Vielfalt und Differenz in der Sozialen Arbeit
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Vielfalt und Differenz in der Sozialen Arbeit

Perspektiven auf Inklusion

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Vielfalt und Differenz in der Sozialen Arbeit

Perspektiven auf Inklusion

About this book

Der Umgang mit Vielfalt und Differenz markiert in der Sozialen Arbeit eine zentrale Herausforderung. Das vorliegende Lehrbuch dient der Standortbestimmung und Weiterentwicklung der gegenwärtigen Diskussion in diesem Spannungsfeld. Nach einer grundlegenden Einführung in zentrale Fachbegriffe werden die Differenzkategorien Geschlecht, ethnische Herkunft, Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung in ihren historischen und sozialpolitischen Kontext eingebettet sowie eine intersektionale Betrachtung von Differenzlinien vorgestellt. Im Anschluss werden Arbeitsfelder, Ansätze und Konzepte der Sozialen Arbeit diskutiert, die diese Differenzkategorien und entsprechende Erfahrungshintergründe in den Mittelpunkt gestellt haben, um gesellschaftliche Teilhabechancen zu verbessern. Die Autorinnen und Autoren diskutieren Reichweite, Begrenzungen und Kritikpunkte dieser Ansätze. Ein Augenmerk liegt auf der Frage, ob das in der Diskussion stehende Paradigma der Inklusion anknüpfungsfähig sein könnte und inwieweit es bisherige Zielgruppenfixierungen zu irritieren vermag.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2014
Print ISBN
9783170222526
eBook ISBN
9783170268128

II VIELFALTSDIMENSIONEN UND DIFFERENZKATEGORIEN

Was Sie in diesem Kapitel lernen können
Das zweite Kapitel setzt sich mit Lebenslagen aus der Perspektive einzelner Vielfaltsdimensionen auseinander: Geschlecht, Migrationshintergrund, Behinderung, sexuelle Orientierung und Alter stehen im Fokus der einzelnen Beiträge. Es wird zunächst in die jeweiligen zentralen Begrifflichkeiten, welche die einzelnen Dimensionen charakterisieren, eingeführt. Die Beiträge liefern ferner grundlegende Überblicke über die historische Entwicklung der gesellschaftlichen Etablierung sowie bevölkerungsstatistische Eckdaten zu den einzelnen Dimensionen. Sie identifizieren und diskutieren darüber hinaus Reichweite, Begrenzungen und Kritikpunkte der ihnen zugrunde liegenden Terminologien und Begrifflichkeiten. Zugleich wird versucht, Ausblicke auf anstehende Erfordernisse zu eröffnen und zukünftige Entwicklungslinien innerhalb der Fachdiskurse zu den einzelnen Dimensionen zu identifizieren.
Lotte Rose widmet sich in ihrem Beitrag einführend der kritischen Reflexion des binären Geschlechtskonzeptes und damit verbundenen Essentialisierungen, um dann kontrastierend auf den Ansatz des „Doing Gender“ zu sprechen zu kommen.
Die Dimension der ethnischen Herkunft wird in Gestalt des sogenannten Migrationshintergrundes behandelt. Hierzu rekapituliert Thomas Kunz im zweiten Beitrag neben dem Konstruktionscharakter jener Kategorie das Zuwanderungsgeschehen sowie die soziale Lage von Menschen mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik Deutschland, um auf dieser Grundlage mögliche psychosoziale Folgen und Diskriminierungserfahrungen zu diskutieren.
Die Frage „Menschen mit Behinderung oder behinderte Menschen?“ steht im Mittelpunkt des Beitrages von Bettina Bretländer. Vorgestellt werden unterschiedliche Erklärungsmodelle von Behinderung, bevölkerungsstatistische Daten sowie der Widerspruch zwischen rechtlich gegebener Selbstbestimmungs- und Teilhabemöglichkeiten einerseits und den faktisch beobachtbaren strukturellen Diskriminierungen andererseits.
Ulrike Schmauch beschäftigt sich im vierten Beitrag mit der Frage, was mit sexueller Vielfalt gemeint ist. Hierzu skizziert die Autorin einleitend zunächst den gesellschaftlichen Umgang mit sexuellen Minderheiten in modernen Gesellschaften, um sich daran anschließend einführend mit dem theoretischen Konzept der sexuellen Orientierung auseinanderzusetzen.
Die Dimension Lebensalter steht im Mittelpunkt des fünften Beitrages. Ursula Kämmerer-Rütten nimmt sich des Themas Altersdiskriminierung an und konzentriert sich hierbei auf die Wahrnehmung und Benachteiligungen von Menschen im höheren Lebensalter. Zu Beginn liefert sie einen Überblick über Definitionen und Alterseinteilungen, um dann gesellschaftliche Einstellungen und Altersbilder als Grundlage und Ursache für Altersdiskriminierung kritisch zu diskutieren. Der letzte Beitrag beschäftigt sich schließlich mit dem Intersektionalitätsansatz, um eine dimensionsübergreifende Perspektive in die Diskussion einzuführen. Ausgehend von einer Kritik an der Überbetonung einzelner Vielfaltsdimensionen plädiert Michaela Köttig stattdessen dafür, sich vom empirischen Fall leiten zu lassen.

