
This book is available to read until 5th December, 2025
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About this book
Zeitnot, Hektik und Stress, aber auch eine zunehmende individuelle Verantwortung für den Umgang mit Zeit haben ein neues Interesse an der Zeitthematik geweckt. Aus psychologischer Perspektive ist Zeitbewältigung mehr als nur die optimale Nutzung der knappen Ressource Zeit. Nach einer einführenden Betrachtung ausgewählter Zeitprobleme und einer Darstellung zentraler Wissensbestände zum menschlichen Zeitbewusstsein wird in diesem Buch die komplexe Beziehung zwischen Zeit und Handeln analysiert. Der Autor zeigt das Zusammenwirken von Person und Umwelt bei der zeitlichen Organisation von Handlungen auf und stellt die Einflüsse des Zeitmanagements auf das Verfolgen langfristiger Ziele und die psychosoziale Befindlichkeit dar.
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Information
1 Der Umgang mit der Zeit – Individuelle Aufgabe oder soziales Problem?
„Zeit ist das, was uns fehlt, wenn sich zuviel ereignet.“
Manfred Eigen3
Manfred Eigen3
Alles, was wir tun, ereignet sich in der Zeit. Dieser temporale Kontext ist mehr als nur eine leere Bühne, auf der sich unsere Aktivitäten entfalten. Die Zeit bestimmt den Rhythmus des sozialen Lebens und hilft uns dabei, unser Leben zu führen. Wir haben uns so sehr an die Zeit gewöhnt, dass wir ohne sie nicht mehr auskommen. Wir leben in einem eng geknüpften Netz von unverzichtbaren, aber auch unentrinnbaren Zeitgebern und Zeitstrukturen, an denen wir uns orientieren. Wir entwerfen und realisieren Handlungen, strukturieren unseren Alltag und planen unser Leben. Immer spielen zeitliche Bezüge dabei eine wichtige Rolle. Bereits Lewin (1951) erkannte, dass die Zeitperspektive, d. h. die kognitive Repräsentation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mehr ist als ein passiver Bewusstseinszustand der Zeitlichkeit. Die Zeitperspektive strukturiert den psychologischen Lebensraum, sie gibt dem Verhalten eine Richtung, kann motivieren oder hemmen. Dasselbe lässt sich auch für andere Aspekte des Zeitbewusstseins annehmen. Weil uns die Zeit so vertraut ist, nehmen wir die zeitlichen Bezüge in unserem Leben oft nicht bewusst wahr. Dass ein Mensch nicht weiß, wie alt er ist, in welchem Jahr er lebt oder was es bedeutet, pünktlich zu sein, würde uns seltsam vorkommen. Umgekehrt denken wir uns nichts dabei, dass unser Alltag durch die Uhr bestimmt wird, dass wir etwas tun, weil die Zeit dafür da ist, oder es lassen, weil sie fehlt. Aufdringlich wird die Zeit zumeist erst dann, wenn sie uns zum Problem wird. Von solchen Zeitproblemen soll in diesem Kapitel die Rede sein. Dabei geht es weniger um Systematik oder Vollständigkeit bei der Auflistung vorhandener Schwierigkeiten im Umgang mit Zeit. Im Vordergrund steht die Absicht, Zeitprobleme aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Ist der Umgang mit Zeit eine Aufgabe, die individuell zu bewältigen ist? Sind Zeitprobleme daher individuelle Probleme, für die die Psychologie Lösungen erarbeiten und anbieten könnte? Oder sind Zeitprobleme soziale Probleme, denen wir gar nicht entrinnen können, weil sie uns alle betreffen? Wozu etwas gut ist, lässt sich oft besser erkennen, wenn es nicht richtig funktioniert und Probleme bereitet. In diesem Sinn soll die Analyse von Zeitproblemen aufzeigen, wie tief unser Leben in der Zeit verwurzelt ist. Zunächst wird die Problematik von Zeitnot und Stress behandelt. Im Anschluss daran wird das Problem der Zeitdehnung erörtert, angefangen von der eher milden Form der Langeweile bis hin zum Zeitstillstand in der Depression.
