1 Einführung
1.1 Das Problem
Auch im 21. Jahrhundert sind Lesen und Rechtschreiben Schlüsselkompetenzen für die Teilhabe am kulturellen und beruflichen Leben. Sowohl in der Schule als auch später in der dualen Ausbildung oder in Studiengängen an Fachschulen, Fachhochschulen und Universitäten ist Lernen aus Texten ein wichtiger didaktischer Baustein, der »Lesenkönnen« voraussetzt. »Lesenkönnen« bedeutet hier, dass Lesen zügig und ohne große Anstrengung gelingt; allein die Fähigkeit, Wörter entziffern zu können, reicht nicht aus, um sich einen Text inhaltlich zu erschließen. Eine gute Lesekompetenz »verführt« zum Lesen auch in der Freizeit, schickt die Phantasie auf Reisen, gibt Einblicke in andere Lebenswelten und trägt so auch zur Persönlichkeitsentwicklung bei.
Die Rechtschreibung wurde zwar in der Zeit der »kommunikativen Wende« in der Deutschdidaktik (zu Recht) vom Thron gestoßen, letztlich muss sie aber bis zu einem relativ hohen Grad erworben werden, da dies immer noch der gesellschaftlichen Norm entspricht. Die orthographische Kompetenz ist nach wie vor von hoher Relevanz für Übergangsempfehlungen auf weiterführende Schulen: Kinder mit sehr niedrigen Rechtschreibleistungen erhalten zumeist nur eine Hauptschulempfehlung (Valtin, Badel, Löffler, Meyer-Schepers & Voss, 2003). Rechtschreibfehler in Bewerbungsschreiben reduzieren die Chancen eines Bewerbers in den meisten Berufsfeldern. In Doku-Soaps im Fernsehen sind »unauffällige« Hinweise auf Rechtschreibfehler in Briefen oder schriftlichen Nachrichten ein beliebtes Stilmittel, um Protagonisten zu stigmatisieren (z. B. Sendung Frauentausch bei RTL II vom 21.6.2013).
Dass es Kinder und Jugendliche gibt, die massive Probleme beim Lesen- und Schreibenlernen haben und die erwarteten Standards nicht erreichen, ist bekannt. Die Frage, wie hoch ihr Anteil an der Bevölkerung ist, lässt sich aus methodischen Gründen nicht leicht beantworten (
Kap. 2). Für das Lesen haben die großen Schulleistungsstudien zur Klärung beigetragen: In der IGLU-Studie von 2016 hatten fast 19% der Viertklässler Schwierigkeiten, sich einen Text zu erschließen (Bremerich-Vos, Wendt & Bos, 2017). In der PISA-Studie 2012 erreichten 14,5% der deutschen 15-Jährigen nicht die Kompetenzstufe II; sie konnten zwar relativ explizite und leicht erkennbare Informationen und Gedanken in einem Text auffinden (Kompetenzstufe Ib), hatten aber Schwierigkeiten, mehrere Informationen zueinander in Beziehung zu setzen, wenn diese primär
logisch oder linguistisch verknüpft waren (Hohn, Schiepe-Tiska, Sälzer & Artelt, 2013).
Im Bereich der Rechtschreibung sind analoge Kompetenzstufen nicht so einfach zu formulieren; es zeigte sich jedoch in IGLU 2001, dass die statistisch definierten untersten 5% der Viertklässler massive Rechtschreibprobleme hatten und weitere 10 bis 15% in ihrer Rechtschreibentwicklung deutlich negativ vom Durchschnitt abwichen (Valtin et al., 2003).