GESCHLECHT ALS SOZIALE UNTERSCHEIDUNGSKATEGORIE IN UNSERER LEBENSWELT

Lotte Rose

Einleitung
Frau oder Mann zu sein – das erscheint uns selbstverständlich und naturgegeben: Schließlich gibt es körperliche Merkmale, die das Geschlecht kennzeichnen. Unmittelbar nach der Geburt, mit Hilfe pränataler Technologien auch oft schon vorher, wird das Neugeborene aufgrund dieser Kennzeichen als Mädchen oder Junge identifiziert – mit Folgen für das weitere Leben. Schließlich ist die Geschlechtszugehörigkeit eine bedeutungsvolle soziale Ordnungskategorie in unserer Gesellschaft. Für Mädchen und Jungen, Frauen und Männer existieren geschlechtsspezifische Normalitätsvorstellungen, Verhaltensstandards und Inszenierungsskripte, mit denen sie sich im Laufe ihres Lebens unentwegt arrangieren. Dabei gibt es sehr wohl Spielräume und fortdauernde Veränderungen, aber kaum ein „Außerhalb“ jenseits der Geschlechtermatrix. Dennoch zeichnen sich hierzu auch gewisse Umbrüche ab – dazu später mehr. Der Beitrag zeichnet nach, wie sich die theoretischen Vorstellungen zur Kategorie Geschlecht historisch entwickelt haben und dass diese Veränderungen immer auch politische Entwicklungen sind: Sie eröffnen Veränderungen in der Praxis der Geschlechter, wie sie auch diese widerspiegeln.