1.1 Hektik, Zeitnot und Stress
Würde man eine Umfrage durchführen, in der die Befragten sich spontan dazu äußern sollten, was ihnen zu dem Begriff des Zeitproblems alles einfällt, ließe sich wahrscheinlich feststellen, dass die Mehrheit der Befragten den Begriff mit Hektik, Zeitdruck, Zeitnot oder Stress in Verbindung bringt. Ein Problem mit der Zeit zu haben, heißt heutzutage, keine oder zu wenig Zeit zu haben. Tatsächlich scheint einiges dafür zu sprechen, dass Zeitnot immer häufiger zu Stress im Alltag führt. Aus dem von Eurostat im Jahr 2004 veröffentlichten Gesundheitsbericht für die Länder der Europäischen Union geht hervor, dass ca. jeder dritte Deutsche ab 16 Jahren regelmäßig unter Stress leidet. Europaweit sind es knapp 40 % der Bevölkerung, die sich regelmäßig gestresst fühlen. Zugleich sind 32 % unzufrieden mit der verfügbaren Freizeit (Eurostat, 2004). Besonders durch Stress belastet sind Personen im mittleren Erwachsenenalter, die sich sozusagen in der Rushhour des Lebens befinden. Die Erfüllung beruflicher Aufgaben, die Realisierung von Karriereplänen, die Gründung einer Familie und die Selbstverwirklichung in der Freizeit führen zu einer hohen Ereignisdichte, die das Zeitbudget schnell erschöpft. In einigen Ländern scheint sich das Stressproblem schon auf die Gruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren auszuweiten. In Deutschland und den Niederlanden rangiert diese Altersgruppe bereits an erster Stelle. Im Unterschied dazu leiden Personen ab 55 Jahren deutlich weniger unter Zeitstress. In einer aktuellen Allensbach-Umfrage gaben 21 % der repräsentativ Befragten an, die Zeit ändere sich rasend schnell (Geo Wissen, 2005) und insgesamt 83 % ordneten sich auf der siebenstufigen Antwortskala oberhalb der neutralen Mittelkategorie zu. Im Vergleich zu früheren Umfragen aus den Jahren 1980 (nur Westdeutschland) und 1995 haben sich diese Anteile zwar nicht nennenswert erhöht, dennoch spricht die asymmetrische Verteilung zumindest dafür, dass in der Bevölkerung das Urteil dominiert, in einer hektischen Zeit zu leben.
In der Arbeitswelt haben Zeitnot und Stress längst den Status einer exklusiven Managerkrankheit verloren und sind zu einem alltäglichen Begleitfaktor der Arbeit geworden. In einer Umfrage unter 1 000 Beschäftigten aus dem Jahr 1999 standen Zeit- und Termindruck mit 50 % Zustimmung auf dem ersten Platz einer Liste arbeitsbedingter Stressoren (entnommen aus Buchter & Schäfer, 2003). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine international vergleichende Studie über die Arbeitsbedingungen in den fünfzehn Mitgliedstaaten der Europäischen Union aus dem Jahr 1996. Von den 15 800 befragten Beschäftigten gaben 56 % an, unter knappen Fristen und Termindruck zu arbeiten, und 54 % nahmen ein hohes Arbeitstempo wahr (high speed work). Gegenüber einer früheren Befragung aus dem Jahr 1991 bestand bei beiden Kategorien eine Zunahme von jeweils 6 % (European Foundation for the Improvement of Living and Working Conditions, 1997). Dieser Trend scheint ungebrochen. In einer Betriebsrätebefragung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) aus dem Jahr 2004 gaben 91 % der 2 177 Betriebsräte und 1 396 Personalräte an, psychische Arbeitsbelastungen, wie Zeitdruck, Arbeitsintensität und Verantwortungsdruck hätten in den letzten fünf Jahren zugenommen (WSI, 2004).
