Psychisch krank in Deutschland
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Psychisch krank in Deutschland

PlĂ€doyer fĂŒr ein zeitgemĂ€ĂŸes Versorgungssystem

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Psychisch krank in Deutschland

PlĂ€doyer fĂŒr ein zeitgemĂ€ĂŸes Versorgungssystem

About this book

Das vorliegende Buch befasst sich mit den vielschichtigen Problemen im Versorgungssystem fĂŒr psychisch kranke Menschen. Ihnen und ihren Angehörigen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, das ist das Ziel der Psychiatrie-EnquĂȘte von 1975 und der seit 2009 in Deutschland gĂŒltigen UN-Behindertenrechtskonvention. Doch geriet das Ziel in Konflikt mit dem fragmentierten Versorgungssystem in Deutschland, das zunehmend von Gewinnstreben und SparzwĂ€ngen bestimmt wird. Was ist aus den Reformen seit 1975 geworden? Was bringen die aktuellen Reformen? Erfahrungsberichte von Therapeuten und von Personen mit eigener Erfahrung als Nutzer der Psychiatrie veranschaulichen die Analyse.Mit einem Geleitwort von Peter Masuch, PrĂ€sident des Bundessozialgerichts.

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Information

1 Psychiatrie-EnquĂȘte 1975 – Von der Anstalts- zur Gemeindepsychiatrie

Wer heute die Modernisierung der Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und BeeintrÀchtigungen betreibt, tut gut daran zu verstehen, wie die Vergangenheit zur Gegenwart wurde. Es geht darum, einerseits die humanitÀren Errungenschaften zu erhalten und andererseits mit dem Nachdruck durch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) die QualitÀt der Versorgung weiter zu entwickeln und alte Fehler nicht zu wiederholen.
FĂŒr die Anstaltsversorgung im 19. Jahrhundert bis zur Psychiatrie-EnquĂȘte (1975) war konzeptionell von zentraler Bedeutung die Unterscheidung zwischen »heilbaren« und »unheilbaren« Patienten. Weil die »Unheilbaren« Jahrzehnte blieben, viele bis zum Lebensende und ihrem BegrĂ€bnis auf dem Anstaltsfriedhof, wurden die Anstalten immer grĂ¶ĂŸer.
Die Psychiatrie-EnquĂȘte leitete den Perspektivwechsel ein. Die schwer psychisch Kranken werden nicht mehr in die wohnortferne Anstalt ausgegliedert, sondern die Psychiatrie kommt zu den Menschen da, wo sie leben. FĂŒr ein ĂŒberschaubares »Standardversorgungsgebiet« wurden all die Dienste und Einrichtungen konzipiert, die fĂŒr die Menschen notwendig sind, um ohne ferne Anstalt in ihrem Standardversorgungsgebiet ausreichend versorgt zu werden und dort weiter leben zu können. Das bedeutete eine humanitĂ€re Wende der Gesellschaft gegenĂŒber ihren psychisch kranken BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern. Aber die Konzepte gerieten unter die Finanzierung des seit 100 Jahren entwickelten Systems der sozialen Sicherung. Dieses stellt einerseits einen großen Fortschritt dar, aber die Fragmentierung des Systems auf vielen Ebenen erzeugt Fehlanreize, die den Absichten der Psychiatriereform entgegenwirken. Dieser strukturelle Konflikt beschĂ€ftigt uns seit der EnquĂȘte und besonders wieder in der Legislaturperiode des Bundestages seit der Wahl im Herbst 2013.

