1 BegrĂŒndung der Sozialarbeitswissenschaft
Ausgehend von der Argumentation des schwedischen Sozialarbeitswissenschaftlers Soydan (1999) wird in diesem Kapitel Sozialarbeitswissenschaft als autonome Disziplin begrĂŒndet. Eine solche BegrĂŒndung ist durchaus nicht unumstritten und stöĂt insbesondere bei Vertreter/innen der (deutschen) SozialpĂ€dagogik auf erheblichen Widerstand (siehe Kap. 1.3.3). Sie wird allerdings plausibel, wenn man die Sozialarbeitswissenschaft â so wie dies Soydan tut â stĂ€rker empirisch-analytisch, d. h. auf die Beseitigung von sozialen Problemen hin, ausrichtet und weniger gesellschaftsphilosophisch, als kritische Instanz der Gesellschaft, positioniert.
Vor diesem Hintergrund werden zunĂ€chst wichtige Aussagen zum WissenschaftsverstĂ€ndnis, das hier im Anschluss an Luhmann (1990) konzipiert wird, formuliert (Kap. 1.1), dann wird das hier vorgelegte VerstĂ€ndnis der Sozialarbeitswissenschaft im Anschluss an Soydan (1999) im Sinne einer Meta- bzw. Supertheorie (vgl. Luhmann 1978, S. 10ff.) offen gelegt (Kap. 1.2). In einem weiteren Schritt wird dann gezeigt, dass Sozialarbeitswissenschaft als eine Wissenschaftsdisziplin zu konstruieren ist, die sich insbesondere gegenĂŒber der Soziologie, der Psychologie, der Politikwissenschaft und der SozialpĂ€dagogik sowohl abgrenzt als auch strukturell verbunden erweist (Kap. 1.3). SchlieĂlich werden unterschiedliche Modelle der InterdisziplinaritĂ€t vorgestellt und diskutiert (Kap. 1.4). Insgesamt entsteht so eine Positionsbestimmung der Sozialarbeitswissenschaft als wissenschaftlich eigenstĂ€ndiger Disziplin, die als Ausgangspunkt dieses Buches dient und die abschlieĂend noch einmal zusammengefasst wird (Kap. 1.5).
1.1 Sozialarbeit als Praxis und Wissenschaft
Die Frage, ob die Praxis der Sozialarbeit eine Wissenschaft braucht, wird letztendlich von niemand ernsthaft bestritten, wenn auch in Detailfragen unterschiedlich begrĂŒndet: Nach Luhmann wird Wissenschaft dort gebraucht, wo Reflexion organisiert, PlausibilitĂ€tsprobleme kommuniziert und hinreichend ĂŒberprĂŒftes Wissen generiert werden soll, denn âimmer wenn zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterschieden wird, um die Produktion neuen Wissens zu beobachten, handelt es sich um Wissenschaftâ (Luhmann 1992, S. 111; Luhmann 1990). FĂŒr die Soziale Arbeit bedeutet dies: In dem MaĂe, in dem die Praxis ihre eigenen Defizite erkennt, braucht sie Wissenschaft, einerseits, um Defizite im Rahmen von Forschungen oder Modellprojekten zu bearbeiten, andererseits aber auch, um zu begrĂŒnden, dass ein Teil der Misserfolge der Praxis auch bei Aufbietung aller Anstrengungen nicht ĂŒberwunden werden kann (siehe dazu Kap. 3).
So kommt es nicht von ungefĂ€hr, dass der Ruf nach einer solchen Wissenschaft vor allem im Bereich der Fachhochschulen aufgegriffen und formuliert worden ist. Hier â an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis â hat man offensichtlich zuallererst den Theorie- und Wissensbedarf wahrgenommen. Allerdings wurde in der seit den 1990er Jahren einsetzenden Diskussion um eine eigenstĂ€ndige Sozialarbeitswissenschaft oftmals ĂŒbersehen, dass der Prozess der Verwissenschaftlichung einer bestimmten Praxis insbesondere dreierlei Restriktionen unterliegt:
1. Wissenschaftliche Disziplinen spezifizieren sich nicht auf bestimmte PhĂ€nomene hin, sondern entstehen aus âtheoretisch erzwungenen Unterscheidungenâ, Gegenstandsfelder sind nicht im Vorhinein vorhanden, sondern bilden sich nach der MaĂgabe ihrer Theorien (Luhmann 1997, S. 452). Die Möglichkeit zur Disziplinbildung besteht nur innerhalb des Wissenschaftssystems selbst, was sich u. a. auch darin zeigt, dass etwa der Mensch âein Forschungsobjekt aller Disziplinen ist, also von keiner dieser Disziplinen als Einheit beobachtet werden kannâ (ebd., S. 448).
