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Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter
Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen, PrÀvention und Intervention
This book is available to read until 5th December, 2025
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Problemverhalten und Gewalt im Jugendalter
Erscheinungsformen, Entstehungsbedingungen, PrÀvention und Intervention
About this book
Jugendliche sehen sich mit zahlreichen Entwicklungsaufgaben konfrontiert. Neben spezifischen Risiken im Jugendalter erschweren auch Problemlagen aus dem Kindesalter eine Auseinandersetzung mit diesen Entwicklungsanforderungen. Einige Jugendliche entwickeln in Folge ein Problemverhalten (z. B. Gewalt/Bullying, Happy Slapping, Delinquenz, Substanzmissbrauch, exzessiven Medienkonsum) oder tauchen in extreme Jugendkulturen ein. Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen stellen in diesem Band aktuelle Erkenntnisse zu Problemverhaltensweisen, zu deren Entstehung und Folgen sowie zu sinnvollen Möglichkeiten des Umgangs dar.
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Information
IV Spezifische Problem- und Lebenslagen im Jugendalter
15 Psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter
Britta Michaelsen-GĂ€rtner und Peter Paulus
Die zehnjĂ€hrige Lena geht seit acht Wochen nicht mehr zur Schule. Auch vorher fehlte sie bereits hĂ€ufiger, weil sie sich krank fĂŒhlte und ĂŒber körperliche Beschwerden, wie Bauchweh, klagte. Lenas Mutter hat immer wieder versucht, ihre Tochter trotz der Verweigerung in die Schule zu bringen â in der Hoffnung, dass sie doch am Unterricht teilnehmen wĂŒrde, wenn sie erst einmal in der Schule war. Oftmals hat Lenas Mutter den ganzen Vormittag vor der Schulklasse gesessen, damit Lena am Unterricht teilnehmen konnte. Da sich Lenas GemĂŒtslage in den letzten Monaten jedoch so stark verschlechtert hat, dass sie gar nicht mehr zur Schule geht, hat ihre Mutter beschlossen, mit Lena professionelle Hilfe aufzusuchen. Der Spezialist diagnostiziert bei Lena eine sogenannte Schulphobie.
15.1 Problemdarstellung
Das beschriebene Beispiel stellt keinen Einzelfall dar. Zahlreiche Kinder und Jugendliche leiden unter psychischen AuffĂ€lligkeiten und Störungen. Oftmals bleiben ihre Probleme und Störungen jedoch ĂŒber lange Zeit âunentdecktâ, so dass die Kinder und Jugendlichen nicht selten die gesamte Schulzeit ohne Hilfe und UnterstĂŒtzung durchlaufen. Mit ihrem Slogan âthere is no health without mental healthâ rĂŒckt daher die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die psychische Gesundheit ins Zentrum der Aufmerksamkeit und weist auf die hohe Anzahl psychischer Störungen bereits bei Kindern und Jugendlichen hin. Auch im Rahmen der gesundheitswissenschaftlichen Forschung hat es in jĂŒngster Zeit vermehrt Untersuchungen zur psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen gegeben. So berichtet unter anderem das Robert-Koch-Institut in einer seiner Veröffentlichungen zu den Ergebnissen des bundesweiten Kinder-und Jugendgesundheitssurveys (KIGGS), dass bei ca. 22 % der Kinder und Jugendlichen Hinweise auf eine psychische AuffĂ€lligkeit vorliegen: âUnter den spezifischen psychischen AuffĂ€lligkeiten treten Störungen des Sozialverhaltens (10 %), Ăngste (7,6 %) und Depressionen (5,4 %) am hĂ€ufigsten aufâ (Ravens-Sieberer et al., 2006, S. 8). Angesichts dieser nicht unerheblichen PrĂ€valenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen in der schulpflichtigen Allgemeinbevölkerung ist es nicht nur wichtig, eine angemessene psychosoziale und gesundheitliche Versorgung sicherzustellen, sondern auch, gezielt ursachenbezogene PrĂ€vention zu betreiben. Aber nicht nur fĂŒr die Heranwachsenden ist eine solche PrĂ€vention wichtig, sondern auch im Hinblick auf psychische AuffĂ€lligkeiten im Erwachsenenalter, die oftmals in Kindheit und Jugend ihren Ausgang nehmen und damit fĂŒr hohe Folgekosten im Gesundheitswesen verantwortlich sind.
