Körperbehindertenpädagogik
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Körperbehindertenpädagogik

Didaktik und Unterricht

  1. 284 pages
  2. English
  3. ePUB (mobile friendly)
  4. Available on iOS & Android
eBook - ePub
Available until 5 Dec |Learn more

Körperbehindertenpädagogik

Didaktik und Unterricht

About this book

Die Gestaltung möglichst inklusiver Lebens- und Lernbedingungen steht momentan im Vordergrund der Diskussionen in der Körperbehindertenpädagogik. Ebenso werden innerhalb der didaktischen Theorieentwicklung seit einigen Jahren vor allem die Gemeinsamkeiten der didaktischen Konzepte betont. Spezifische Beeinträchtigungen körper- und mehrfachbehinderter Schüler können dabei in den Hintergrund geraten. Themen wie Diagnostik, notwendige Unterstützungsleistungen aufgrund spezifischer Beeinträchtigungen, die Bedeutung von Therapie, Pflege oder struktureller Bedingungen werden kaum als relevante didaktische Aspekte aufgegriffen. Das Buch verknüpft sowohl die allgemeinen als auch die spezifischen Facetten einer Didaktik innerhalb der Körperbehindertenpädagogik miteinander. Orientiert an der gegenwärtigen Situation körper- und mehrfachbehinderter Schüler in spezialisierten und integrativen Schulen behandelt der Autor didaktische und unterrichtliche Fragen und Handlungsfelder umfassend. Dabei orientiert er sich an der Realisierung bestmöglicher individueller Bildungs- und Entwicklungschancen aller Schüler unabhängig vom Lernort.

Frequently asked questions

Yes, you can cancel anytime from the Subscription tab in your account settings on the Perlego website. Your subscription will stay active until the end of your current billing period. Learn how to cancel your subscription.
No, books cannot be downloaded as external files, such as PDFs, for use outside of Perlego. However, you can download books within the Perlego app for offline reading on mobile or tablet. Learn more here.
Perlego offers two plans: Essential and Complete
  • Essential is ideal for learners and professionals who enjoy exploring a wide range of subjects. Access the Essential Library with 800,000+ trusted titles and best-sellers across business, personal growth, and the humanities. Includes unlimited reading time and Standard Read Aloud voice.
  • Complete: Perfect for advanced learners and researchers needing full, unrestricted access. Unlock 1.4M+ books across hundreds of subjects, including academic and specialized titles. The Complete Plan also includes advanced features like Premium Read Aloud and Research Assistant.
Both plans are available with monthly, semester, or annual billing cycles.
We are an online textbook subscription service, where you can get access to an entire online library for less than the price of a single book per month. With over 1 million books across 1000+ topics, we’ve got you covered! Learn more here.
Look out for the read-aloud symbol on your next book to see if you can listen to it. The read-aloud tool reads text aloud for you, highlighting the text as it is being read. You can pause it, speed it up and slow it down. Learn more here.
Yes! You can use the Perlego app on both iOS or Android devices to read anytime, anywhere — even offline. Perfect for commutes or when you’re on the go.
Please note we cannot support devices running on iOS 13 and Android 7 or earlier. Learn more about using the app.
Yes, you can access Körperbehindertenpädagogik by Reinhard Lelgemann in PDF and/or ePUB format, as well as other popular books in Education & Inclusive Education. We have over one million books available in our catalogue for you to explore.

Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2010
Print ISBN
9783170212121
eBook ISBN
9783170278271
Edition
1
img