âDie Funktion der Wissenschaft beruht mithin auf einer möglichen Reorganisation des Möglichen, auf einer Kombinatorik neuen Stils â und nicht auf einer Abbildung des Vorhandenen, auf einer bloĂen Verdoppelung der GegenstĂ€nde in der Erkenntnis. Das, was die Wissenschaft als Einheit feststellt (zum Beispiel als Ding, als System, als Atom, als Prozess), verdankt seinen Charakter als Einheit dann der Wissenschaft; also dem Begriff, und nicht sich selber.â (Luhmann 1990, S. 328)
2. Das Wissenschaftssystem kann nicht von auĂen dazu gezwungen werden, eine bestimmte Praxis, wie z. B. Sozialarbeit, auf systematischem Weg zu reflektieren. Eine neue Disziplin Sozialarbeitswissenschaft muss sich folglich aus dem Wissenschaftssystem heraus entwickeln (lassen), von auĂen können nur Anregungen z. B. in Form von âIrritationenâ an das System âheranâ getragen, nicht aber âhineinâ getragen werden. Beim Vorgang der Disziplinbildung handelt es sich um eine âAusdifferenzierungsbewegung innerhalb des Systemsâ (Luhmann 1990, S. 447), die allein von diesem System selbst erzeugt werden kann. Dabei muss beachtet werden: âDie Grenzen einer Disziplin gelten nur fĂŒr die jeweilige Disziplin, nicht fĂŒr deren Umwelt.â (ebd.)
3. Was schlieĂlich in der Disziplin in welcher Weise erforscht, reflektiert und falsifiziert bzw. verifiziert wird, unterliegt den Bedingungen und Regeln des Wissenschaftssystems; somit besteht keine Möglichkeit mehr, diese Bedingungen und Regeln durch die Praxis zu steuern.
âAndere Funktionssysteme greifen in die Wissenschaft zwar ein, wenn sie in ErfĂŒllung ihrer eigenen Funktionen operieren und ihren eigenen Codes folgen. Aber sie können jedenfalls unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft nicht selbst festlegen, was wahr und was unwahr ist (es sei denn mit einer Usurpation dieser Terminologie fĂŒr eigene Zwecke und mit dem wahrscheinlichen Resultat einer Blamage). Jede auĂerwissenschaftliche Festlegung dessen, was nicht wahr oder nicht unwahr sein dĂŒrfe, macht sich, heute jedenfalls, lĂ€cherlich; und extern motivierte Wissenschaftskritik muĂ sich folglich als âEthikâ ausweisen.â (Luhmann 1990, S. 293)
Wissenschaftlich geprĂŒftes Wissen ist deshalb immer etwas anderes als âPraxiswissenâ, da es unter jeweils unterschiedlichen Bedingungen zustande kommt.
