TEIL III HANDLUNGSKOMPETENZEN: HANDLUNGSZIELE UND METHODISCHE ANSĂTZE
Was Sie in diesem Abschnitt lernen können
Handlungs- und Methodenwissen gehören fĂŒr die unmittelbare Zusammenarbeit mit Adressat*innen zu den Kernkompetenzen von FachkrĂ€ften. Gemeint sind damit Grundfertigkeiten des methodischen Handelns. Diese mĂŒssen arbeitsfeldspezifisch sein und sich aus den Wissens- und Haltungskompetenzen ableiten lassen bzw. damit im engen Zusammenhang stehen.
Dieser Abschnitt beschÀftigt sich daher mit den folgenden Fragen:
1. Welche Handlungsziele und methodischen AnsĂ€tze lassen sich aus den in den Abschnitten I und II formulierten Erkenntnissen fĂŒr die Soziale Arbeit in der Migrationsgesellschaft ableiten?
2. Welche HandlungsansÀtze und Methoden haben sich in der sozialen und pÀdagogischen Arbeit in der Migrationsgesellschaft bewÀhrt?
3. Wie und wodurch kann den spezifischen Anforderungen entsprochen werden? Welche Beispiele gibt es hierfĂŒr?
Dazu werden neben AnsÀtzen aus Deutschland auch Projekte aus dem Ausland vorgestellt. Hierbei handelt es sich zum einen um den Beitrag von Mohammed Baobaid aus Kanada, der am Beispiel der Arbeit des Muslim Resource Centre for Social Support and Integration auf die Kooperation mit Migrantenselbstorganisationen in der Familienhilfe eingeht. Zum anderen geht es um sozialraumorientierte AnsÀtze der Gesundheitsförderung in der Stadt Groningen, die in dem Beitrag von Han Stoffer und Ben Boog vorgestellt werden.
Da eine BerĂŒcksichtigung aller relevanten Arbeitsbereiche der sozialen und pĂ€dagogischen Arbeit den Umfang dieses Bandes sprengen wĂŒrde, wird exemplarisch auf die Arbeit mit den folgenden Zielgruppen eingegangen:
âą Kinder und Jugendliche mit Migrationsgeschichte,
âą Familien mit Migrationsgeschichte,
⹠Àltere Menschen mit Migrationsgeschichte,
âą geflĂŒchtete Menschen.
Die Zielgruppe der geflĂŒchteten Menschen wird in diesem Abschnitt ausfĂŒhrlicher behandelt, da die Arbeit mit ihnen in der Praxis eine immer relevantere Rolle spielt und zugleich bei vielen Institutionen und FachkrĂ€ften ein hoher Bedarf an Wissens- und Handlungskompetenzen wahrnehmbar ist.
DIVERSITĂTSBEWUSSTE ARBEIT MIT KINDERN UND JUGENDLICHEN
1 Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung mit jungen Kindern
Petra Wagner
In der FrĂŒhpĂ€dagogik werden Bildungsprozesse als subjektive AneignungstĂ€tigkeiten verstanden, mit denen sich ein Kind von Geburt an ein Bild von der Welt macht (vgl. Berliner Bildungsprogramm 2014, S. 13). Diese Weltentdeckungen verweisen auf die individuellen EigenaktivitĂ€ten eines jeden Kindes wie auch auf ihre gesellschaftliche Einbettung. Je nach sozialem Kontext unterscheiden sich Erfahrungsmöglichkeiten der jungen Kinder und auch die Informationen, die sich ihnen zutragen und aus denen sie ihr Weltwissen konstruieren. Dabei gewinnen Kinder nicht nur ihr Bild davon, nach welchen GesetzmĂ€Ăigkeiten die Welt funktioniert, sondern auch ihr Bild von sich selbst und ihre Bilder von anderen Menschen. Die Verarbeitungen junger Kinder zeigen ihre Auseinandersetzung mit soziokultureller DiversitĂ€t und deren gesellschaftlicher Bewertung. In der Migrationsgesellschaft beziehen sich die Bewertungen auf das, was Eingewanderten zugeschrieben wird: phĂ€notypische Merkmale, Religion, Sprache(n), Familienkonstellation, Familienkultur. FĂŒr Kinder verbinden sich diese Zuschreibungen und Bewertungen mit anderen, entlang weiterer Differenzlinien wie Geschlecht, Behinderung, sozioökonomischem Status etc. gebildeten und beeinflussen ihre Bildungsprozesse.