1.1 Die historische Bedeutung

Die Psychiatrie-EnquĂȘte war ein Jahrhundertwerk, das die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in Deutschland grundlegend neu ausrichtete und vier Grundprinzipien der Reform formulierte, die auch nach ĂŒber 30 Jahren weiter GĂŒltigkeit haben (EnquĂȘte 1975a, S. 203f., S. 408):
‱ Gemeindenahe Versorgung
‱ Bedarfsgerechte und umfassende Versorgung aller psychisch Kranken und Behinderten
‱ Bedarfsgerechte Koordination aller Versorgungsdienste
‱ Gleichstellung von psychisch und somatisch Kranken
Die Psychiatriereform war mehr als eine Umgestaltung des Versorgungssystems, sie bedeutete eine »tief greifende Wende zur HumanitĂ€t gegenĂŒber psychisch Kranken« (HĂ€fner 2001, S. 72).
Denn die EnquĂȘte-Kommission und die Bundespolitik brachen mit einem Tabu, indem sie erstmals die InhumanitĂ€t der Anstaltspsychiatrie, die »elenden, zum Teil als menschenunwĂŒrdig zu bezeichnenden UmstĂ€nde« und den Mangel an wohnortnahen therapeutischen Alternativen in der politischen Öffentlichkeit anklagten: Jahre-/Lebenslanger Anstaltsaufenthalt ohne Perspektive fĂŒr viele Patienten, Überalterung der Bausubstanz der Anstalten, katastrophale ÜberfĂŒllung, Unterbringung in SchlafsĂ€len, unzumutbare sanitĂ€re VerhĂ€ltnisse, erniedrigende Prozeduren, keine PrivatsphĂ€re und persönlichen Rechte, schlechte medizinisch-psychiatrische Behandlung.
Das stand ausfĂŒhrlich auch schon im EnquĂȘte-Zwischenbericht (1973), den die Bundesregierung dem Bundestag zuleitete.
Mit den Massenmorden an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, die im Nationalsozialismus staatlich legitimiert wurden als »Euthanasie«, hatte der Wert von Menschen mit schweren BeeintrĂ€chtigungen den absoluten Tiefpunkt erreicht (Dörner et al. 1980; George et al. 2006; Schmauder et al. 2007; v. Cranach und Schneider 2010). Armbruster und Freyberger (2014) beschreiben am Beispiel der Region Strahlsund und Pommern – benachbart zu Danzig und Polen, wo der Zweite Weltkrieg begann – den Krieg nach innen gegen die psychisch Kranken als Vorbereitung fĂŒr den Genozid an den europĂ€ischen Juden im Krieg nach außen. Nach der Beendigung des Mordens wurden ansonsten die VerhĂ€ltnisse kaum besser. Das Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland ging an den Insassen der Anstalten vorbei.
Die InhumanitĂ€t war nicht auf die Anstaltspsychiatrie begrenzt, wie der Bericht des Mannheimer Psychiatrieprofessors Heinz HĂ€fner zeigt. Der Zeitzeuge blickte im Jahr 2000 beim Kongress der Aktion Psychisch Kranke zum 25-jĂ€hrigen JubilĂ€um der Psychiatrie-EnquĂȘte als einer ihrer maßgeblichen Gestalter zurĂŒck:
»1949 war ich als Doktorand in die Psychiatrische Klinik der UniversitĂ€t MĂŒnchen eingetreten. Als ich zum ersten Mal die unruhige MĂ€nnerstation betrat, der ich zugeteilt war, konnte ich meine ErschĂŒtterung kaum verbergen. MĂ€nner jeglichen Alters lagen oder saßen mangels ausreichender Sitzgelegenheiten auf ihren Betten. Einige schrien laut, rĂŒttelten an der TĂŒr oder bedrĂ€ngten den mich begleitenden Stationsarzt mit EntlassungswĂŒnschen. Schon die Aufnahmeprozedur war erniedrigend: Nach Abnahme von Kleidern, Geldbörse und Brille wurden die Kranken ins Bad gesteckt, von Pflegern gewaschen und danach in blau gestreifter Anstaltskleidung in den Bettensaal gebracht. Die Stimmung auf der Station schwankte zwischen Resignation und Aggression. Zeitweilig konnten die Pfleger den Saal nur mit vorgehaltener Matratze betreten. [
]
Wer aus der Generation unserer Tage die freie AtmosphĂ€re einer Tagesklinik, den offenen, mitunter persönlich engagierten Behandlungsstil eines Psychiatrischen Krankenhauses erlebt oder gar an der ungeschminkten Diskussion mit selbstsicheren Angehörigen oder Psychiatrieerfahrenen teilgenommen hat, wird kaum verstehen, wie es zu dem ganzen Ausmaß der VernachlĂ€ssigung von BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern einer Kulturnation kommen konnte, nur weil diese Menschen psychisch erkrankt waren« (HĂ€fner 2001, S. 72f.).