Zeitstress existiert nicht nur während der Arbeit, sondern auch in der Freizeit. Aus einer repräsentativen Erhebung des B.A.T. Freizeit-Forschungsinstituts bei 2 000 Personen ab 14 Jahren geht hervor, dass 42 % der Befragten ihren Freizeitstress darauf zurückführten, dass sie sich zu viel vorgenommen hätten (Opaschowski, 1988). Das Statistische Bundesamt hat im Rahmen einer umfangreichen Zeitbudgetstudie in 7 200 deutschen Haushalten festgestellt, dass 21.5 % der bundesdeutschen Bevölkerung in zwei Lebensbereichen (Beruf, Familie, Freunde, Ehrenamt, für sich selbst) über Zeitnot klagen und weitere 7.5 % sich sogar in drei oder mehr Lebensbereichen mehr Zeit wünschen (Holz, 2000, S. 9ff.).
Warum also klagen so viele Menschen über Hektik, Zeitnot und Stress? Handelt es sich um ein individuelles Problem, das z. B. auf einen falschen Umgang mit Zeit oder auf inadäquate Stressbewältigungsstrategien zurückzuführen ist? Oder ist die Ursache des Problems eher in den allgemeinen Lebensbedingungen zu suchen? Hat sich das Tempo des sozialen Lebens so sehr beschleunigt, dass es viele Menschen überfordert?
1.1.1 Zeitstress als Folge der Beschleunigung des sozialen Lebenstempos
Klagen über zu viel Tempo und Stress sind keine neue Erscheinung. Nach Wendorff (1985) dominierte kein anderer Aspekt die Zeiterfahrung der Menschen im 20. Jahrhundert so sehr, wie der des Tempos. Das Gefühl, in einer Epoche zu leben, in der sich das Tempo des sozialen Lebens kontinuierlich beschleunigt, wurde bereits zu Beginn der Industrialisierung geäußert und ist seitdem ein dominierender Aspekt der Zeiterfahrung geblieben. Insofern kann die Beschleunigung des sozialen Tempos als ein Grundzug der Moderne betrachtet werden (Garhammer, 1999). Rosa (2003) unterscheidet dabei drei Aspekte. Am sichtbarsten ist die Beschleunigung im technologischen Bereich als Zunahme technologischer Innovationen pro Zeiteinheit. Eine treibende Kraft dieser Innovationsverdichtung ist das Wirtschaftssystem. Die Einführung neuer Technologien ist ein wichtiger Faktor, um sich auf dem Markt gegen Konkurrenten behaupten zu können und erfolgreich zu wirtschaften. Die Reduzierung von Arbeitskosten ist ein weiterer Faktor, der die technologische Entwicklung vorantreibt. Ein zweiter Bereich ist die Beschleunigung des alltäglichen Lebenstempos, d. h. die Reduzierung des Zeitverbrauchs für alltägliche Routinehandlungen. Ein Beispiel für die Beschleunigung in diesem Bereich ist der zunehmende Konsum von Fast-food-Produkten. Ursache dieser Beschleunigung ist nach Rosa die wachsende Disparität zwischen der Vielfalt vorhandener Optionen der Lebensgestaltung einerseits und der begrenzten Lebensspanne andererseits. Eine Möglichkeit, diese Diskrepanz zu reduzieren, besteht darin, Zeit einzusparen, indem alltägliche Routinetätigkeiten beschleunigt und verdichtet werden. Ein dritter Bereich der Beschleunigung ist der soziale Wandel. Hier steht die abnehmende Geltungsdauer gesellschaftlicher Normen und Institutionen im Vordergrund, die für stabile Lebensverhältnisse sorgen. Die soziale Differenzierung in der Gesellschaft als ein Aspekt dieses Wandels führt zusätzlich dazu, dass die Notwendigkeit zu zeitlicher Synchronisierung und Koordination den Druck erhöht, sich zeitrational zu verhalten.
