solche Kompromissbildungen können in einem Traum bestehen, in ...
Table of contents
Deckblatt
Titelseite
Impressum
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Teil I Geschichte der psychodynamischen Therapien mit Kindern und Jugendlichen
Teil II Theoretische Grundlagen und therapeutische Implikationen