1 Didaktik, Ethik und Gesellschaft

►►Die Reflexion didaktischer oder auch unterrichtlicher Konzepte, Prinzipien und Methoden findet immer in einem gesellschaftlich-historischen Rahmen statt und spiegelt spezifische Philosophien oder Normvorstellungen wider. Die gegenwärtige gesellschaftliche Grundstruktur legt nahe, dass Selbstbestimmung und persönliche Freiheit vor allem bedeuten, individuelle Verantwortung für eine möglichst hohe Qualifizierung und Einsetzbarkeit der eigenen Person zu übernehmen. In diesem Kontext besteht die Gefahr, dass z.B. Arbeitslosigkeit, aber auch chronische Erkrankung und weitere Lebenssituationen, in denen Menschen auf die Unterstützung durch Mitmenschen angewiesen sind, vor allem als individuelle Probleme oder sogar eigenes Verschulden begriffen werden.
Ethische Reflexionen über Fragen, wie z.B. eine „gute Gesellschaft“ gestaltet werden kann, welche Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung diese ihren Bürgern eröffnet und wie unterschiedliche Menschen ihre Potentiale entfalten, können zu einer Sensibilisierung und Schärfung des Bewusstseins für die eigenen didaktischen Grundvorstellungen führen.
Eine Didaktik der Körperbehindertenpädagogik kann nur daran interessiert sein, möglichst allen Menschen vielfältige Handlungs- und Partizipationsmöglichkeiten zu eröffnen. Selbstbestimmung als Zielperspektive bedeutet in diesem Zusammenhang nicht Hinführung zur Vereinzelung, sondern Eröffnung möglichst selbstbestimmter Perspektiven in sozialen Bezügen. Dies können für Schüler mit einer spezifischen Körperbehinderung die Ermöglichung anspruchsvoller lehrplanorientierter Lernanforderungen, für Schüler mit sehr hohem Unterstützungsbedarf Angebote zu basalen Erfahrungen sein. Innerhalb der Didaktik werden alle Bedingungen kritisch reflektiert und konkret angesprochen sowie eine Perspektive entwickelt, die eine eigenaktive Teilnahme aller Schüler an Bildungsprozessen ermöglicht und absichert.◄◄
Didaktische Reflexionen beinhalten häufig vor allem Fragen zur Unterrichtsmethodik und den Zielen des Unterrichts. Immer aber schwingen grundsätzliche Fragen der ethischen Grundhaltung der in diesem Rahmen tätigen Personen mit, bestehen mehr oder weniger ausformulierte individuelle oder gesellschaftliche Ansprüche. Zudem werden beide Aspekte durch zeithistorische Entwicklungen geprägt, die nicht immer bewusst waren und sind, dem Leser aber gegenwärtig die Möglichkeit eröffnen, sein eigenes Verständnis kritisch zu reflektieren. Die Didaktik der Körperbehindertenpädagogik ist in jeder Hinsicht von ethischen Grundhaltungen und gesellschaftlich-historischen Entwicklungen geprägt, wie in den folgenden Kapiteln dargestellt wird. Bevor aber die Entwicklung der didaktischen Diskussion innerhalb der Körperbehindertenpädagogik, mögliche Lern- und Entwicklungserschwernisse von Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung, didaktisch-methodische Aspekte des Unterrichts und weitere Handlungsfelder der Didaktik dargestellt werden, soll der aktuell gegebene ethische Diskurs reflektiert und wesentliche pädagogisch-didaktische Grundannahmen formuliert werden.
Die gegenwärtige Gesellschaft ist u.a. geprägt durch die leitenden Normen der Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und der individuellen Freiheit. Sicherlich könnten noch viele weitere Normen genannt werden. Wer aber die Nachrichten verfolgt, wird feststellen, dass wirtschaftliche Globalisierung vor allem bedeutet, dort zu produzieren, wo es am günstigsten erscheint oder wo die Ressourcen, gleich ob materielle Rohstoffe, körperliche oder intellektuelle Fähigkeiten zum günstigsten Preis eingekauft werden können. Staatliche Einrichtungen eröffnen die Möglichkeit, sich Bildungsgüter zu verschaffen. Wer