1.2 Das BĂŒndnis zwischen Fachwelt und Politik

Der Deutsche Verein fĂŒr öffentliche und private FĂŒrsorge hatte 1959 den »Aktionsausschuss zur Verbesserung der Hilfen fĂŒr psychisch Kranke« gebildet, mit Prof. Walter Ritter von Baeyer, Heidelberg, als Vertreter der Psychiatrie. Von Baeyer bildete einen Arbeitskreis jĂŒngerer Psychiater, die schon in den frĂŒhen 1960er Jahren Vorstellungen zur Psychiatriereform entwickelten, angeregt durch die Vorbilder im Ausland. Zu den Namen dieses Kreises gehörten C. Kulenkampff, H. HĂ€fner und K.-P. Kisker (HĂ€fner 2001). Die entscheidende PrĂ€misse dieses Aktionskreises war die Distanzierung von der Therapiestrategie der Isolierung:
»Die Empfehlung, SatellitenkrankenhĂ€user bzw. entsprechende Abteilungen einzurichten, entspricht dem international anerkannten BemĂŒhen, große Teile der klinischen Psychiatrie aus GrĂŒnden ungleich besserer Rehabilitationschancen in die Bevölkerungszentren selbst zu platzieren [
] im Idealfalle sollte der Satellit auf dem GelĂ€nde des StĂ€dtischen Allgemeinen Krankenhauses stehen« (Kunze 2007b, S. 124;
Images
Kap. 1.5 Griesinger: »Stadtasyl«).
UnterstĂŒtzt durch Medienberichte ĂŒber skandalöse VerhĂ€ltnisse und den Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit der Vergangenheit durch den »68er Zeitgeist« (Kersting 2001) erreichten eine kleine Gruppe von Psychiatern und Politikern gemeinsam das BĂŒndnis zwischen Fachwelt und Politik: Prof. Caspar Kulenkampff (UniversitĂ€t Frankfurt) mit einigen gleich gesinnten Psychiatern (zu denen auch Heinz HĂ€fner und Karl-Peter Kisker gehörten) und der CDU-Bundestagsabgeordnete Walter Picard (Offenbach, informiert und beraten durch seinen Neffen Manfred Bauer, Assistenzarzt in der Anstaltspsychiatrie) mit einigen gleich gesinnten MdBs anderer Fraktionen. Nach SachverstĂ€ndigen-Anhörungen beschloss der Bundestag am 23. Juni 1971 den Auftrag, »eine EnquĂȘte3 ĂŒber die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland erstellen zu lassen« (EnquĂȘte-Zwischenbericht 1973, S. 2). Eine SachverstĂ€ndigenkommission unter der Leitung von Kulenkampff wurde berufen und die Aktion Psychisch Kranke e. V. wurde gegrĂŒndet mit Picard als Vorsitzendem und Kulenkampff als Stellvertretendem Vorsitzenden, »um mit politischen Mitteln auf eine grundlegende Reform der Versorgung psychisch Kranker in der Bundesrepublik hinzuwirken« (http://www.apk-ev.de, Zugriff am 21.04.2015). Das von Kulenkampff und Picard erreichte BĂŒndnis von Fachwelt und Politik wurde damit institutionalisiert, finanziell gefördert durch das Bundesgesundheitsministerium. Seit damals bis heute arbeiten im Vorstand der APK die von den Bundestagsfraktionen benannten MdBs und die von den APK-Mitgliedern gewĂ€hlten Fachleute vertrauensvoll zusammen – im Sinne des GrĂŒndungszwecks (Kulenkampff 2001; APK und Weiß 2012). Die Idee zur Aktion Psychisch Kranke hatte Wurzeln im Aktionsausschuss des Deutschen Vereins und weiter zurĂŒck in der »Action for Mental Health« in den USA.