Die Reaktionen auf die Beschleunigung des sozialen Tempos waren und sind nicht nur negativ. Tempo und Schnelligkeit wurden immer auch als Versprechen auf Abwechslung, Erlebnisreichtum, vor allem aber auf Fortschritt und materiellen Wohlstand gewertet. Besonders deutlich kommt diese positive Bewertung im italienischen Futurismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck. Im futuristischen Manifest aus dem Jahr 1909 formulierte Marinetti, ein führender Denker dieser Bewegung: „Wir erklären, dass der Glanz der Welt sich um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Schnelligkeit“ (zitiert nach Schmidt-Bergmann, 1991, S. 400). Für Marinetti symbolisiert Tempo die Begierde nach dem Neuen, Unerforschten und ist Ausdruck von Modernität. Langsamkeit hingegen verachtet er als Stillstand, als falsche Idealisierung von Müdigkeit und Ruhe (Borscheid, 2004, S. 304). In diesem Sinn sind Tempo und Geschwindigkeit zu einem positiven Wert geworden, der die Gesellschaft als Ganzes erfasst hat. Auf der anderen Seite gab und gibt es kritische Stimmen, die davon ausgehen, dass die Beschleunigung des sozialen Tempos mit negativen Folgen verbunden ist. Demnach wäre der heutige Zeitstress vor allem eine Folge der Zuspitzung des Beschleunigungsprinzips und seiner Ausweitung auf immer mehr Lebensbereiche (z. B. Gleick, 2000; Reheis, 1998). Wie bereits erwähnt, ist die Erfahrung, der Schnelligkeit des sozialen Tempos nicht gewachsen zu sein, keineswegs neu, sondern wurde bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisiert und ist seitdem virulent geblieben. Wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, wurde diese Problematik in verschiedenen Wissenschaften aufgegriffen.
Bereits 1869 führte der amerikanische Arzt George Beard das Störungsbild der Neurasthenie ein, eine nervöse Erschöpfung, die mit dem hohen Tempo der modernen Lebensweise in Verbindung gebracht wurde. Man ging davon aus, dass die Hektik der neuen Zeit, die Geschwindigkeit der neuen Maschinen, die erweiterte räumliche und soziale Mobilität der Menschen und das Tempo in den modernen Großstädten zu einer Überstimulation der Nerven führt, so dass deren Funktionsfähigkeit geschwächt und ein Zustand der Erschöpfung hervorgerufen wird. Die Neurasthenie wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Modekrankheit. Heute ist sie zwar aus dem psychiatrischen Vokabular verschwunden, die mit der Neurasthenie verbundene Vorstellung einer stimulationsbedingten Überforderung taucht jedoch bei der Depression erneut auf. So fragt z. B. Eberle (2004) mit Blick auf die Zunahme depressiver Störungen in der heutigen Zeit: „Woher kommt diese Epidemie der Depression? Mutet uns die Welt mit ihren Ansprüchen an Mobilität, Flexibilität, Individualismus und Eigenverantwortung zu viel zu?“ (S. 2).
Eine weitere frühe Thematisierung negativer Folgen des hohen sozialen Tempos ist das von dem Soziologen Emile Durkheim 1897 entwickelte Konstrukt der Anomie. Durkheim nahm an, dass ein rapider sozialer Wandel die regulatorische Kraft gesellschaftlicher Normen herabsetzt, so dass es auf dieser Ebene zu einem Regulationsdefizit kommt. Wenn alles sich immer schneller verändert, dann verlieren sozial integrierend wirkende Kräfte an Bindungsstärke, so dass es zu einer Entgrenzung des Individuums kommt. Der Einzelne fühlt sich orientierungslos und überfordert, was u. a. dazu führt, dass abweichende Verhaltensweisen häufiger auftreten. In neuerer Zeit wurde das Konzept der Anomie aufgegriffen, um die sozialen Folgen des gesellschaftlichen Wandels infolge des politischen Umbruchs in den mittel- und osteuropäischen Staaten nach 1989 oder der fortschreitenden Globalisierung zu analysieren (Atteslander, 1995; Thome, 2003). Für Atteslander (1995) ist die Beschleunigung gesellschaftlicher Prozesse die Hauptursache für die Entstehung anomischer Zustände. Problematisch wird es insbesondere dann, wenn die Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlichen Veränderungstempo und den verfügbaren Ressourcen für soziale Lernprozesse zu groß wird:
“It is not social change that creates difficulties in adaptation and the emergence of anomic situations, but the nature of its acceleration. … Anomie, as we describe it in this book, is the consequence of the fact that the necessary time for social learning is missing” (S. 6).
Morgenroth und Boehnke (2004) konnten zeigen, dass Personen, die sich durch das soziale Tempo überfordert fühlen, auf klassischen Messinstrumenten der Anomia, d. h. der subjektiv wahrgenommenen Anomie, tatsächlich höhere Werte aufweisen.