Unzureichende Lese- und/oder Rechtschreibkompetenzen behindern nicht nur schulisches und außerschulisches Lernen und die weitere Schullaufbahn, sondern können auch psychische Auswirkungen haben: Vor allem übermäßig viele Rechtschreibfehler bedingen ständige negative Rückmeldungen, die nicht selten emotional verletzend formuliert werden: Ist das denn die Möglichkeit? Du hast Dich überhaupt nicht konzentriert! Wer soll das lesen können? Die Beurteilung durch die Lehrenden und der Wettbewerb zwischen den Schülerinnen und Schülern können auch die Position eines Kindes in der Bezugsgruppe Klasse und sein Selbstbild beeinträchtigen, wie im Fallbeispiel Rafaela deutlich wird. Die Intervention bei Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (LRS) muss entsprechend über das rein kognitive Lernen hinausgehen und sich ebenso den emotionalen und motivationalen Problemen der Kinder und Jugendlichen stellen.
Fallbeispiel Rafaela1 (4. Schuljahr): Rückblick am Ende der Grundschulzeit
Als wir hir hin gezogen sind kamm ich in die 3. klase. Ale haben gejububelt und wollten neben mir sitzen ich kamm neben Tanja meine erste Freundin. Nach ein paar Wochen vergangen waren wollte keiner mer neben mir sitzen sie haben alle gesagt ich sei doof und behindert. Ich habe nie was dafon gesagt aber dan wurt es immer schlemer ich sagte es Herr Schulte aber unter nam nie was bis ich keine lust mehr hate und nichst unternomen habe. aber dann haben wir einen Brief bekommen das ich zurrukgestelt werte. Alle waren trauchich weil sie keinen mer zum ergern haten. Aber ich war vro.
Es gibt also genug Gründe, sich mit den Problemen beim Lesen- und Schreibenlernen zu befassen. Der vorliegende Band bietet eine Einführung für Studierende, richtet sich aber auch an alle, die in ihrer pädagogischen, psychologischen oder medizinischen Berufstätigkeit mit den Problemen des Versagens beim Lesen- und Rechtschreibenlernen befasst sind, auch in Inklusionsklassen. Wie bei allen komplexen kognitiven Kompetenzen ist es nicht möglich, »Rezepte« für eine Intervention oder die Prävention von Versagen bereitzustellen. Eine professionelle Förderung setzt ein tiefes Verständnis des Problems und die Fähigkeit zur Analyse der individuellen Schwierigkeiten eines Kindes voraus. Die Frage, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse für ein »tiefes Verständnis des Problems« relevant sind, lässt sich nicht leicht beantworten. Ein Blick in die wissenschaftliche Literatur zu LRS zeigt, dass viele Disziplinen mit dem Problem befasst sind und sehr heterogenen Fragestellungen nachgehen. So findet man Studien im Bereich der Psychologie, der Pädagogik und der Deutschdidaktik, der Patholinguistik und der Medizin, insbesondere der Kinderpsychiatrie, der Neurologie und der Genetik. Die Aufgabe der nächsten Abschnitte dieses Kapitels wird darin bestehen, die unterschiedlichen Fragestellungen zu strukturieren und dann auszuwählen, welche Themen in diesem Buch ausführlicher behandelt werden.
1.2 Mehrebenenmodell zur Strukturierung der relevanten Faktoren und Forschungsansätze im Bereich LRS
Abbildung 1.1 ist kein umfassendes Modell der Determinanten schulischen Lernens; es veranschaulicht vielmehr ausgewählte Faktoren und deren Interaktionen, die im Zusammenhang mit LRS als wichtig erkannt wurden und zu unterschiedlich fokussierten wissenschaftlichen Fragestellungen Anlass geben.
In einem ersten Schritt unterscheidet das Modell zwischen personalen Faktoren und Umweltfaktoren und greift damit die bekannte Unterscheidung zwischen Anlage und Umwelt als determinierende Faktoren der Entwicklung auf. Zum Verständnis vor allem der personalen Faktoren ist eine weitere Dimension notwendig, die in der Abbildung vertikal dargestellt wird: Die Unterscheidung zwischen der psychologischen und der biologischen Analyseebene, die sich im Erklärungswert nicht ausschließen, sondern ergänzen. So lassen sich z. B. die Probleme im Bereich der Lautanalyse bei LRS-Kindern sowohl mit psychometrischen als auch mit neurowissenschaftlichen Methoden nachweisen (z. B. Groth, Rieker & Steinbrink, 2011). Für die psychologische Ebene macht es weiterhin Sinn, die Faktoren nach ihrer Nähe zu den Problemen beim Schriftspracherwerb einzuteilen – von proximal (nahe am Symptom) zu distal (entfernt vom Symptom). Auf der personalen Seite finden sich die folgenden Analyseebenen:
• Offen beobachtbar und Ausgangspunkt jeder Untersuchung ist die Minderleistung im Lesen und/oder Rechtschreiben, konkretisiert z. B. in einem sehr fehlerhaften Diktat.