Die Frage, inwiefern Bereiche wie Sozialarbeit, Erziehung etc. aufgrund ihres âTechnologiedefizitsâ als Human- bzw. Handlungswissenschaften (siehe dazu Kap. 3.4) eine eigene Bezugsdisziplin bzw. ein eigenes theoretisches Reflexionssystem ĂŒberhaupt benötigen, wird von Luhmann aus folgendem Grund positiv beantwortet: seiner Ansicht nach kann nur durch Disziplinbildung die eigene Ausrichtung (Luhmann nennt dies das eigene âSymbolâ) im Rahmen theoretischer Reflexionen sowohl gepflegt als auch geschĂŒtzt werden.2
FĂŒr die Praxis der Sozialarbeit könnte daher die Koppelung mit Wissenschaft von Vorteil sein, auch wenn damit nicht unbedingt automatisch eine Verbesserung der praktischen Arbeit verbunden ist. Denn auf diese Weise hat sie die Möglichkeit, ihre Programme und Methoden aufgrund interner und externer Kommunikationsprozesse im Rahmen einer sozialarbeitswissenschaftlichen Diskussion stĂ€ndig zu beobachten, zu verĂ€ndern und anzupassen. Sie kann â z. B. im Rahmen von wissenschaftlich begleiteten Projekten â Neues wagen und jeweils neue, verĂ€nderte PlausibilitĂ€tsargumentationen nach innen und auĂen kommunizieren. Auf diese Weise entsteht dann zunehmend Wissen, das die Organisationen der Sozialarbeit verwenden können, sowohl um erfolgreicher zu sein als auch um die eigene LegitimitĂ€t zu sichern; und sei es nur dadurch, dass als sicher ausgegeben werden kann, dass in einer Sache auch mit anderen Mitteln nicht mehr erreicht werden kann.
Freilich muss die Praxis mit dem Begriff des wissenschaftlich geprĂŒften Wissens vorsichtig umgehen. Denn dieses Wissen bezieht sich zum einen nicht auf die gesamte, sondern nur auf eine stark reduzierte Wirklichkeit: PhĂ€nomene wie der Mensch, wie soziale Probleme, wie Hilfeleistungen etc. sind Forschungsobjekte vieler Disziplinen und können âalso von keiner dieser Disziplin als Einheit beobachtet werdenâ. (Luhmann 1990, S. 448) Zum anderen kann Wissenschaft, da sie eben nicht die Praxis selbst ist, die Wahrheitsfrage lediglich in einem âgeschĂŒtztenâ Raum diskutieren. Der Gewinn wissenschaftlichen Denkens und Handelns besteht offensichtlich vor allem darin, dass Wissenschaft etwas kann, was keinem anderen sozialen System zugetraut wird, nĂ€mlich nicht nur mit Wahrheit, sondern auch mit Unwahrheit umzugehen. LĂ€sst man Unwahrheit auf diese Weise zu, entsteht durch strukturelle Koppelung ein Erkenntnisgewinn, welcher dann von der Praxis genutzt werden kann, um eigene Ăberlegungen etc. anzuschlieĂen.3
1.2 Metatheorie der Sozialarbeitswissenschaft
Eine BegrĂŒndung, die versucht, die Disziplin Sozialarbeitswissenschaft aus der Autopoiesis des Wissenschaftssystems heraus zu begrĂŒnden, hat Soydan (1999) entwickelt. Er hat sich die Aufgabe gestellt â zunĂ€chst völlig unabhĂ€ngig von wissenschaftstheoretischen Schwerpunktsetzungen â dasjenige Reflexionspotential zu identifizieren, das von anderen Disziplinen nicht oder nicht ausreichend aufgegriffen wird und welches sinnvollerweise der Sozialarbeitswissenschaft zugeordnet werden kann.
âThe starting point here is that social work has its own set of ideas and concepts and that this set of ideas is specific for social work. By using the set of ideas specific to social work as a criterion, it is possible to delimit the subject in relation to other subjects.â (Soydan 1999, S. 4)
Im Rahmen seiner ideengeschichtlichen Analyse kommt Soydan zu dem Ergebnis, dass die Sozialarbeitswissenschaft zwar keinen völlig neuen Gegenstand konstruiert, jedoch eine spezifische neue Sichtweise bietet. Die Eigenart dieser neuen Perspektive kommt dadurch zustande, dass in den Sozialwissenschaften bereits vorhandene und darĂŒber hinausgehende neue Theorien miteinander verklammert werden. Nach Soydan besteht âthe core of social work in its striving to integrate theory, programmes of change, and agents of actionâ. (Soydan 1999, S. 7)
âIn spite of a lack of systematic studies of what the discipline has achieved, it can be claimed that there is a kind of attitude towards our social surroundings which may be presumed to constitute a sort of core of social work. It is a basic scientific undertaking to hold together three elements: to have a theory of society or of man as social being, to have a programme, a scheme for changing problematic situation, and to have a group of people committed to carrying this change through.â (ebd., S. 6)
Im Rahmen dieser neuen Sichtweise, die Soydan anhand der Darstellung verschiedener âKlassikerâ der Sozialarbeitswissenschaft deutlich macht, lassen sich seiner Ansicht nach insbesondere zwei mögliche Perspektiven innerhalb einer sozialarbeitswissenschaftlichen Denkweise bestimmen:
Eine erste Perspektive geht âvon der Theorie zur Praxisâ, welche Soydan anhand der Theorie von St. Simon darstellt, aus. Hier zeigt sich Sozialarbeitswissenschaft wesensverwandt, aber nicht identisch, mit anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen; insbesondere mit der Soziologie.
