Teil I Sprache
Einführung zum Buchteil: Sprache in der psychodynamischen Therapie
Grundlegend für die Wirkung der Psychoanalyse ist die Bedeutung der Sprache und des Sprechens, die befreiende Wirkung des Wortes.
Doch was genau verstehen wir unter Sprache und welche Dimensionen nimmt das Sprechen an? Manche Jugendliche kommen in die Praxis und sagen: »Ich weiß gar nicht, ob mir das hier helfen kann, wenn da nur geredet wird.« Wir wissen jedoch durch die psychoanalytischen Theorien und Erfahrungen, dass Sprache tiefe Wirkungen erzielen kann. Aber warum ist das so?
Da es zu diesem Thema weitreichende Theorien unterschiedlicher Wissenschaften gibt, können in dem vorliegenden Band nicht alle Diskurse nachgezeichnet werden. Zum vertieften Verständnis finden sich jeweils am Ende des Kapitels Literaturhinweise. Um die psychoanalytischen Theorien zu ergänzen, werden wir einen Blick in die Sprachwissenschaften, die Semiotik, die Linguistik und die Sprachphilosophie werfen. Die ersten vier Kapitel dieses Teils des Buches widmen sich eher theoretischen Betrachtungen zu dem, was die Sprache auszeichnet und wie Menschen mit der Sprache verbunden sind.
Hinsichtlich der theoretischen Konzepte wird neben anderen Strömungen auf die französische Psychoanalyse Bezug genommen, da sie wesentliche Impulse zum Verhältnis von Linguistik und Psychoanalyse gegeben hat und die Sprache sowie das Sprechen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellt.
Das Verhältnis von Sprache und Symbol kann auf vielfältigen Ebenen betrachtet werden, z. B. wie die Sprache als symbolisches System funktioniert, warum es für den Menschen so wesentlich ist, über Symbole zu verfügen, und welche Bedeutungen das Symbol in der Psychoanalyse hat (
Kap. 2).
In den folgenden Kapiteln wird der Frage nachgegangen: Welche besonderen Facetten und Nuancen der Sprache und des Sprechens zeigen sich in der psychodynamischen Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen? Hier wird der Praxis ein größeres Gewicht beigemessen.
Für die Praxis hat das Sprechen, und damit auch die Stimme, eine zentrale Funktion, was die körperlich-leibliche Dimension
1 impliziert. Dies wird in sehr verschiedenen theoretischen Modellen aufgenommen, die u. a. von der Phänomenologie und den Cognitive Sciences beeinflusst sind (
Kap.3).
Die große Leistung eines kleinen Kindes ist es nun, innerhalb einer Welt der Sprache zu seinem eigenen Sprechen zu finden als Ausdruck seines Wunsches, sich mit einem anderen zu verständigen.
2 Wie man sich diese spannende Entwicklung im Austausch von Kind und Umwelt vorstellen kann, wird im Kapitel Spracherwerb an Hand einiger unterschiedlicher Theorien skizziert (
Kap. 4).
Mit der Einführung des symbolischen Verständnisses des Spiels durch Melanie Klein entzündete sich ein Streit innerhalb der Psychoanalyse, wie weit andere Mittel des Verstehens als dem der verbalen Sprache akzeptiert werden. Von Seiten der psychoanalytischen Gesellschaften wurde das Sprechen allein als maßgeblich betrachtet, während in der Analyse besonders jüngerer Kinder das Spielen und das Szenische Verstehen als symbolisches Geschehen in den Mittelpunkt der psychoanalytischen Betrachtungen gerückt wurde (
Kap. 5).
Françoise Dolto (1992), eine in Frankreich und zunehmend auch in Deutschland sehr bekannte Psychoanalytikerin, schreibt, das menschliche Wesen sei vor allen Dingen ein Wesen der Sprache, wobei sie Sprache unter einem erweiterten Begriff versteht. Denn auch eine Situation, ein Bild, ein Symptom können z. B. als Mitteilung, als Zeichen für etwas anderes, verstanden werden. In dem vorliegenden Buch wird »Sprache« zunächst verwendet im Sinne von verbaler Sprache. Die verschiedenen Facetten von Sprache, die einen erweiterten Sprachbegriff zugrunde legen, werden eigens benannt, z. B. als Körpersprache. Das schließt nicht aus, wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, dass verbale Sprache und Körpersprache in einem engen Verhältnis zueinander stehen.