• Die proximale psychologische Ebene bezieht sich auf die der Minderleistung unmittelbar zugrundeliegenden kognitiven Prozesse/Teilprozesse beim Lesen und/oder Rechtschreiben. Dies kann z. B. die Schwierigkeit sein, die Silbenstruktur von Wörtern beim Lesen zu erkennen. Zu den proximalen psychologischen Faktoren gehören auch die bereichsspezifische Motivation und das bereichsspezifische Selbstkonzept, die beide einen unmittelbaren Einfluss auf die Lernprozesse beim Schriftspracherwerb haben können.
Abb. 1.1: Mehrebenenmodell zur Strukturierung der relevanten Faktoren und Forschungsfragen bei LRS
• Die distale psychologische Ebene entspricht etwas allgemeiner den kognitiven Kompetenzen, die in Beziehung zu den oben genannten spezifischen Lese- und Rechtschreibprozessen stehen. Relevant sind hier vor allem die verbale Intelligenz, die Sprachentwicklung und die metasprachliche Entwicklung, z. B. die phonologische Bewusstheit. Auch emotionale und motivationale Variablen, die das Lernen beeinflussen, wie die Leistungsmotivation und die allgemeine Anstrengungsbereitschaft, sind hier anzusiedeln.
• Auf der oberen biologischen Ebene korrelieren die psychischen mit zerebralen physiologischen Prozessen, die durch elektrophysiologische Ableitungen oder durch bildgebende Verfahren (z. B. funktionelle Magnetresonanztomographie, fMRT) sichtbar gemacht werden können. Die physiologischen Gehirnprozesse basieren auf neuroanatomischen Strukturen (z. B. Nerventypen, Verlauf und Konnektivität von Nervenfasern), deren Entwicklung mit der Geburt keineswegs abgeschlossen ist.
• Auf einer weiteren biologischen Ebene sind die genetischen Grundlagen von kognitiven Kompetenzen und lernrelevanten Persönlichkeitsfaktoren anzusiedeln. Vermittelt wird der Einfluss der Gene auf kognitive und andere psychische Prozesse und Merkmale über die Gehirnentwicklung.
Wie die Pfeile im Modell andeuten, besteht zwischen den Ebenen in den Wirkungsmechanismen kein einfaches bottom-up-Verhältnis; vielmehr beeinflussen sich die Ebenen gegenseitig. Neurale Strukturen und elektrophysiologische Ereignisse wirken auf die psychischen Prozesse beim Schriftspracherwerb, ebenso werden sie jedoch durch Lernprozesse verändert (Shaywitz et al., 2004).
Die Umweltfaktoren, die im Zusammenhang mit LRS diskutiert werden, lassen sich den Ebenen auf der personalen Seite gut zuordnen. Auf der biologischen Ebene kann die Gehirnentwicklung durch Noxen beeinträchtigt werden, in der vorgeburtlichen Phase durch Infektionskrankheiten der Mutter oder den Konsum von Drogen und bei der Geburt durch mechanische Einwirkungen auf das Gehirn.
