Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen
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Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen

Grundlagen, Störungsbilder, Perspektiven

Jürgen Müller, Jürgen Müller

  1. 484 pages
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Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen

Grundlagen, Störungsbilder, Perspektiven

Jürgen Müller, Jürgen Müller

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Dieses Buch beleuchtet Wissensstand, Forschungsansätze, Ergebnisse sowie Perspektiven neurobiologischer Forschung zu forensisch-relevanten Störungen. Dabei wird sowohl auf allgemeine Rahmenbedingungen neurobiologischer Forschung bei forensisch-relevanten Fragestellungen, klinisch-relevante Störungsbilder mit besonderem forensischem Bezug - zu denen bspw. aggressives Verhalten, Persönlichkeitsstörungen, Sucht und Schizophrenie zählen - als auch auf Überlegungen zur künftigen Relevanz neurobiologischer Untersuchungen bei forensisch-psychiatrischen Fragestellungen eingegangen.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2009
ISBN
9783170273825
Edition
1

Teil IV – Ausgewählte Störungsbilder

24 Über die Bedeutung der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) für die Entwicklung von delinquentem Verhalten

Michael Rösler

Einleitung

Nach heutiger Auffassung handelt es sich bei der ADHS um eine chronische, in erheblichem Umfang durch genetische Faktoren beeinflusste Erkrankung mit Beginn in der Kindheit, die sich über das Jugendalter bei ca. 60 % der Fälle bis in das Erwachsenenleben fortsetzt (Biederman und Faraone 2005). Die transnationale Prävalenz für Erwachsene wird mit 3,7 % angegeben. Für die Bundesrepublik Deutschland wurden 3,1 % festgestellt (Fayyad et al. 2007). Männer sind deutlich häufiger als Frauen betroffen. Damit gehört die ADHS zu den besonders häufigen psychischen Erkrankungen.
Die zentrale psychopathologische Symptomatik besteht aus Aufmerksamkeitsstörungen, Impulsivität und Hyperaktivität. Diese Syndrome werden sowohl in der amerikanischen DSM-IV Klassifikation (Nr. 314) als auch in der ICD-10 (F90) aufgeführt. Gegenwärtig wird diskutiert, inwieweit auch Störungen der Affektregulation und zusätzliche kognitive Phänomene (z. B. Desorganisation) zum Kern der ADHS-Psychopathologie gehören (Wender 1995).
Die Bedeutung der ADHS für die forensische Psychiatrie ergibt sich zunächst aus dem Umstand, dass ADHS mit beträchtlichen sozialen Adaptationsproblemen vergesellschaftet sein kann und aus der Beobachtung, dass bei 20–25 % der von ADHS betroffenen Kinder im Erwachsenenalter eine antisoziale Persönlichkeitsstörung (ASP) diagnostiziert werden muss (Weiss et al. 1985; Mannuzza et al. 1993, 1998).

