Philosophie der Renaissance
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Philosophie der Renaissance

About this book

StĂ€rker als vorangehende Epochen ist das Zeitalter der Renaissance (ca. 1350 bis ca. 1650) durch zahlreiche wirtschaftliche, kĂŒnstlerische, politische, technische, literarische, theologische, soziale und philosophische Neuorientierungen geprĂ€gt. Kaum etwas ist am Ende dieses Zeitabschnitts so wie es am Anfang war. Die 11 Kapitel dieser "Philosophie der Renaissance" (Prag 1356, Padua 1408, Florenz 1434, Wien 1489, Florenz 1519, Wittenberg 1560, Ingolstadt 1577, Montaigne 1588, Ciudad de Mexico 1599, Peking 1601, Paris 1625 / MĂŒnchen 2013) gehen von einer spezifischen örtlichen und geistesgeschichtlichen Situation aus und stellen jeweils relevante Texte und deren Voraussetzungen, Kontexte und Wirkungen vor. So kommt die Philosophie dieser Zeit in ihrer Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit in den Blick.Dr. Heinrich C. Kuhn ist akademischer GeschĂ€ftsfĂŒhrer des Seminars fĂŒr Geistesgeschichte und Philosophie der Renaissance der Ludwig-Maximilians-UniversitĂ€t MĂŒnchen.