1.1 Hintergrund und Begriffsbestimmungen
Soziokulturelle DiversitÀt und Dominanzkultur
Menschen unterscheiden sich also nicht nur individuell, sondern auch nach Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und kulturellen Wertesystemen. Ihre sozialen Bezugsgruppen sind diejenigen, deren kulturelle Wertesysteme sie teilen. Die soziokulturellen Unterschiede stehen nicht gleichberechtigt nebeneinander. Sie unterliegen Bewertungen, die gesellschaftliche Hierarchien stĂŒtzen.
In den Selbstbildern von Kindern und in ihren Vorstellungen ĂŒber andere Menschen zeigt sich, dass sie auf die gesellschaftliche RealitĂ€ten Bezug nehmen, deutlich in ĂuĂerungen bereits ab dem dritten Lebensjahr (siehe Beispiele):
âą âBehinderte sind wie Babys, die können nicht sprechen, nicht laufen.â
âą âFrauen können keine Bestimmer sein, MĂ€nner sind Bestimmer!â
âą âDu kommst nicht in die Vorschule, du kannst kein Deutsch!â
âą âJamaya ist braun, sie kann nicht Dornröschen sein!â
âą âZwei MĂ€nner können nicht heiraten, nur ein Mann und eine Frau.â
Kinder nehmen Bewertungen entlang bestimmter IdentitĂ€tsmerkmale vor und verweisen darauf beim Aushandeln von Spielinteressen und bei ihren PrĂ€ferenzen fĂŒr Spielpartner*innen. Differenzlinien, auf die sie Bezug nehmen, ĂŒberschneiden sich: Sie argumentieren als Junge oder MĂ€dchen, mit oder ohne Migrationshintergrund, nehmen Bezug auf Alter, Sprache, Behinderung, auch auf Religion, Familienkonstellationen, spĂ€ter im Grundschulalter auch verstĂ€rkt auf sozioökonomische Unterschiede der Familien und sexuelle Orientierung.
Das gesellschaftliche Wissen, das Kinder bereits in frĂŒhen Jahren zeigen, ist ein Wissen um die in ihrer Lebenswirklichkeit vorherrschende Dominanzkultur, in die sie sich selbst und andere einordnen. Dominanzkultur bedeutet, âdass unsere ganze Lebensweise, unsere Selbstinterpretationen sowie die Bilder, die wir von anderen entwerfen, in Kategorien der Ăber- und Unterordnung gefasst sindâ (Rommelspacher 1995, S. 22). Ăber- und Unterordnung, Höherbewertung und GeringschĂ€tzung, viel oder wenig Einfluss sind Informationen ĂŒber soziale Bezugsgruppen in der Gesellschaft, die Kinder in frĂŒhesten Jahren tangieren. Es sind Informationen, mit denen sie bereits in den Kindergarten kommen und die sie im Weiteren im Kindergarten und in anderen Erziehungs- und Bildungseinrichtungen aufnehmen.
Louise Derman-Sparks, die MitbegrĂŒnderin des Anti-Bias-Approach, eines Ansatzes gegen Diskriminierung fĂŒr Kinder ab zwei Jahren, spricht von âVor-Vorurteilenâ (pre-prejudices), die Kinder aus den bewertenden Botschaften ihrer Umgebung eigensinnig und kreativ entwickeln. Vor-Vorurteile sind deshalb relevant fĂŒr Bildungsprozesse, weil sie gesellschaftliche Diskriminierungsstrukturen festigen, die fĂŒr Kinder und ihre Familien mit Privilegien oder Benachteiligungen verbunden sind.