1 Funktionelle Beeinträchtigungen im Lebensalltag

Verlaufsuntersuchungen von Kindern mit ADHS ins Jugendlichen- und Erwachsenenalter sowie Fallkontrollstudien haben gezeigt, dass mit der ADHS eine Reihe von Einschränkungen einhergehen können, die sich schwerpunktartig in verschiedenen Lebensfeldern nachweisen lassen (Barkley et al. 2004, 2006). Eine Übersicht dazu gibt Tab. 24.1.
Erste funktionelle Probleme können dabei schon im Vorschul- und Schulalter deutlich werden. Kleinkinder, die an ADHS leiden, erfordern insbesondere als Folge der exzessiven motorischen Aktivität ein hohes Maß an Beaufsichtigung. Die Belastung für die Eltern ist enorm, auch weil die Kinder auf übliche Erziehungsmaßnahmen nicht adäquat reagieren.
Im Schulalter erleben viele ADHS-Patienten schulischen Misserfolg und Zurückweisung durch Gleichaltrige. Sie werden beim Spielen und anderen gemeinsamen Aktivitäten nicht gerne gelitten. Auch in späteren Lebensabschnitten haben Patienten weniger enge Freunde und belastete Partnerschaften (Barkley et al. 2006). Das Ausmaß an Belastung der Familien ist auch vom Status komorbider Leiden abhängig. Insbesondere wenn zusätzlich Störungen des Sozialverhaltens vorhanden sind, worauf unten noch speziell eingegangen wird, sind die familiären Strukturen erheblich belastet. Mütterliche Depressionen und vermehrter elterlicher Alkoholkonsum sind keine seltenen Folgen. Geschwister erleben sich häufig als Opfer von aggressiven Akten. Sie entwickeln ebenfalls depressive und ängstliche Verstimmungen (Harpin 2005).
Tab. 24.1: Typische soziale Funktionsprobleme bei Personen, die an ADHS leiden
Lebensbereich
Defizite, Einschränkungen
Schulische und berufliche Ausbildung
  • Mangel an qualitativ hochwertigen schulischen und beruflichen Abschlüssen
  • Disziplinäre Probleme bis hin zur Relegation
Arbeitsleben
  • Häufigere Arbeitsplatzwechsel
  • Probleme mit Kollegen und Vorgesetzten
Familie und Umfeld
  • Hohe Trennungs- und Scheidungsraten
  • Häufige Umzüge
  • Weitere ADHS-Betroffene in der Familie
  • Maternale Depressionen und parentale Alkoholprobleme
  • Belastungssymptome bei engen Angehörigen
  • Wenige enge Freunde
Sexualverhalten
  • Unerwünschte Schwangerschaften bei jungen Menschen
  • Hohe Zahl an sexuell transmittierten Krankheiten
Unfallhäufigkeit
  • Hohes Risiko für Unfallereignisse in allen Lebensbereichen
Inanspruchnahme des Gesundheitssystems
  • Vermehrte Behandlungskosten für Patienten
  • Vermehrte Therapiekosten bei Angehörigen
Verhalten im Straßenverkehr
  • Erhöhtes Unfallrisiko
  • Geschwindigkeitsüberschreitungen
  • hrerscheinverlust
Personen mit ADHS erreichen im Vergleich mit Kontrollpersonen gemessen am Begabungsniveau weniger qualitativ hochwertige Schul- und Berufsabschlüsse. Sie scheinen ihre Möglichkeiten nicht genügend auszuschöpfen. Sie werden häufiger vom Unterricht suspendiert oder vom Schulbesuch ausgeschlossen.
Erwachsene mit ADHS haben bezogen auf ein definiertes Zeitintervall deutlich mehr Beschäftigungsverhältnisse (Barkley und Murphy 1998; Barkley 2002). Konflikte am Arbeitsplatz mit Vorgesetzten und Kollegen sind an der Tagesordnung. Längere Zeiten von Beschäftigungslosigkeit sind nicht ungewöhnlich, bis eine Tätigkeit gefunden wird, mit deren Anforderungen der Patient zurechtkommt.
Der Beginn sexueller Aktivitäten liegt vergleichsweise früh. Die Partnerschaften sind relativ kurzlebig, die Zahl der Sexualpartner ist erhöht, ebenso unerwünschte Schwangerschaften bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Das Risiko sexuell übertragbarer Krankheiten steigt wegen fehlendem Schutz bei sexueller Betätigung um den Faktor 4 an (Barkley et al. 2006).
Patienten mit ADHS beurteilen ihre eheliche und die familiäre Situation generell ungünstiger als ihre nicht an ADHS leidenden Partner (Eakin et al. 2004). Familien von ADHS-Patienten ziehen häufiger um als gewöhnlich. Als gesichert gelten höhere Trennungs-, Scheidungs- sowie auch Wiederverheiratungsraten beim Vergleich mit Kontrollpersonen (Barkley et al. 2006). Der Umgang mit den eigenen Kindern lässt viele Probleme deutlich werden, die in der Literatur unter dem Begriff des „bad parenting“ diskutiert werden. Die nicht an ADHS leidenden Partner sind vielfach veranlasst, ihre Kinder vor den emotionalen Ausbrüchen der ADHS-Patienten schützen.
Untersucht man die Unfallhäufigkeit und Unfallschwere von ADHS Betroffenen am Arbeitsplatz, im häuslichen Bereich und in der Freizeit, stößt man auf ein deutlich erhöhtes allgemeines Unfallrisiko (Kaya et al. 2008). Das Risiko ist umso höher ausgeprägt, je schwerwiegender die gesundheitlichen Schäden durch den Unfall waren. Dies bedeutet, dass gerade bei schweren Unfallereignissen ADHS als Risikofaktor voll wirksam wird (Grützmacher 2001).
Besonders eklatant ist die durch mehrere Studien belegte erhöhte Gefährdung für vielfach selbst verschuldete Verkehrsunfälle mit ernsten Verletzungsfolgen und die generelle Neigung, gegen Regeln im Straßenverkehr zu verstoßen (Jerome et al. 2006). Geschwindigkeitsüberschreitungen und Führerscheinentzug gelten als charakteristische Probleme. Dabei ist die Auffassung vertreten worden, dass Patienten mit ADHS ihre Fähigkeiten im Straßenverkehr zu überschätzen scheinen (Knouse et al. 2005). Auch in einer deutschen Studie sind derartige Befunde dokumentiert worden (Beck et al. 1997).