âThis sociological analysis thus forms the basis of social scientific understanding of the dynamics of society, including its driving forces, the interaction between its various components, problem-generating mechanisms, and so on.
As such sociological analysis exceeds its own limits and produces concepts and instruments for disciplines that gradually develop out of the process of specialisation in the social sciences. One of the disciplines that slowly develops is social work.
Putting social studies on a scientific basis [during the eighteenth century] constitutes both a foundation and a prerequisite for the development of social work as a practice and as a scientific discipline.â (Soydan 1999, S. 16)
Die zweite Perspektive verlĂ€uft âvon der Praxis zur Theorieâ und wird von Soydan anhand der Schriften und Werke von Jane Addams und Mary Richmond aufgezeigt. Beide werden von ihm als Praktikerinnen interpretiert, welche sich im Laufe ihrer beruflichen Entwicklung immer stĂ€rker von der Praxis ab- und theoretischen Fragen zuwenden; auf diese Weise sehen sie nicht nur die Soziologie, sondern auch die Psychologie in enger Verbindung mit der Sozialarbeitswissenschaft stehend.
Abb. 1: Die verschiedenen Felder der Ideengeschichte der Sozialarbeit (Soydan 1999, S. 132)
Folgt man dieser Argumentation, dann beendet die Sozialarbeitswissenschaft mit dieser Gegenstandsbeschreibung ihren âvor-paradigmatischenâ Zustand (Papenkort/Rath 1994, S. 26). Somit hat sie jetzt die Möglichkeit, das zu benennen, was sie ausmacht.
1. Die Einzigartigkeit der Sozialarbeitswissenschaft bezieht sich nicht speziell auf einen der drei Teilaspekte der Definition von Soydan, sondern besteht in deren spezifischer Verklammerung. Demnach befasst sie sich mit der Analyse und Reflexion von Gesellschaft und damit verbundener (psycho-)sozialer Probleme hinsichtlich ihrer Entstehung, Vermeidung, Behebung und ihrer professionellen Bearbeitung. Ihre Perspektive kommt folglich nicht völlig mit denen anderer Disziplinen, wie z. B. der Soziologie, der Psychologie, der PÀdagogik oder der Politikwissenschaft zur Deckung.
2. Sozialarbeitswissenschaftliches Denken und daraus abgeleitetes Handeln kann jetzt als Denken und Handeln definiert werden, das sich an einer neu geschaffenen, noch von keiner anderen Disziplin besetzten Perspektive orientiert. Gleichwohl bleibt es theoretisch und geht in konkretem praktischem Handeln nicht auf. Wer in diesem Sinne denkt und handelt, nutzt das auf den verschiedenen ErklÀrungs- und Handlungstheorien basierende Wissen in der Absicht, (psycho-)soziale Probleme auf professionellem Wege zu vermeiden oder zu beheben.
1.3 Die Sozialarbeitswissenschaft und ihre Bezugsdisziplinen
Aus dieser Platzierung der Sozialarbeitswissenschaft heraus ergibt sich auch das VerhĂ€ltnis zu den ihr nahestehenden Bezugsdisziplinen. Nach Soydan kommen dafĂŒr insbesondere die Soziologie und die Psychologie in Betracht; daneben können jedoch zumindest zwei weitere benannt werden, nĂ€mlich Politikwissenschaft und (Sozial-)PĂ€dagogik.
1.3.1 Sozialarbeitswissenschaft und Soziologie
Soydan geht davon aus, dass die Wurzel der sozialarbeitswissenschaftlichen Denkweise
â(...) is to be sought in the breakthrough of social analysis in the eighteenth century, and, abo...