1 Geschlecht – Natur oder Kultur?

So grundlegend die Geschlechterdifferenz für unsere Gesellschaftsordnung ist, so waren und sind Menschen damit beschäftigt zu klären, worauf sie eigentlich basiert. Dabei werden verschiedene Denkfiguren ins Spiel gebracht, die je nach historischer Epoche, politischer Konstellation oder Interessenslage unterschiedliches Gewicht haben.
Lange Zeit schien die Geschlechterordnung schlicht gottgegeben. Danach ist es ein höherer, metaphysischer Wille, der für beide Geschlechter unterschiedliche Positionen und Aufgaben vorsieht. Es ist dies eine Vorstellung, die auch heute noch eine Rolle spielt, zumindest in religiösen Kontexten – wenn z. B. Frauen bestimmte Ämter in der Kirche vorenthalten werden, religiöse Normen für Geschlechtersexualität oder Rollen formuliert werden oder auch Gott als männliches Wesen imaginiert wird. Einerseits verliert die Idee einer göttlichen Geschlechterordnung mit den Säkularisierungen einer modernen Gesellschaft an Kraft, andererseits sehen wir aber auch gegenteilige Strömungen – z. B. bei religiös-fundamentalistischen Eiferern der puritanischen Bewegungen der USA oder muslimischer Gruppen, die alle einen Geschlechterdualismus propagieren, wonach „Männer und Frauen von Natur aus unterschiedlich seien, weil sie füreinander geschaffen wurden“ (Riesebrodt 2001, o. S.).
Eine andere Diskursfigur ist die biologistisch-naturalistische. Hier ist die Idee, dass die Natur der Körper Ursache der gesellschaftlichen Geschlechterdifferenz ist. Weil die Körper – ihre Ausstattung, ihre Leistungs- und Reproduktionsfähigkeit, Hormone und Gehirntätigkeiten – verschieden sind, entwickeln sich Mädchen und Jungen zu unterschiedlichen Wesen mit unterschiedlichen Merkmalen, was dann wiederum zur Folge hat, dass sie auch gesellschaftlich unterschiedliche Aufgaben und Statuspositionen einnehmen. Die in unserem Alltag vorfindbare gesellschaftliche Geschlechterordnung resultiert demnach aus einer naturgegebenen Differenz. Es ist dies ein Bild, das alltagstheoretisch höchst plausibel ist. Wenn die körperlichen Geschlechterunterschiede so offensichtlich sind, muss Geschlecht einfach „etwas“ mit der Biologie zu tun haben, müssen auch geschlechtsspezifische Arbeits- und Funktionsteilungen damit zusammenhängen – so scheint es. So haben Ratgeberbücher wie „Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken“ (Pease 2000), die um die Natur der Geschlechter kreisen, hohe Verkaufserfolge. Gerade auch im Kontext von Elternschaft überdauern solche Vorstellungen, wenn die vorfindbaren engen Beziehungen zwischen Mutter und Kind vorzugsweise mit den körperlichen Vorgängen von Schwangerschaft, Entbindung und Stillen erklärt werden. Aber auch auf der wissenschaftlichen Ebene behalten naturalisierende Perspektiven Relevanz. Immer wieder werden Studien vorgelegt, in denen neurobiologische Grundlagen von geschlechtsspezifischen Verhaltensunterschieden nachgewiesen werden (vgl. u. a. Moir/Jessel 1990).
Die Frage, wie sehr die Geschlechter durch ihre Biologie determiniert sind, ist bis heute umstritten und Anlass zu Kontroversen in den Massenmedien (z. B. Pinkert 2008; Martenstein 2013). Neurobiologische Vertreter_innen stehen hierbei den „Kulturalist_innen“ relativ unversöhnlich gegenüber.
Letztere gehen davon aus, dass es erst die normierenden gesellschaftlichen Sozialisationsprozesse sind, die Kinder zu Männern und Frauen formen – eine Idee, die in dem feministischen Bestsellertitel „Wir werden nicht als Mädchen geboren – wir werden dazu gemacht“ (Scheu 1977) eingängig auf den Punkt gebracht wurde. Wie Kinder zu Mädchen und Jungen, Frauen und Männern „gemacht“ werden, dazu liegt reichhaltig Wissen vor. Viele Studien zur Geschlechtersozialisation wurden und werden durchgeführt. Vor allem Familie, Erziehung, Spiele, Schule, Sport, Arbeitswelt, Medien und Konsum- und Modeindustrie stehen als Sozialisationsinstanzen im Fokus, die Geschlechterordnungen prägen.
Trotz aller Kontroversen lässt sich behaupten, dass kulturalistische Sichtweisen zu Geschlecht auf dem Vormarsch sind und längst in alltagstheoretisches Populärwissen eingegangen sind. Zu behaupten, dass der Junge jungenhaft ist, weil er entsprechend erzogen wurde und entsprechende männliche Vorbilder erlebt, ist völlig selbstverständlich. Im Zuge der Etablierung solcher kulturalistischer Sichtweisen taucht in der deutschsprachigen Geschlechterforschung vermehrt der Begriff „Gender“ statt „Geschlecht“ auf (z. B. Degele 2008). Dies hat seine guten Gründe. Während die englische Sprache die begriffliche Unterscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht – nämlich „Sex“ – und dem sozial hergestellten Geschlecht – nämlich „Gender“ – kennt, fehlt diese Differenzierung in der deutschen Sprache. In der Folge wird „Gender“ im deutschsprachigen Diskurs quasi leihweise als Bezeichnung benutzt, um eine zentrale Grundlage der kulturalistischen Geschlechterdebatte zu markieren – nämlich die klare Absage an naturalisierende Bilder zu Geschlecht und die Etablierung der Idee von Geschlecht als sozialer Größe.
Dass dieser Streit um „Natur“ oder „Kultur des Geschlechts“ so heftig geführt wird, hat viel damit zu tun, dass jedes Diskursmuster letztlich insofern immer politisch ist, als es zwischen den Zeilen unausgesprochen normative Vorstellungen zur „Richtigkeit“ von Geschlechterordnungen mittransportiert. Während in den religiös oder biologistisch inspirierten Denkmodellen die bestehenden Geschlechterverhältnisse kaum kritisch hinterfragbar sind, weil sie determiniert und damit unabänderlich erscheinen, beinhalten kulturalistische Positionen deutliche Kritik an den Geschlechterverhältnissen und auch Veränderungsvisionen (Schößler 2008, 9). Wenn es die Kultur ist, die die Geschlechterordnung hervorbringt, kann diese auch umgestaltet werden, denn Kultur ist – anders als Göttlichkeit und Biologie – eine Frage menschlicher Absichten und Wünsche. Dies erklärt, warum kulturalistische Positionen mit der Neuen Frauenbewegung der 1970er Jahre Aufwind bekamen und die Geschlechterdebatte seitdem stark bestimmen.
Bei der Frage nach Ursachen der Geschlechterdifferenz werden also immer politische Kämpfe dazu ausgetragen, wie man sich das Leben für die Geschlechter wünscht, ob man mit konservativ-traditionellen Geschlechterverhältnissen zufrieden ist und diese bewahren will oder aber Veränderungen sucht.