diese Angebote nutzen kann und nutzt, hat die Chance, sich in diesen Prozess einzubringen und von einer möglichst guten Bezahlung und hohen Berufszufriedenheit zu profitieren. Bildung wird in allen Staaten inzwischen eher funktionell von ihrem Ergebnis her definiert, als Fähigkeit, sich individuell, vor allem aber optimal in Produktionsprozesse einbringen zu können. Gebildete Menschen in diesem Sinne sind selbstverantwortlich und stellen eine volkswirtschaftliche Ressource dar, auf die Firmen zurückgreifen können, ohne selber in „Ausbildung“ investieren zu müssen. Kennzeichnend für dieses Verständnis ist z. B. der gegenwärtig vielfach verwendete Begriff „Humankapital“, mit dem junge, bzw. allgemeiner, Menschen gemeint sind. Für die Wirksamkeit eines solchen Verständnisses im bildungspolitischen Bereich sprechen die Zunahme von Vergleichsarbeiten, die in der Regel zur Selektion der darin gescheiterten Schüler genutzt werden und weniger der Entwicklung eines schulischen Unterstützungssystems für Schüler mit Lernproblemen dienen.
Staatliche Ausgaben, z. B. im Bildungsbereich, stellen eine Belastung der Bürger dar, die in diesem Verständnis minimiert werden muss, da sie individuelle Konsummöglichkeiten verringert. Allerdings verlaufen die hier nur skizzierten Entwicklungen nicht gradlinig, sondern gestalten sich oftmals widersprüchlich. Individuelle Freiheit gilt sicherlich nicht nur im mitteleuropäischen Kulturkreis als positiv. Sie kann aber in einem gesellschaftlichen Rahmen, der vor allem Nützlichkeit und Verwertbarkeit belohnt, zu Situationen führen, in denen Menschen allein die Perspektive einer Übernahme von Verantwortung für andere, z. B. ein eigenes Kind oder ein Kind mit einer kleineren Beeinträchtigung, wie einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, ablehnen. Dies nicht etwa, weil sie etwas gegen Menschen mit Behinderung hätten, sondern weil es ihre individuellen Handlungs- bzw. Wahlmöglichkeiten, letztlich ihre Verfügbarkeit bzw. ihre Beteiligungsmöglichkeiten in Produktionsprozessen einschränken würde. Gegenwärtig erleben wir eine Situation, in der eugenische Gedanken der Selektion auch deshalb wieder populär werden, weil es im Sinne einer möglichst optimalen Lebensgestaltung kritisch erscheint, ein behindertes Kind zu bekommen, wenn man(n) oder frau es denn verhindern könnten. Die erwartete höhere Belastung der Frau oder des Paares reicht zur Legitimation einer Abtreibung bis kurz vor der Geburt. In diesem Rahmen ist es erklärbar, dass in vielen Ländern bereits wieder eine Mentalität zunimmt, in der Eltern sich unter Legitimationsdruck stehend erleben, wenn sie ein Kind mit einer Beeinträchtigung zu ihrer Familie zählen. Die von Singer bereits 1984 in seinem Buch „Praktische Ethik“ veröffentlichten Gedanken zum Lebensrecht von Personen gegenüber Menschen (gebunden an die Bedingungen: Bewusstheit des eigenen Seins, Vorstellungsvermögen für historische und zukünftige Entwicklungen, Schmerzempfinden oder die heute als SKIP-Argumente bezeichneten Faktoren, die eine Person ausmachen sollen, wie „Spezieszugehörigkeit, Wahrnehmung eines Lebenskontinuums, Identität und Potenzialität“) sind nicht deshalb ethisch gefährlich, weil sie ein einzelner Philosoph geäußert hat, sondern weil sie einer gesellschaftlichen Mentalität entsprechen, die z. B. Hilfebedürftigkeit, chronische Erkrankung und Angewiesensein auf Pflege und Unterstützung vor allem als Belastung und gegenläufig zum bestimmenden Grundgedanken des selbstständig und scheinbar autonom handelnden Menschen als Anbieter seiner Arbeitskraft und als Konsumenten begreift. Die unterschwellige und nur selten diskutierte Verbreitung dieses Denkens stellt das Lebensrecht von Menschen mit Beeinträchtigung zwar nicht grundsätzlich und offensichtlich in Frage, erzeugt aber eine Stimmung, in der chronische Erkrankung und Beeinträchtigung, vor allem Leid und Erschwernis nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch seiner Angehörigen oder der Eltern als tendenziell unnötig und vermeidbar begriffen werden.