Die WHO unterstreicht den Bedarf an PrĂ€vention, indem sie der Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in ihrem âAktionsplan fĂŒr psychische Gesundheitâ breiten Raum einrĂ€umt. Die EuropĂ€ische Kommission hat mit dem sogenannten GrĂŒnbuch âDie psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern â Entwicklung einer Strategie fĂŒr die Förderung der psychischen Gesundheit in der EuropĂ€ischen Unionâ (2005) die Grundlage fĂŒr Initiativen geschaffen, die auch Kinder, Jugendliche und Schulen mit einschlieĂen. In der Bundesrepublik Deutschland betont die Jugendministerkonferenz in ihrem Bericht âKinder und Gesundheit â Gesundheitsförderung als gesamtgesellschaftliche Lageâ im Mai 2005 die Bedeutung auch der Förderung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
Das vorliegende Kapitel gibt einen Einblick in das Leben und Leiden von Kindern und Jugendlichen, zeigt risikoerhöhende Bedingungen und Ressourcen in ihrer Entwicklung auf und diskutiert verschiedene Möglichkeiten zur PrÀvention psychischer Störungen und AuffÀlligkeiten.
15.1.1 Epidemiologie psychischer und emotionaler Störungen im Kindes- und Jugendalter
Ein Vergleich der wichtigsten internationalen Studien der letzten Jahre zeigt eine durchschnittliche PrĂ€valenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen von 18 % (Ihle & Esser, 2002). Chronisch treten psychische Störungen durchschnittlich bei etwa 10 % der Kinder und Jugendlichen auf. Zu Ă€hnlichen Ergebnissen kommen auch Barkmann und Schulte-Markwort (2004) in ihren Untersuchungen. Bei einer GegenĂŒberstellung von 29 in Deutschland durchgefĂŒhrten Studien stellten sie eine durchschnittliche PrĂ€valenz psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen von 17,2 % fest. Die aktuellen Ergebnisse des Robert-Koch-Instituts liegen mit 22 % etwas höher als der Durchschnitt (Ravens-Sieberer et al., 2006). Bei einem Vergleich der Geschlechter fĂ€llt auf, dass bis zum 13. Lebensjahr psychische AuffĂ€lligkeiten hĂ€ufiger bei Jungen auftreten. WĂ€hrend sich die psychischen Störungen der Jungen auf das Alter der Kindheit oder Schulzeit konzentrieren, treten sie bei MĂ€dchen vorwiegend wĂ€hrend der Adoleszenz auf (Kolip, 2002). Dementsprechend wurden depressive Störungen, die bei Jungen hĂ€ufiger im Schulalter auftreten, im spĂ€ten Jugendalter und frĂŒhen Erwachsenenalter doppelt so hĂ€ufig bei MĂ€dchen festgestellt. Dies ist durch eine Abnahme internalisierender Störungen bei Jungen und eine gleichzeitige Zunahme bei den MĂ€dchen zu erklĂ€ren (Ihle & Esser, 2002). WĂ€hrend Jungen ihre Aggressionen eher nach auĂen wenden, richten MĂ€dchen sie zunehmend gegen sich selbst. Jungen neigen daher eher zu hyperkinetischen Störungen, dissozialen Störungen, Störungen durch Substanzgebrauch sowie monosymptomatischen Störungen, wie Tics (vgl. aber Kap. 7). Bei MĂ€dchen und jungen Frauen treten neben den depressiven Verstimmungen hĂ€ufiger Essstörungen (vgl. Kap. 12) auf (Bundesministerium fĂŒr Gesundheit und Frauen, Bundesministerium fĂŒr Bildung, Wissenschaft und Kultur & Ludwig Boltzmann Institut fĂŒr Medizin und Gesundheitssoziologie, 2004; Heinemann & Hopf, 2001).
15.1.2 HÀufigkeit und Symptome psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter
Das Erscheinungsbild der psychischen Störungen im Kindes-und Jugendalter ist vielfĂ€ltig. HĂ€ufig treten die vorliegenden Störungen auch gleichzeitig (komorbid) auf. So können zum Beispiel bei fast 50 % der Kinder mit dissozialen Störungen gleichzeitig auch hyperkinetische Störungen festgestellt werden. Weiterhin leiden 25 % dieser Kinder gleichzeitig auch an depressiven Störungen. Die hĂ€ufigsten komorbiden Störungen bei Depression sind Angststörungen (40 %) (Ihle & Esser, 2002). Tabelle 15.1 gibt einen Ăberblick ĂŒber die wesentlichen psychischen Krankheitsbilder im Kindes-und Jugendalter, die im Rahmen der âHealth Behaviour in School-aged Childrenâ (HBSC)-Studie in Ăsterreich erhoben wurden.