Verbale Sprache verlangt einen relativ hohen Grad an Abstraktion, der im Laufe der kindlichen und jugendlichen Entwicklung erworben wird. Von daher ist ein altersentsprechendes Verständnis nötig. Gleichzeitig wurzelt sie in den frühesten Interaktionserfahrungen, so dass sie immer auch Spuren des körperlich-seelischen Erlebens dieser Zeit in sich trägt, wie die folgenden Kapitel zeigen werden.
Dass jeder einzelne Mensch über persönliche, familiäre, regionale Nuancen des Sprechens verfügt, immer wieder neue Verknüpfungen herstellt, entspricht unserer Alltagserfahrung. Doch auch die Sprache als gesellschaftlicher Code unterliegt Wandlungen. Ludwig Wittgenstein hat hierfür das Bild einer Stadt entworfen:
»Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern« (Wittgenstein, PU § 18).
Darauf wird man sich besonders in der Analyse mit Jugendlichen einstellen, denn jede Generation »baut weiter an der Stadt« und erschafft sich die ihr eigene Sprachwelt, die Ausdruck einer Lebensform ist.
1 Ebenen und Funktionen der Sprache: Einige Grundbegriffe zum Verständnis
Mit dem »linguistic turn«, der Wende zur Sprache im 20. Jahrhundert, wurden Sprache, ihre Bedeutung und ihre Funktion, ihr Verhältnis zur Welt und Wirklichkeit in den Fokus geistes- und sozialwissenschaftlicher Betrachtungen gestellt. Diese Diskussionen haben sich ebenfalls als fruchtbar für die Psychoanalyse erwiesen. Deshalb sollen hier Gedanken aus der Sprachphilosophie und der Linguistik als Grundlagen für das Verständnis der weiteren Ausführungen dieses Buchteils dargestellt werden.
Emil Angehrn hat aus Sicht der Sprachphilosophie Funktionen der Sprache für den Menschen formuliert. Mit Blick auf die Bedeutung in der psychodynamischen Therapie sollen die folgenden Aspekte hervorgehoben werden (vgl. Angehrn, 2012):
• Sprache dient der Kommunikation, der Verständigung zwischen den Menschen,
• Sprache dient dazu, sich selbst zu verstehen, indem das Denken eng an Sprache geknüpft ist und unser Fühlen sonst keine Begriffe fände, was wiederum die Voraussetzung ist, andere zu verstehen. Die Sprache und das Sprechen bilden gewissermaßen eine Brücke zwischen kognitiven, psychischen und körperlichen Prozessen.
• Sprache bedeutet, den Zugang zur Welt zu finden, denn wir erkennen im Wesentlichen Dinge, für die wir Wörter finden.
Nach Ferdinand de Saussure (1857–1913), einem Schweizer Sprachwissenschaftler, der als Begründer der modernen Linguistik gilt, werden hinsichtlich der Sprache drei Kategorien unterschieden (vgl. Nöth, 2000, S. 76):
• Langage ist die menschliche Sprache an sich. Diese Fähigkeit bezieht sich auf alle menschlichen Fähigkeiten zur Kommunikation.
• Langue bezieht sich auf eine Sprache im Sinne einer bestimmten Einzelsprache wie Französisch oder Deutsch, als ein abstraktes System von Regeln, dazu gehören auch Laut- und Gebärdensprache.
• Parole ist der konkrete Akt des Sprachbenutzers, der spezielle Sprachgebrauch, dazu gehört das Sprechen, die Rede.
Der Begriff »Langue« entspricht in etwa dem der »natürlichen Sprache«, die in den Sprachwissenschaften von künstlichen, z. B. Computersprachen oder formalen Sprachen abgegrenzt wird.