Auch für Alvin Toffler (1971) ist das Tempo eine psychologisch bedeutsame Variable. Toffler spricht von einem „Zukunftsschock“ und versteht darunter „… die erdrückende Belastung und Desorientierung von Menschen, die in zu kurzer Zeit zu viele Veränderungen durchmachen müssen“ (S. 10). Er vergleicht diesen Zukunftsschock mit einem Kulturschock, der sich einstellt, wenn man unvorbereitet mit einer fremden Kultur konfrontiert wird, deren Regeln und Gebräuche man weder kennt noch versteht. Während bei dem langsamen Wandel in der Vergangenheit immer genug Zeit blieb, um sich den Veränderungen anzupassen, kommt es mit fortschreitender Modernisierung zu einer größer werdenden Differenz zwischen dem Tempo von Veränderungen in der Umwelt und den vorhandenen Möglichkeiten zur Neuanpassung. Wird diese Spannung zu groß, ergeben sich negative physiologische und psychische Folgen. Toffler stützt sich u. a. auf die Untersuchungen von Holmes und Rahe zu den Folgen stressreicher Ereignisse. Holmes und Rahe (1967) entwickelten die Social Readjustment Rating Scale, mit der Ereignisse innerhalb eines definierten Zeitintervalls abgefragt werden, die seitens des Individuums eine Neuanpassung erforderlich machen. Jedes Ereignis erhält entsprechend der Schwere der erforderlichen Adaptation einen Wert zwischen 11 und 100 Punkten. Die Gesamtsumme lässt sich nach Toffler als ein Maß für die Intensität der Veränderungen im Leben einer Person interpretieren. Rahe (1968) berichtet, dass in einer prospektiven Studie an 2 500 Marinesoldaten Personen mit hohen Skalenwerten aus dem obersten Drittel der Verteilung zu fast 90 % häufiger erkrankten als Personen mit niedrigen Werten aus dem unteren Drittel der Verteilung. Diese Befunde wurden später dahingehend kritisiert, dass die beobachtete Beziehung Ergebnis einer verzerrten Selbstauskunft sein könnte, sowie dass teilweise nicht eindeutig genug zwischen Stressoren und Stressfolgen unterschieden wurde (Stroebe & Stroebe, 1998). Toffler beschäftigt sich auch mit der Frage, wie man den Zukunftsschock bewältigen könnte. Zunächst beschreibt er häufig anzutreffende Bewältigungsreaktionen auf den Zukunftsschock: erstens das Ignorieren des Problems, zweitens den Versuch, durch Spezialisierung mit dem Tempo auf einem eng umgrenzten Gebiet Schritt zu halten, drittens die Rückwendung zu Altbewährtem und zur Tradition sowie viertens die Vereinfachung komplexer Zusammenhänge. Diese Strategien könnten zwar vorübergehend vom Tempostress entlasten, seien aber langfristig keine zufrieden stellende Lösung. Toffler betrachtet den Zukunftsschock in erster Linie als eine gesellschaftliche Herausforderung, für die Lösungen auf dieser Ebene gefunden werden müssen. So besteht eine Empfehlung darin, an sozialen Zeitinstitutionen, wie den gesetzlichen Feiertagen, festzuhalten, da sie Tempo und Stress des Alltagslebens wirksam unterbrechen würden. Eine weitere Empfehlung ist die Reform des Bildungssystems mit dem Ziel, dass künftige Generationen neue Kompetenzen für die Anpassung an den Wandel erlernen.