Die Angststörung als hĂ€ufigste psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen zeichnet sich durch hĂ€ufige und unrealistische Ăngste aus, die die normale LebensfĂŒhrung der Betroffenen stark beeintrĂ€chtigen. Oftmals ist sie mit Vermeidungs- oder Fluchtverhalten verbunden. Je nach Alter und Entwicklung treten unterschiedliche typische Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen auf (Steinhausen, 2002). WĂ€hrend im SĂ€uglings-und Kleinkindalter die Trennungsangst dominiert, treten im Vorschulalter und in der mittleren Kindheit hĂ€ufiger Tierphobien und Dunkelangst auf. Typisch fĂŒr die mittlere Kindheit und frĂŒhe Adoleszenz sind Schulangst und Schulphobien sowie Sozialphobien. WĂ€hrend bei der Schulangst DemĂŒtigungen, Ausgrenzungen, Diskriminierungen und das eigene Versagen gefĂŒrchtet werden, ist bei der Schulphobie hĂ€ufig eine panische Trennungsangst ausschlaggebend. FĂŒr eine Sozialphobie ist die Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen und sich eventuell blamieren zu können, ursĂ€chlich. WĂ€hrend der Adoleszenz treten vermehrt generalisierte Angst-und Panikstörungen sowie Agoraphobien auf (Angst vor Situationen und Orten, bei denen ein Entkommen schwierig oder peinlich wĂ€re). Neben den altersgebundenen Angststörungen können auch altersunabhĂ€ngige Manifestationen im Kindes-und Jugendalter diagnostiziert werden: Hierzu zĂ€hlen beispielsweise die Störung mit sozialer Ăngstlichkeit oder die Sozialphobie, bei der Kinder und Jugendliche nicht in der Lage sind, altersgemĂ€Ăe Sozialkontakte zu entwickeln. Sie sind Fremden gegen ĂŒber stets befangen. Der Extremfall einer Störung mit sozialer Ăngstlichkeit Ă€uĂert sich im mutistischen Kind mit Sprechverweigerung.
Dissoziale Störungen drĂŒcken sich in wiederholt oder dauerhaft antisozialem Verhalten aus, bei dem Regeln und Normen verletzt und die Rechte anderer beeintrĂ€chtigt werden. Betroffene Eltern klagen in erster Linie ĂŒber fehlenden Gehorsam und Widerstand gegenĂŒber anderen Personen, der sich in Schreien, Schlagen, HĂ€nseln sowie SchuleschwĂ€nzen, Stehlen, LĂŒgen, Zerstören und ZĂŒndeln Ă€uĂert. Mit zunehmendem Alter treten oftmals schwerwiegende Symptome, wie Vandalismus, körperliche Auseinandersetzungen auch mit Erwachsenen, Drogenmissbrauch, Einbruch, wiederholte Schulverweise sowie Bandenzugehörigkeit, auf. Störungen des Sozialverhaltens im Kindes-und Jugendalter sind oftmals mit einer Reihe weiterer Störungen verbunden (Steinhausen, 2002). Zu den komorbiden Störungen zĂ€hlen:
Tab. 15.1: HĂ€ufigkeiten und Symptome psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen (in Anlehnung an Bundesministerium fĂŒr Gesundheit, Familie und Jugend et al., 2004)
| Diagnose | Symptomatik | HĂ€ufigkeit |
| Angststörung | Vermehrtes Schwitzen, trockener Mund, Zittern, Erhöhung der Pulsfrequenz, VerstĂ€rkung der Atmung, Angst zu sterben oder âverrĂŒckt zu werdenâ, Vermeidungs- und Fluchtverhalten, psychosomatische Beschwerden. | bei ca. 10 % eines Jahrgangs, hĂ€ufigste Störung im Kindes- und Jugendalter |
| Sozialphobie (Sonderform der Angststö- rung) | Deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten, oder klare Vermeidung der angstauslösenden Situationen. Sie tritt in sozialen Ereignissen auf, wie Essen oder Sprechen in der Ăffentlichkeit, Begegnung von Bekannten, Teilnahme an Gruppen oder Festen. | bei ca. 1â4,6 % eines Jahrgangs |
| Aggressiv-dis- soziale Störung | Aggressives Verhalten gegenĂŒber Menschen und Tieren, Betrug, Diebstahl, ZĂŒndeln, Vandalismus, SchuleschwĂ€nzen und Weglaufen von zu Hause. | bei ca. 5â7 % eines Jahrgangs, ĂŒberwiegend Jungen |
| ADHS | Aufgaben nicht zu Ende bringen können, Zerstreutheit,... |
Table of contents
- Deckblatt
- Titelseite
- Impressum
- Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- I EinfĂŒhrung
- II Facetten gewalttÀtigen Verhaltens im Jugendalter
- III Risikoverhalten im Jugendalter
- IV Spezifische Problem- und Lebenslagen im Jugendalter
- Liste der Autoren und Herausgeber
- Stichwortverzeichnis