Die Hilfe und Unterstützung für Menschen mit einer Beeinträchtigung ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht erst seit 1993 im Grundgesetz festgeschrieben. Es besteht ein differenziertes System sonderpädagogischer und weiterer Unterstützungsleistungen. Diese Angebote stellen sich gegenwärtig als immer noch vor allem spezialisierte Möglichkeiten oder Leistungen dar, die, anders als in vielen europäischen Ländern, nur wenigen Schülern ein inklusives Bildungsangebot eröffnen oder Unterstützungsleistungen in die Verantwortung des behinderten Menschen selber geben. Die gegenwärtigen Entwicklungen in diesen Bereichen sind vergleichsweise schwer einzuschätzen. Einerseits eröffnet z. B. das Persönliche Budget eine Abkehr von einer traditionell eher fremdbestimmten Fürsorgeleistung, gleichzeitig aber sollen Kosten der Unterstützung und Pflege, auch älterer Menschen mit und ohne Beeinträchtigung, dauerhaft gesenkt werden.
Unsere gegenwärtige Gesellschaft ist also durch zum Teil gegenläufige Tendenzen geprägt. Einerseits bekennt sie sich zur Unterstützung von Menschen, die in Not geraten sind, andererseits müssen die öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen, Pflege oder Bildung begrenzt und minimiert bzw. dem Individuum zugemutet werden, um die Lohnkosten zu senken und damit die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit zu erhalten. Dies wird letztlich zu einer Aufgabe der einzelnen Person, die sich fit, gebildet und konkurrenzfähig erhalten muss. MacIntyre (2001) warnt vor einer solch einseitigen Sichtweise, die nur den letztgenannten Aspekt sieht, und verweist auf die Gefahr einer letztlich inhumanen Gesellschaft, wenn diese nicht gleichzeitig eine Ethik der Achtsamkeit im Umgang mit der menschlichen Abhängigkeit entwickelt. Abhängigkeit als zutiefst jeden Menschen betreffende Erfahrung sieht er in allen Lebensphasen gegeben und nicht wegzurationalisieren: sowohl in der Kindheit und Jugend, in der Situation der zeitlich begrenzten Krankheit im Erwachsenenalter, in der Situation des alten Menschen oder in der des zeitlebens auf Unterstützung angewiesenen Menschen mit einer Beeinträchtigung oder einer chronischen Erkrankung. Da jeder Mensch in solchermaßen beschriebene Abhängigkeiten gerät, ja geraten muss, um überhaupt ein soziales Wesen werden zu können, sollte jede Gesellschaft dies in ihrer Gesetzgebung und in ihren Institutionen berücksichtigen. Institutionalisierte, abhängig machende Strukturen akzeptiert er dagegen nicht. Diese Ethik widerspricht nicht dem Streben der Menschen, ihre Fähigkeiten zu entfalten, in vielerlei Hinsicht nach Glück zu streben, sie warnt aber vor den inhumanen Konsequenzen gesellschaftlicher Strukturen, die die Achtung vor der anthropologisch gegebenen Abhängigkeit eines jeden Menschen verlieren und nicht mit bedenken.
Ausgehend von diesem ethischen Grundverständnis sollte jeder Mensch ein Leben führen können, das subjektiv als möglichst gut erlebt werden kann. Die Idee eines möglichst „normalen“ Lebens, wie es das in den 70er und 80er Jahren postulierte „Normalisierungsprinzip“ anstrebte, wird aktuell innerhalb der sonderpädagogischen Diskussion, vor allem wegen der mitschwingenden „Normierung“, weniger verfolgt. In der skandinavischen und der deutschen Diskussion wurde aber immer betont, dass sich das Normalisierungskonzept vor allem auf die Institutionen der Sonderpädagogik bezieht (Veränderung hin zu einer