Vorurteile junger Kinder
Kinder lernen aktiv und beobachten aufmerksam, was sich um sie herum ereignet. Gerade Unterschiede zwischen Menschen machen sie neugierig, und sie haben frĂŒh ihre eigenen Theorien darĂŒber, wie solche Unterschiede entstehen. Sie verarbeiten dabei unmittelbare Vorurteile genauso wie subtile Mitteilungen. Sichtbares und Unsichtbares gibt ihnen Aufschluss darĂŒber, wie wichtig etwas oder jemand ist. Die Quellen sind vielfĂ€ltig: die Werbung, die Konsumwelt, BilderbĂŒcher, Filme, Aufdrucke auf T-Shirts und Caps, Nachrichten, Zeitschriften, Diskurse in ihrem Umfeld. Kinder konstruieren aus all diesen Quellen Vorurteile ĂŒber Gruppen von Menschen, noch bevor sie jemanden von ihnen kennengelernt haben: âMan lernt Vorurteile aus dem Kontakt mit den vorherrschenden Einstellungen in einer Gesellschaft, nicht aus dem Kontakt mit Einzelnenâ (Derman-Sparks 1998, S. 6).
In einer Meta-Analyse von internationalen Untersuchungen zur Vorurteilsentwicklung bei Kindern und Jugendlichen (im Hinblick auf Hautfarbe, Ethnie, NationalitĂ€t, sexuelle Orientierung, Behinderung, Geschlecht, Alter und Körperform) zeigt Raabe (2010), dass die Vorurteilsentwicklung in Bezug auf Hautfarbe und Ethnie nach dem sozialen Status der Kinder unterschieden werden muss. So nehmen z. B. bei weiĂen Kindern Vorurteile gegenĂŒber Schwarzen ab zwei Jahren zu, erreichen mit sieben Jahren einen Höhepunkt und gehen danach zurĂŒck, sofern es Kontakte zu Schwarzen Kindern gab. Schwarze Kinder zeigen ab zwei Jahren zunĂ€chst keine negativen Vorurteile, sondern sogar eine Bevorzugung der statushöheren Gruppe der WeiĂen und erst ab acht bis zehn Jahren negative Vorurteile (Raabe 2010, S. 147).
Ăhnliches zeigte sich auch in Bezug auf andere ethnische MajoritĂ€ts-/MinoritĂ€tsverhĂ€ltnisse, z. B. mit amerikanischen und australischen Ureinwohner*innen als statusniedrigeren Gruppen (ebd., S. 63). WĂ€hrend Kontakte mit Kindern der statusniedrigeren Gruppe bei Kindern der statushöheren Gruppe zu einer Verminderung von Vorurteilen fĂŒhrte, war dies umgekehrt bei Kindern der statusniedrigen Gruppe nicht der Fall. In einer LĂ€ngsschnittstudie zeigte sich sogar, dass mit den Kontaktmöglichkeiten zu WeiĂen die Vorurteile der schwarzen Kinder zunahmen (Raabe 2010, S. 155). Eine ErklĂ€rung ist, dass Kinder sozialer MinoritĂ€ten in von der MajoritĂ€t dominierten Gesellschaften aufwachsen und sich frĂŒh als Mitglieder der von der MajoritĂ€t dominierten Gesellschaft wahrnehmen. Eine andere ErklĂ€rung zieht die Beobachtung heran, dass sich junge Kinder noch nicht sicher einer Bezugsgruppe zuordnen können und in der PrĂ€ferenz fĂŒr die statushohe Gruppe zum Ausdruck bringen, dass sie Kenntnis ĂŒber die soziale Wertigkeit der dominanten Gruppe haben, der sie angehören wollen (ebd., S. 64).
Vorurteile
âVorurteile sind negative Orientierungen gegenĂŒber Individuen oder Gruppen von Individuen, aufgrund deren Gruppenzugehörigkeit. Sie zeigen sich in der Zuschreibung negativer Eigenschaften, in negativen Empfindungen und in ablehnenden Verhaltensweisen.â (Ebd., S. 17)
Vorurteile der Kinder sind Schlussfolgerungen aus sozialen Ungleichheiten und Informationen darĂŒber, welchen Gruppen von Menschen welcher Platz im gesellschaftlichen GefĂŒge zugedacht ist. Die Auswirkungen dieser Bewertungen unterscheiden sich danach, welcher sozialen Gruppe ein Kind angehört. Ob BestĂ€tigung als Kind der statushöheren MajoritĂ€t oder Abwertung als Kind der statusniedrigeren MinoritĂ€t â die Botschaften spielen eine wichtige Rolle bei der IdentitĂ€tsentwicklung von Kindern und beeinflussen ihre Möglichkeiten, lernend auf die Welt zuzugehen.