Das psychosoziale Umfeld wirkt direkt auf die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes. Im Hinblick auf die Entstehung einer LRS können auch die Umweltfaktoren der Dimension proximal-distal zugeordnet werden, je nachdem ob sie sich unmittelbar (proximal) auf den Schriftspracherwerb auswirken wie die Didaktik des Lese- und Rechtsschreibunterrichts, der Förderunterricht und die häuslichen Hilfen, oder eher die für den Schriftspracherwerb grundlegenden kognitiven Kompetenzen beeinflussen (distal). Umweltfaktoren können bei negativer Ausprägung die Entstehung einer LRS begünstigen, jedoch im positiven Fall (z. B. pädagogisch sinnvolle Hilfe bei den Hausaufgaben) auch als Schutzfaktoren wirksam werden, d. h. eine genetisch wahrscheinliche LRS verhindern oder minimieren. Die Doppelpfeile zwischen den Umweltfaktoren und den psychischen Ebenen wurden mit gutem Grund gesetzt: Es besteht eine enge wechselseitige Beeinflussung zwischen personalen Faktoren und Umweltfaktoren: Eltern werden z. B. nur dann gern vorlesen, wenn das Kind dabei Freude zeigt, umgekehrt wird das Kind durch die Erfahrungen des Vorlesens vielleicht auch erst ein Interesse an Büchern gewinnen.
Das Modell zeigt die Vielfalt möglicher wissenschaftlicher Fragestellungen bei LRS auf: Gibt es Hinweise auf eine genetische Verursachung? Zeigen sich neuroanatomisch und /oder neurophysiologisch Unterschiede zwischen Kindern mit LRS und unauffälligen Kindern? Ist LRS überzufällig mit einer Verzögerung in der Sprachentwicklung assoziiert? Erhalten später LRS-Kinder schon vorschulisch geringere sprachliche Anregungen? In welchen Teilprozessen des Lesens und Rechtschreibens unterscheiden sich schwache von guten Lesern? Welche Methoden des Lese- und Rechtschreibunterrichts reduzieren den Anteil der Leistungsschwachen? Welche Methoden eigenen sich für die Förderung? Diese Liste ließe sich unschwer fortsetzen.
1.3 Inhalt und Aufbau des Buches
Auch wenn eine Gesamtschau reizvoll wäre, konzentriert sich die vorliegende Monographie auf die psychologische und die pädagogische Ebene mit den entsprechenden personalen Faktoren und Umweltfaktoren; Befunde aus der neurowissenschaftlichen Forschung werden nur gelegentlich zitiert. Dies ist zwar vor allem dem vorgesehenen Umfang des Buchs geschuldet, hat aber auch einen wissenschaftlichen Hintergrund: Die neurobiologische Forschung zur LRS steckt noch in ihren Anfängen und eine Zusammenschau der Befunde ist durch die Heterogenität der Verfahren und der Probandengruppen mit unterschiedlichen schriftsprachlichen Schwierigkeiten und Schriftsprachen erschwert. Ein großer Teil der neuroanatomischen Befunde der letzten Jahrzehnte ließ sich über Studien hinweg nicht replizieren. Ramus, Altarelli, Jednoróg, Zhao & Covella (2018) führen dies vor allem auf methodische Probleme zurück: auf zu kleine Probandenzahlen in den einzelnen Studien, auf unterschiedlich definierte Gehirnareale und auf unterschiedliche Analysemethoden. Die so eindruckvollen fMRT-Bilder, die einen direkten Einblick in die Tätigkeit des Gehirns beim Lesen oder Schreiben suggerieren, sind tatsächlich Ergebnis mathematischer Operationen, über die man durchaus streiten kann. Erfolgversprechender sind elektrophysiologische Ableitungen wie z. B. ereigniskorrelierte Potentiale, die unmittelbar sensorische und kognitive Prozesse widerspiegeln und schon im Kleinkindalter Abweichungen oder zeitliche Verzögerungen in der Sprachverarbeitung aufzeigen können (Moll, Hasko, Groth, Bartling & Schulte-Körne, 2016).
Trotz dieses vielversprechenden Ansatzes bietet die neurobiologische LRS-Forschung bisher keine Basis für die Ableitung effektiver Fördermaßnahmen. Nach derzeitigem Kenntnisstand sind Förderstrategien bei LRS am erfolgreichsten, wenn sie sich an der proximalen psychologischen Ebene orientieren, bei der Lese- und Rechtschreibförderung unmittel...