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Information

Ingolstadt 1577

1577, das ist das Jahr, Ingolstadt, das ist der Ort, in dem Antonius Balduinus1 als Decanus pro tempore der philosophischen2 FakultĂ€t der dortigen UniversitĂ€t3 genannt wird. Der Aufenthalt Balduinus’ in Ingolstadt war vergleichsweise kurz: Vermutlich von 15704 bis 1576 hatte er in Dillingen unterrichtet,5 spĂ€testens ab August 1576 ist er Mitglied der UniversitĂ€t Ingolstadt, noch im Laufe des Jahres 1577 kehrt er nach Dillingen zurĂŒck.6
Balduins philosophische TĂ€tigkeit in Dillingen ist dank Ulrich G. Leinsles monumentaler Studie zur dortigen Philosophie7 recht gut bekannt: Bereits im Jahr seiner Ankunft in Dillingen (1570) wendet er sich an den Ordensgeneral der Jesuiten um gegen Versuche des Dillinger Rektors, die Lehrfreiheit der Professores zu beschrĂ€nken, zu protestieren;8 im selben Jahr vertritt er im Anschluss an Augustinus Niphus, dass die Schlussfolgerung nicht Teil, sondern nur Wirkung eines Syllogismus sei (dass dessen wesentliche Teile also Obersatz und Untersatz seien), und vertritt die Möglichkeit von Glauben und Wissen in ein und demselben Menschen ĂŒber ein und dieselbe Sache; 1571 (hier zurĂŒckhaltend/vorsichtig Positionen zur Gestirnslehre vertretend, aber okkulte, ĂŒber Licht [und WĂ€rme] und Bewegung hinausgehende Wirkungen der Gestirne nicht zugestehend, einen eigenen tĂ€tigen Sinn [sensus agens] ablehnend,9 die Sinne in Bezug auf ihr jeweiliges eigenes Objekt – aber auch nur in diesem Bezug – fĂŒr irrtumsfrei erklĂ€rend und so radikalen Skeptizismus abwehrend), 157210 steht er zusammen mit einem Kollegen Disputationen zu Logik11 und Physik vor,12 1573 allein der Disputation von 110 Thesen zur gesamten Naturphilosophie.13 Zwischen 1571 und 1573 ist er einflussreich in Dillinger Diskussionen ĂŒber den Fortbestand elementarer Formen. Interesse fĂŒr moralphilosophische Themen hingegen ist bei ihm fĂŒr jene Jahre nicht nachweisbar – abgesehen von einer einzigen, nur handschriftlich dokumentierten Disputation von 1571. FĂŒr Balduinus spĂ€tere Dillinger Jahre 1574–1576 und 1577–(ca.?)1582 (als er als StudienprĂ€fekt und Professor fĂŒr Moraltheologie wirkte)14 hingegen sind15 keine philosophischen Stellungnahmen Balduinus’ bekannt.
Anders sieht es fĂŒr die (obzwar kurze) Zeit seines Wirkens in Ingolstadt aus – wozu, weiter unten.
Balduinus war Jesuit.16 Als solcher kam er (zumindest wenn die Regeln17 auch in seinem Fall respektiert wurden)18 bereits mit dem Eintritt in das Römische Collegium (in dem er 1562 sein Noviziat antrat)19 diese absolvierend in Kontakt mit den Exercitia spiritualia des OrdensgrĂŒnders Ignatius von Loyola.20 Jenseits der Förderung persönlicher Frömmigkeit enthalten diese – philosophisch interessanter – klare Anweisungen zur Entscheidungsfindung.21
Schon die Hinleitung ist bemerkenswert: ZunĂ€chst vergewissere man sich der ĂŒbergreifenden Ziele der eigenen Person22 – Ignatius nennt Lob Gottes und Rettung der eigenen Seele.23 Nicht das Ziel ist auf die Mittel hinzuordnen, sondern die Mittel sind auf das Ziel hinzuordnen.24
AusgewĂ€hlt werden kann nur, was indifferent oder in sich gut ist. Manche Entscheidungen sind endgĂŒltig: das GewĂ€hlte kann nicht mehr aufgegeben oder aufgehoben werden; andere Entscheidungen sind revidierbar: man kann sich des GewĂ€hlten wieder entĂ€ußern. Stellt sich eine endgĂŒltige Entscheidung als falsch heraus, so bleibt nichts als zu bereuen und zu versuchen, das Beste daraus zu machen. Auch un-endgĂŒltige Entscheidungen soll man nicht ohne guten Grund umstoßen.25
Drei Entscheidungssituationen gibt es: Zum ersten, wenn es ohne jeden Zweifel und ohne jede Möglichkeit des Zweifels fĂŒr die sich entscheidende Person feststeht, was die richtige Entscheidung ist.26 Zum zweiten, wenn man aufgrund bisheriger Erfahrungen hinreichende Grundlage fĂŒr eine klare Entscheidung hat.27 Bleibt zum dritten: man hat Zweifel oder kann Zweifel haben, was die richtige Entscheidung sei, und bisherige Erfahrungen geben keine hinreichende Entscheidungsgrundlage. Man entscheide dann ruhig und im Blick auf das höchste Ziel.28
Drei Weisen gibt es hier vorzugehen. Zum ersten: Man stelle die Sache, in Bezug auf die eine Entscheidung getroffen werden soll, vor sich. Man versetze sich in Bezug auf diese Sache in einen Zustand der Indifferenz, um das Hauptziel, zu dem die Entscheidung beitragen soll, wirksam werden zu lassen. Dann bete man und denke nach. Man erwÀge die Vorteile und Nachteile beider Entscheidungsalternativen. Man treffe die Entscheidung, zu der die Vernunft rÀt. Nun ist die Entscheidung getroffen; man bete.29
Zum zweiten:30 Man erforsche seine GefĂŒhle und prĂŒfe, was die Quelle etwaiger PrĂ€ferenzen fĂŒr eine Entscheidung in die eine oder andere Richtung in Bezug auf die betreffende Sache ist. Man entĂ€ußere sich dabei eigener Interessen.31 Dann stelle man sich einen unbekannten Menschen vor, fĂŒr den man Allerbestes wĂŒnscht, und erwĂ€ge, was man diesem Menschen raten wĂŒrde, mĂŒsste er entscheiden.32 Dann33 ĂŒberlege man, wie man selbst, sich in als in unmittelbarer TodesnĂ€he vorstellend,34 wĂŒnschen wĂŒrde entschieden zu haben.35 Dann36 analog fĂŒr das JĂŒngste Gericht: wie man dann wĂŒnschen wĂŒrde entschieden zu haben.
So kein Raum oder nur geringer Wille, eine Entscheidung zu treffen, vorhanden sind, versuche man das eigene Leben und die eigene Situation soweit möglich zu verbessern und zu reformieren.37
Stets mit Blick auf das höchste Ziel Entscheidungen als Mittel zu dessen Erreichen betrachtend, unbezweifelbare Intuition als beste/sicherste Quelle fĂŒr Entscheidungen, Erfahrung vorrangig vor Vernunft, abgesehen von der eigenen Person und eigenen Interessen, Innerweltliches (die eigene Todesstunde) als imaginierter Entscheidungskontext vor Überweltlichem (dem JĂŒngsten Gericht); und dies, bemerkenswerterweise, ohne RĂŒckgriff auf autoritative Texte, Vorbilder, RĂŒcksprache mit Vorgesetzten, Beratung mit anderen; aber mit Rat fĂŒr Situationen fehlenden Entscheidungsspielraums oder fehlender Entscheidungsfreude: so durch die Exerzitien des Ignatius trainiert, findet sich Balduinus in Ingolstadt.
Er findet sich nicht als einziger Jesuit, aber, im Unterschied zur Situation in Dillingen, auch nicht an einer UniversitÀt, die nur Jesuiten als Lehrpersonal hatte.
1472 landesherrlich privilegiert gegrĂŒndet,38 ab der Mitte des 16. Jahrhunderts zunehmender staatlicher Einflussnahme ausgesetzt,39 erhĂ€lt die UniversitĂ€t Ingolstadt im Jahre 1550 mit Petrus Canisius zum ersten (und letzten) Mal einen Jesuiten als Rektor.40 1555 konkretisieren sich die PlĂ€ne fĂŒr die GrĂŒndung eines Jesuitenkollegs in Ingolstadt.41 1561 bittet der Herzog die IngolstĂ€dter Jesuiten um VorschlĂ€ge, dem Niedergang der UniversitĂ€t zu wehren.42 Theoretisch ist das Niveau dort nicht niedrig: 1569 wird beschlossen, von den Baccalaurii nicht nur (wie bisher) Kenntnisse in Grammatik (d. i. lateinischer Sprache), sondern nun auch in griechischer Sprache zu fordern, und fĂŒr die höheren akademischen Grade in Ethik, Naturphilosophie, Mathematik und höhere Kenntnisse in Dialektik;4...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort – MĂŒnchen 2013
  6. Prag 1356
  7. Padua 1408
  8. Florenz 1434
  9. Wien 1489
  10. Florenz 1519
  11. Wittenberg 1560
  12. Ingolstadt 1577
  13. Montaigne 1588
  14. Ciudad de Mexico 1599
  15. Peking 1601
  16. Paris 1625 / MĂŒnchen 2013