1.3 Die VerspÀtung der Psychiatriereform in Deutschland

In anderen LĂ€ndern begann die Psychiatriereform schon um 1960. Die Psychiatrie in Deutschland hatte durch Emigration, Vertreibung und Ermordung eine ganze Generation der besten Köpfe verloren. Sie hatte sich von der internationalen »scientific community« isoliert, und diese Isolierung sowie der »brain drain« wurden erst im Lauf von Jahrzehnten allmĂ€hlich ĂŒberwunden. Die im Gewand der Wissenschaft verkleidete Ideologie der Nazi-Zeit, dass psychische Erkrankungen ĂŒberwiegend genetisch determiniert seien, und die damit verbundene therapeutische Hoffnungslosigkeit und Entwertung von Menschen mit schweren psychischen BeeintrĂ€chtigungen in einem kriegsbereiten Staat prĂ€gten noch Jahrzehnte die Vorstellungen von Psychiatern, Verwaltungen und der Bevölkerung in Deutschland (Kunze 2013).
Deshalb fehlten auch die Kenntnisse und persönlichen Erfahrungen mit besseren Versorgungsformen aus LĂ€ndern, die mit der Psychiatriereform frĂŒher begonnen hatten: England, die USA, die Niederlande und Skandinavien. In den USA zum Beispiel hieß die Grundlage fĂŒr die Psychiatriereform »Action for Mental Health« (1961), erarbeitet von der »Joint Commission on Mental Illness and Health«, die 1961 ihren Abschlussbericht vorlegte. (Zu den Unterschieden in der etwa gleichzeitig begonnenen Psychiatriereform in England und den USA siehe K. Jones 1993; Pörksen 1974; Kunze 1977a; Kunze 1981a.)
Insbesondere fehlte die Erkenntnis, dass wesentliche Anteile der BeeintrĂ€chtigungen bei chronisch psychisch kranken Menschen nicht durch die Krankheit, sondern durch den jahrelangen Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt unter den frĂŒheren armseligen Bedingungen verursacht waren. Der Beitrag von Freudenberg (1962), einem in den 1930er Jahren nach England emigrierten deutschen Psychiater, zur Überwindung des »Anstaltssyndroms« blieb in Deutschland ohne Resonanz, mit Ausnahme des »Aktionsausschusses«.
Die LehrbĂŒcher der Psychiatrie in Deutschland sahen die Ursachen fĂŒr chronische VerlĂ€ufe in der Krankheit, sprachen z. B. vom »endogenen Prozess«. Im Unterschied dazu thematisierte die psychiatrische Forschung in den angelsĂ€chsischen LĂ€ndern die Interaktion zwischen der erkrankten Person und ihrem Kontext schon Jahrzehnte frĂŒher. Inspirierend waren die soziologischen Untersuchungen des Lebens von Anstaltsinsassen unter dem Regime einer »totalen Institution« (Goffman 1961, deutsch 1973). Wing und Brown (1970) untersuchten in ihrer Drei-Krankenhaus-Studie den Zusammenhang zwischen Unterschieden der BeeintrĂ€chtigungen der Patienten und Unterschieden der therapeutischen Milieus in...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Geleitwort
  6. Danke
  7. EinfĂŒhrung – Wozu dieses Buch?
  8. 1 Psychiatrie-EnquĂȘte 1975 – Von der Anstalts- zur Gemeindepsychiatrie
  9. 2 Fragmentierung der psychiatrischen Versorgung – und Lösungen?
  10. 3 Kranken(haus)behandlung
  11. 4 Gemeindepsychosomatik: »Ökumenische Praxis« mit der Gemeindepsychiatrie
  12. 5 Teilhabe: Rehabilitation und Eingliederung in Wohnen und Arbeiten
  13. 6 Pflege – fĂŒr Menschen mit Demenz und schweren Depressionen
  14. 7 Aus der Sicht der Kinder- und Jugendpsychiatrie: eine Reise durch die Sozialgesetzgebung
  15. 8 Erfahrungen eines Psychiatrie-Nutzers: Eine persönliche Zusammenfassung
  16. 9 Gefahr des Niedergangs – von den USA lernen
  17. Autorinnen und Autoren
  18. Literaturverzeichnis
  19. Stichwortverzeichnis