Darüber hinaus gibt es auch im allgemeinen Sprachverständnis erweiterte Bedeutungen des Begriffs »Sprache«, z. B. die Körpersprache, die Sprache der Bilder, z. B. im Traum (
Buchteil Traum), die Sprache der Musik, die jenseits der verbalen Sprache liegen, jedoch mit ihr verknüpft sein können. Sie werden meist als prae- oder para- oder nonverbale Formen der Symbol- bzw. Zeichenbildung betrachtet. Insofern sie die Art und Weise, wie gesprochen wird, z. B. die Intonation des gesprochenen Worts betreffen, handelt es sich um prosodische Elemente.
Zusammenfassung
Dass Wörter nicht nur leere Hüllen sind, sondern dass wir mit unserem Denken und Fühlen sowie der Orientierung in der Welt in einem innigen Verhältnis zur Sprache stehen, wurde im 20. Jahrhunderts mit dem »linguistic turn« zu einem zentralen Thema in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Es werden einige basale Definitionen aus der Sprachphilosophie und der Linguistik vorgestellt
Literatur zur vertiefenden Lektüre
Angehrn, E. & Küchenhoff, J. (Hrsg.). (2012). Macht und Ohnmacht der Sprache. Philosophische und psychoanalytische Perspektiven (1. Aufl.). Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Nöth, W. (2000). Handbuch der Semiotik (2., vollst. neu bearb. und erw. Auflage). Stuttgart: Metzler.
Wittgenstein, L. 2011. Philosophische Untersuchungen (Bibliothek Suhrkamp, Bd. 3010, 1. Aufl. der Jubiläumsausg). Berlin: Suhrkamp.
Weiterführende Fragen
• Welche Bedeutung haben Linguistik und Sprachphilosophie für die Psychoanalyse?
• Welche Formen von »Sprache« gibt es?
2 Sprache, Zeichen und Symbol
Wenn man aber sagt: »Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen«, so sage ich: »Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.« (Wittgenstein, PU § 504)
2.1 Wofür benötigen wir Symbole und Zeichen? – Verschiedene Perspektiven
Wenn es um Sprache geht, dann befassen wir uns mit einem symbolischen System. Doch was heißt das? Lassen wir dazu erst Helen Keller, eine taube und blinde amerikanische Schriftstellerin sprechen:
Sie beschreibt ihre Erfahrung, die Erkenntnis, dass es Wörter als Symbole gibt, äußerst anrührend. Mit 19 Monaten verlor sie ihr Hör- und Sehvermögen in der Folge einer Hirnhautentzündung. Danach hörte sie auf, lautsprachliche Äußerungen zu tätigen. Sie geriet in Wut darüber, dass die Umwelt ihre Laute nicht verstand. Als sie sechs Jahre alt war, kam ihre Lehrerin, Anne Sullivan, zu ihr. Eines Tages nahm diese sie mit zum Brunnen.
»Noch während der kühle Strom über eine meiner Hände sprudelte, buchstabierte sie mir in die andere das Wort »water«, […] Mit einem Mal durchzuckte mich eine nebelhafte Erinnerung, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens – und das Geheimnis der Sprache lag plötzlich offen vor mir. Ich wusste jetzt, dass »water« jenes wundervolle, kühle Etwas bedeutete, dass über meine Hand strömte. Dieses lebendige Wort erweckte meine Seele zum Leben […] Jedes Ding hatte eine Bezeichnung und jede Bezeichnung erzeugte einen neuen Gedanken […]« (Keller zit. in Busch, 2008, S. 143ff.).
Sie hatte begriffen (im doppelten Sinn des Worts), dass »water« nicht nur die konkrete Flüssigkeit im Becher, sondern ein verallgemeinerbares, regelhaft angewandtes Wort/Symbol war, mit welchem sich die Welt der Gedanken entfaltete. Es spendete ihr »…Licht, Hoffnung, Freude, befreite sie von ihren Fesseln« (Keller zit. In Busch, 2008, S. 144).
Das, was wir von den Gegebenheiten dieser Welt erkennen, ist nicht einfach die Realität. Wir benötigen Symbole bzw. Repräsentanzen, um uns eine Vorstellu...