2 Zweiseitigkeit der Genderkategorie

Gender als Effekt der Geschlechtersozialisation zu begreifen, birgt jedoch auch gewisse theoretische Tücken. Denn leicht werden dabei Schwächen der naturalisierenden Konzepte fortgesetzt. Zum ersten ist dies die Verfestigung einer schlichten binären Zweiseitigkeit der Geschlechterkategorie, zum zweiten erscheint Geschlecht wieder relativ determiniert. Schließlich besagt diese Theorie, dass Mädchen und Jungen, Frauen und Männer in ihrer Entwicklung nicht allein auf geschlechtsspezifische Sozialisationspfade mit spezifischen Rollenanweisungen fixiert sind, sondern dass es nur zwei gibt – entweder den weiblichen oder den männlichen.
„Qua Tradition haben Mädchen und Jungen vorbestimmte ‚Geschlechter-Skripts’ mit Leben zu füllen. […] Das vorherrschende geschlechtsrollentypische Bild steht nicht zur Disposition und wird imitiert und auch von den Erwachsenen rigide als Verhalten gefordert.“ (Zimmermann 2006, 176)
Geschlechtsspezifische Sozialisation wird demnach im Kern als ein Prozess der Einfügung in die Vorgaben der gesellschaftlichen Geschlechterordnung verstanden. Es ist nicht mehr die genetisch-körperliche Programmierung oder auch göttliche Ordnung, die Geschlechtlichkeit bestimmt, sondern die soziale Geschlechternormierung der Kultur, das „vorherrschende geschlechtsrollentypische Bild“, wie Zimmermann (2006, 176) oben konstatiert. Dies hat stark sozialdeterministische Züge. Geschlechterentwicklung wird zur einseitig von außen wirkenden Fremdsozialisation, bei der Momente der „Selbstsozialisation“ (Zinnecker 2000) außen vor bleiben – nämlich menschliche Eigensinnigkeiten, Widerstandspraxen und eigenständige Bedeutungsproduktionen in den bestehenden Verhältnissen. Individuen werden aber nicht nur als „leeres Blatt“ von der umgebenden Gesellschaft beschrieben, sondern sie eignen sich immer selbst aktiv ihre Welt an, gestalten und formen sie nach ihren Möglichkeiten und Interessen – und dabei setzen sie sich auch oft genug über geltende Geschlechterskripte hinweg, modifizieren sie oder kreieren neue.
Der Determinismus in den Befunden zur Geschlechtersozialisation wird daher auch seit geraumer Zeit kritisiert. Zum ersten gibt es bis heute ganz allgemein keinen Nachweis einer direkten kausalen Einwirkung von Umweltfaktoren auf das Individuum im Sinne einer eindimensionalen Prägung (Scherr 2008, 67). Zu...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort zur Reihe
  6. Zu diesem Buch
  7. I Zentrale Begriffe und rechtliche Grundlagen
  8. II Vielfaltsdimensionen und Differenzkategorien
  9. III Handlungsfelder und Konzepte der Sozialen Arbeit entlang ausgewählter Vielfaltsdimensionen
  10. IV Inklusionsorientierte Ansätze, Konzepte und Instrumente
  11. Stichwortverzeichnis
  12. Über die Autor_innen