2 Allgemeine Zusammenhänge zwischen ADHS und Kriminalität

Die Prävalenz für ADHS ist in Straftäterpopulationen deutlich erhöht. Nach einer Übersicht von Vermeiren (2003) bezüglich verschiedener Studien in westlichen Industrieländern schwankt die Prävalenz bei Jugendlichen und Heranwachsenden, die sich in Untersuchungs-, Strafhaft oder in anderen Formen des Freiheitsentzugs befinden zwischen 4 und 72 %. Die erheblichen Unterschiede der Prävalenzraten können mit unterschiedlichen Stichproben, methodischen Differenzen bei der Studiengestaltung und durch differierende rechtliche Konstellationen in Teilen erklärt werden. Eigene Studien in einer Jugendstrafanstalt fanden bei jungen Männern eine Prävalenz für ADHS von 45 % auf der Basis der DSM-IV-Diagnosen (Rösler et al. 2004).
Zu bedenken ist dabei, dass bei diesem Personenkreis meistens eine Kombination von ADHS mit Störungen des Sozialverhaltens vorliegt. Dieser Befund ergibt sich aus der speziellen Selektion der untersuchten inhaftierten Personen und den diagnostischen Kriterien für Störungen des Sozialverhaltens, die fast ausschließlich auf illegale Verhaltensstile abstellen (DSM-IV Nr. 312.8). Die Prävalenz für ADHS bei inhaftierten erwachsenen Frauen war in einer weiteren Untersuchung mit ca. 10 % ebenfalls erhöht, bei Frauen bis zum 25. Lebensjahr wurde mit ca. 18 % eine besonders hohe Prävalenz im Vergleich zu den Erwartungswerten in der Normalbevölkerung festgestellt (Rösler et al. 2008a).
Es mehren sich die Hinweise, dass die Prävalenz für ADHS bei Straftätern mit dem Alter merklich abnimmt. Bei inhaftierten Frauen konnten nach dem 45. Lebensjahr keine ADHS Fälle mehr diagnostiziert werden. Die aktuelle Befundlage berechtigt insofern zur Formulierung der Hypothese, dass ADHS ein forensischer Risikofaktor sein könnte, der sich in erster Linie in der 2. und 3. Lebensdekade auswirkt.
Vergleicht man Straftäter mit und ohne ADHS hinsichtlich ihres Lebensalters bei der ersten Verurteilung, stößt man sowohl bei Frauen wie Männern auf einen signifikant früheren Eintritt in die Delinquenz bei den Tätern mit ADHS (Rösler et al. 2004, 2008a). Ähnliche Ergebnisse sind bereits von Moffitt (1990, 2003) oder Ziegler et al. (2003) beschrieben worden.
In eigenen Studien (Ziegler et al. 2003; Rösler et al. 2004) hat sich zusätzlich gezeigt, dass Straftäter mit ADHS viel häufiger Rezidivtäter sind als solche ohne ADHS. Dieser Zusammenhang war zuvor schon in einer Studie mit Sexualstraftätern durch Blocher et al. (2001) publiziert worden. Die Autoren fanden für Personen mit ADHS eine Odds Ratio von 4,8 (95 % CI: 1.5-15.3) als Ausdruck eines weit erhöhten Rezidivrisikos.

3 Spezifische Befunde bei straffälligen Personen mit ADHS

Die Prävalenz für ADHS ist in den diversen Deliktsgruppen unterschiedlich verteilt. Keine signifikanten Unterschiede im Vergleich zu Kontrollen findet man bei Betrugsdelikten. Leicht erhöht ist die Prävalenz für ADHS bei Diebstahlsdelikten. Vergleichsweise hohe ADHS-Prävalenzen werden bei Sexualstraftätern (ca. 30 %) angetroffen. Allerdings gibt es bisher keine Anhaltspunkte dafür, dass innerhalb der drei großen Täterpopulationen Pädophile, Gewalttäter und Exhibitionisten wesentliche Häufigkeitsunterschiede vorhanden sein könnten (Ziegler et al. 2003; Blocher et al. 2001).
Die Prävalenz für ADHS ist bei Personen, die Gewaltstraftaten entsprechend den verschiedenen Kodifizierungen des Strafrechts verübt haben, generell leicht erhöht. Signifikante Unterschiede zwischen Tötungsdelikten, Körperverletzungen, Raub etc. findet man allerdings nicht. Löst man sich von der klassischen durch das Kriminalrecht vorgegebenen Einteilung und vergleicht entsprechend einer ursprünglich entwicklungspsychologischen Konzeption (Dodge und Coie 1987; Bennet et al. 2004) stattdessen proaktive Gewalttaten, die geplant, mit definiertem Ziel aus einer klaren Motivlage heraus verübt wurden, mit reaktiven Gewalttaten, die als Folge einer Provokation, eines Konfliktes oder aus affektiver Erregung hervorgegangen ...

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[author missing] (2009) Neurobiologie forensisch-relevanter Störungen. 1st edn. Kohlhammer. Available at: https://www.perlego.com/book/1075132/neurobiologie-forensischrelevanter-strungen-grundlagen-strungsbilder-perspektiven-pdf (Accessed: 14 October 2022).

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[author missing]. Neurobiologie Forensisch-Relevanter Störungen. 1st ed. Kohlhammer, 2009. Web. 14 Oct. 2022.