In dem in neuerer Zeit entwickelten zeitökologischen Ansatz wird ebenfalls davon ausgegangen, dass der individuelle Zeitstress nur vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen zu verstehen ist (Adam, Geißler & Held, 1998; Held & Geißler, 1993, 1995; Reheis, 1998). Aus ökologischer Perspektive wird der Mensch als ein System betrachtet, das sich durch eine systemspezifische Eigenzeit auszeichnet. Diese Systemzeit hat ihren Ursprung in der evolutionär bedingten Anpassung des Menschen an die in der Natur vorkommenden Rhythmen. Systemspezifische Eigenzeiten zeichnen sich daher vor allem durch zwei Merkmale aus: Erstens hat jedes System sein eigenes Tempo und zweitens trifft man auf einen charakteristischen Wechsel zwischen Phasen der Aktivität und Phasen der Ruhe, d. h. in ökologischen Systemen existiert eine zyklische Zeitordnung, die sich von der kontinuierlich ablaufenden linearen Zeit moderner Gesellschaften unterscheidet. Eine zentrale Funktion der Systemzeit wird darin gesehen, die Regeneration des Organismus zu gewährleisten. Die Beschleunigung des sozialen Tempos und die Zurückdrängung zyklischer Zeitordnungen zugunsten der kontinuierlichen Zeit einer Nonstop-Gesellschaft, in der alles zu jeder Zeit möglich sein soll (Geißler & Adam, 1998), werden als problematisch beurteilt, weil sie mit den Merkmalen der Systemzeit nur begrenzt kompatibel sind. Kommt es zu einer Entkoppelung zwischen sozialer Zeit und Eigenzeit, wird die Regeneration des Organismus beeinträchtigt, so dass mit negativen Folgen für die körperliche Gesundheit und das psychosoziale Wohlbefinden zu rechnen ist. Als empirischer Beleg für diesen Wirkungszusammenhang werden z. B. die Beeinträchtigungen angeführt, die bei Nacht- und Schichtarbeit auftreten können.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Beschleunigung des sozialen Tempos eine Grunderfahrung der Moderne darstellt. Inwieweit dadurch der individuelle Zeitstress erklärbar wird, bleibt offen. Erstens ist unklar, bei welchem Tempo mit negativen Folgen zu rechnen ist. Gibt es dafür so etwas wie einen kritischen Schwellenwert? Wenn die Annahme von Atteslander (1995) zutreffend ist, dann ist es nicht das Tempo an sich, das Probleme bereitet, sondern die Differenz zwischen dem Tempo und den verfügbaren Bewältigungsressourcen. Diese können jedoch individuell sehr verschieden sein. Ein zweiter kritischer Punkt besteht darin, dass Hektik und Zeitstress sehr viel stärker zugenommen haben, als dies aufgrund der tatsächlich nachweisbaren Beschleunigung des sozialen Tempos zu erwarten wäre (Rosa, 2004). Es besteht also eine Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung und den objektiven Fakten. Damit richtet sich der Blick auf psychologische Ansätze, die erklären können, warum eine Person in einer bestimmten Situation über Zeitstress klagt, während eine andere Person sich in derselben Situation nicht beeinträchtigt fühlt.
1.1.2 Zeitstress als individuelle Zeitpathologie: Das Typ-A-Verhaltensmuster
Manche Menschen sind für Zeitstress besonders anfällig. Ihre Bezeichnung als Typ-A-Persönlichkeit ist längst über den klinischen Sprachgebrauch hinaus zu einem kulturellen Allgemeingut geworden. Das Forschungsprogramm zum sogenannten Typ-A-Verhaltensmuster wurde von zwei amerikanischen Kardiologen, Meyer Friedman und Ray Rosenman initiiert (Friedman & Rosenman, 1959, 1975). Den beiden Ärzten fiel auf, dass viele ihrer Patienten, die wegen koronarer Herzerkrankungen, wie Angina pectoris oder Herzinfarkt, in Behandlung waren, charakteristische Verhaltensweisen und Emotionen zeigten. Sie fassten diese unter dem Begriff des Typ-A-Verhaltensmusters z...
Table of contents
- Deckblatt
- Titelseite
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- 1 Der Umgang mit der Zeit – Individuelle Aufgabe oder soziales Problem?
- 2 Wie kommt die Zeit in unser Leben? Forschungsperspektiven zum menschlichen Zeitbewusstsein
- 3 Zeitbewältigung – Eine psychologische Perspektive
- 4 Die Gehgeschwindigkeit als Merkmal des Lebenstempos
- 5 Individuelle temporale Orientierungen: Arten, Determinanten und Wirkungen
- 6 Zeitbewältigung und Stress
- 7 Bewertung der Befunde und Schlussfolgerungen
- Literatur
- Anhang
- Stichwortverzeichnis