am Subjekt orientierten Struktur, also Wahlmöglichkeiten in möglichst vielen, letztlich allen Bereichen [vgl. Gröschke 2000]) und nicht auf die Normalisierung des Menschen mit einer Behinderung (z. B. durch operative Gesichtsveränderungen bei Menschen mit Down-Syndrom). Auf die Institutionen bezogen, auf Schulen oder Wohnheime für Körperbehinderte, hat das Normalisierungskonzept gegenwärtig noch seine Berechtigung, denn es ermöglicht die kritische Diskussion aktueller Konzepte, wenn akzeptiert wird, dass Normalität heute gerade in der Wahlfreiheit und der Möglichkeit zur Entwicklung individueller Lebensperspektiven besteht (vgl. Beck 1996).
Für die Diskussion der Frage, was ein gutes Leben sein könnte, ist die Einbeziehung der Gedanken von Nussbaum (1999, 190ff und 2006) hilfreich, die als Philosophin und Mutter einer Tochter mit Behinderung aus feministischer Sicht untersuchte, was ein gutes Leben ausmacht. Aus der Beschäftigung mit der Lebenssituation von Frauen in Südamerika, Afrika, Asien, Europa und Nordamerika entwickelte sie eine so genannte vage Theorie des „guten Lebens“. Diese Anforderungen müssen nicht von den einzelnen Mitgliedern einer Gesellschaft erbracht werden, sondern sollen bei der Beurteilung der Qualität der Lebensbedingungen helfen. Ein gutes Leben ist ihrer Vorstellung gemäß ein Leben, in dem Menschen die Möglichkeit haben
  • ein ganzes Leben lebenswert zu leben,
  • angemessene Ernährung und Unterkunft zu besitzen,
  • sexuelle Befriedigung zu erfahren,
  • sich frei bewegen zu können,
  • unnötigen Schmerz zu vermeiden und Freude zu erleben,
  • alle Sinne zu benutzen, Vorstellungen zu entwickeln, zu denken und sich ein Urteil zu bilden,
  • sich zu binden, zu lieben, zu sehnen, zu trauern und hierüber reflektieren zu können,
  • ein eigenes Bild vom Gutem zu entwickeln und eine eigene Lebensplanung vorzunehmen,
  • familiäre und soziale Beziehungen zu leben und Verbundenheit mit diesen, aber auch der Natur zu erfahren,
  • zu lachen und zu spielen,
  • ein eigenes Leben gestalten zu können, in einem frei gewählten Kontext und in einer selbst gewählten Umgebung, materielles Eigentum zu erwerben und sich an Prozessen politischer Partizipation zu beteiligen.
Diese aus feministischer Perspektive entwickelten Vorstellungen können sicherlich noch erweitert und konkretisiert werden, wie dies z. B. im UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen erfolgt ist. Vor allem aber sind die von Nussbaum entwickelten Vorstellungen übertragbar auf das Leben aller Menschen weltweit. Aus ihnen können juristische Konsequenzen gezogen werden, wie dies in immer noch allgemeiner Form die UN-Konvention vornimmt, es können aber auch grundsätzliche Aspekte abgeleitet werden, aus denen sich ein auf Achtung basierendes Zusammenleben aller Menschen ableiten lässt. Selbsthilfeverbände körperbehinderter Menschen verweisen insbesondere darauf und verlangen die Ablösung fürsorglicher Leitgedanken durch ein auf Achtung fundiertes Selbstverständnis. Sie verlangen eine Achtung, die sich in gleichberechtigten Strukturen und Interaktionen ausdrückt und Menschen mit Behinderung ein weitestgehend selbstständiges Leben ohne institutionelle Abhängigkeiten ermöglicht; ein Leben, welches nicht auf individuelle Fürsorge oder Mitleid angewiesen ist.