Vorurteile als soziale Konstruktionen
Bewertende Botschaften in den Vorurteilen ĂŒber Gruppen von Menschen sind kein Abbild tatsĂ€chlicher Differenzen, sondern gesellschaftlich âgemachtâ. NatĂŒrlich gibt es Unterschiede zwischen Menschen, in Bezug auf Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, soziale Klasse, körperliche FĂ€higkeiten, Behinderungen, sexuelle Orientierung usw. Entscheidend ist die VerknĂŒpfung der Unterschiede mit Verallgemeinerungen und Unterstellungen, mit denen gleichzeitig die gesellschaftliche Ungleichheit und damit die Benachteiligung bestimmter Gruppen âerklĂ€rtâ werden. Dabei sind nicht die Unterschiede zwischen Menschen die Ursachen der Ungleichheit, es ist umgekehrt: Die Bezugnahme auf Unterschiede fungiert als effektive und machtvolle Rechtfertigung fĂŒr den ungleichen Zugang von Menschen und Gruppen zu gesellschaftlichen Ressourcen und Positionen. Sie wird gestĂŒtzt von diskriminierenden Ideologien wie Sexismus, Rassismus, Antisemitismus, Adultismus, HeteronormativitĂ€t usw., die jeweils die Höherwertigkeit der einen vor der anderen Gruppe behaupten.
Vorurteile und Bildungsbenachteiligung
Kinder wachsen in einem spezifischen soziokulturellen Kontext auf, der zunĂ€chst geprĂ€gt ist von ihrer Familienkultur. Was das Kind hier erfĂ€hrt, bildet fĂŒr seine ersten Lebensjahre den Horizont seines Denkens, FĂŒhlens und Handelns. Es ist das, was ihm selbstverstĂ€ndlich und ânormalâ erscheint. Auch in der existenziellen Angewiesenheit auf seine Familie liegt seine Identifikation mit ihr als erste soziale Bezugsgruppe begrĂŒndet. Ein junges Kind kann nicht anders, als seiner Familie zugehörig und verbunden zu sein.
Familienkultur
Familienkultur wird verstanden als das jeweils einzigartige Mosaik von Gewohnheiten, Deutungsmustern, Traditionen und Perspektiven einer Familie, in das auch ihre Erfahrungen mit Herkunft, Sprache(n), Behinderungen, Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung, sozialer Klasse, mit Ortswechsel, mit Diskriminierung oder Privilegierung eingehen.
BestĂ€tigt die institutionelle Kultur einer Kita die gesellschaftlich dominanten Wertsetzungen, so trĂ€gt sie dazu bei, dass Kinder frĂŒh Vor- oder Nachteile aus ihren sozialen IdentitĂ€ten ziehen. Kinder, deren Familienkulturen viel Ăbereinstimmung mit der institutionellen Kultur aufzeigen, können in der Regel einfach auf die Bildungsgelegenheiten zugreifen, die ihnen die Kita bietet, wohingegen sich Kindern Barrieren auftun können, die nichts Vertrautes vorfinden und zusĂ€tzlich verunsichert oder entmutigt sind, weil ihre Familienkultur nicht vorkommt oder abgewertet wird.
Studien belegen, dass in Deutschland der Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen in hohem MaĂe von ihrer sozialen Herkunft abhĂ€ngig ist: Kinder aus armen und eingewanderten Familien sind besonders benachteiligt und erleben alltĂ€gliche und strukturelle Diskriminierung (siehe Bertelsmann Stiftung 2013). Aus der âVielfaltâ der LebensverhĂ€ltnisse werden fĂŒr einen Teil der Kinder Bildungs-Hindern...