Gerade weil diese Forderungen berechtigt sind, müssen innerhalb einer Didaktik der Körperbehindertenpädagogik die Begriffe ‚Fürsorge‘ und ‚Mitleid‘ kritisch reflektiert werden. Fürsorge im Sinne einer advokatorischen Ethik, also einer Ethik der Stellvertretung für Menschen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht oder noch nicht vertreten können, ist historisch belastet (wie im historischen Kapitel noch auszuführen sein wird) und dennoch im pädagogischen Kontext nicht wegzudenken. Gleiches gilt für den Begriff des ‚Mitleids‘, der hier nicht vertieft diskutiert werden kann. Der Mensch als physiologische Frühgeburt, als Kind, benötigt Eltern oder erwachsene Mitglieder der Gesellschaft, die an seiner Statt Entscheidungen treffen, ihm aber gleichzeitig Wege eröffnen, zunehmend selbstständiger zu handeln. Dies gilt in allen pädagogischen Situationen, nicht nur innerhalb der Körperbehindertenpädagogik. Fürsorge ist, trotz einer auch belasteten Tradition, im gesellschaftlichen Rahmen eine wichtige Leitidee, die immer dann ihre Berechtigung hat, wenn Menschen nicht aus eigener Kraft und mit eigener Fähigkeit weit reichende Entscheidungen überblicken können (dies führt zur Betreuung, nicht zur Entmündigung) oder wenn diese in besonders hohem Maß Unterstützung und Begleitung benötigen, um ein so selbstständiges Leben wie möglich zu führen. Fürsorge auf staatlicher Ebene kann in der Bereitschaft bestehen, finanzielle Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die eigene Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten eröffnen, wie dies z.B. beim Persönlichen Budget der Fall ist. Im Sinne des Verständnisses von MacIntyre darf Fürsorge allerdings nicht mit der Perspektive von Beschränkung und struktureller Abhängigkeit verbunden sein, sondern stellt idealerweise eine Übergangssituation dar, die allerdings für manche Menschen ein Leben lang gegeben sein kann.
Fürsorge in diesem Sinne führt in didaktischer Perspektive zu einer Haltung, die auf die Ermöglichung von Teilhabe und Teilnehmenkönnen zielt. In diesem Sinne kann sie ein Bestandteil von Bildung sein, deren Ermöglichung ein Grundanliegen didaktischer Überlegungen innerhalb der Körperbehindertenpädagogik darstellt. Ohne den Ausführungen in Kapitel 4 vorzugreifen, soll hier festgehalten werden, dass im Bildungsverständnis immer ethische Grundhaltungen mitschwingen. Das Bildungsverständnis der Körperbehindertenpädagogik, im Humboldt’schen Sinne als Aneignung und Auseinandersetzung mit der Welt verstanden, welches angeregt, begleitet, aber in keinem Fall stellvertretend abgenommen oder geplant werden kann, unterscheidet sich in keiner Weise von dem Verständnis der allgemeinen Pädagogik und Didaktik. Es erweitert dieses aber um die Dimensionen der Körperlichkeit und sozialen Interaktion. Ein so umfassendes Verständnis des Bildungsbegriffs polarisiert nicht zwischen frühem körperlich-leiblichen und damit sozialem Dialog, zu dem jeder Mensch fähig ist, und späterem mentalen Auseinandersetzen mit und Durchdringen der Welt, sondern begreift, dass Zuwendung zur Welt zu Beginn des Lebens (bereits im Mutterleib) nur durch soziale und körperliche Interaktion, Zuwendung, Fürsorge und Anregung stattfinden kann und auf diesem gesicherten Fundament eine selbstständige, auch mentale Auseinandersetzung mit der Welt ermöglicht. Wenn grundlegende Sicherheiten nicht gegeben sind, fehlt die Kraft, sich eigenaktiv der Welt zuzuwenden, ihre Herausforderungen, Verlockungen und Gefahren aktiv...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Einleitung
  6. 1 Didaktik, Ethik und Gesellschaft
  7. 2 Geschichte und Gegenwart schulischer Bildungsangebote
  8. 3 Aktivitäts- und Partizipationsstörungen erkennen, Handlungsmöglichkeiten eröffnen Spezifische Dimensionen der Didaktik
  9. 4 Didaktische Theorien und Modelle
  10. 5 Unterricht und Erziehung
  11. 6 Therapie und Pflege als integrale Bestandteile des Unterrichts
  12. 8 Zur didaktischen Bedeutung struktureller Elemente für die Ermöglichung und Gestaltung des Unterrichts körper- und mehrfachbehinderter Schüler
  13. 9 Didaktik und Unterricht körper- und mehrfachbehinderter Schüler – Perspektiven
  14. Literatur