1 Der Begriff psychischer Krankheit
1.1 Einführung
In einer ersten Annäherung kann versucht werden, den Begriff psychischer Gesundheit als Abwesenheit psychischer Krankheit zu definieren. Damit scheint auf den ersten Blick nicht viel gewonnen zu sein, sagt doch die Abwesenheit bestimmter Eigenschaften oder Zustände wenig über die verbleibenden aus.
Wie im Folgenden zu zeigen ist, beinhalten Definitionen psychischer Krankheit jedoch regelmäßig einen Verweis auf den Zustand, von dem Krankheiten abweichen sollen, also auf psychische Gesundheit. Je nach Krankheitsmodell lassen sich dabei verschiedene Begriffe psychischer Gesundheit aufzeigen, die den Modellen implizit zugrunde liegen. In einem ersten Schritt kann aus diesen Begriffen eine vorläufige Abgrenzung des Begriffs psychischer Gesundheit gewonnen werden.
1.2 Psychische Krankheit als Störung arttypischer Funktionen
Eine in der Psychiatrie stark vertretene Richtung versucht, den Begriff psychischer Krankheit am Begriff physischer Krankheit zu orientieren. So vermerkt Huber in seinem Lehrbuch der Psychiatrie: »Von psychiatrischen Krankheiten sprechen wir nur dann, wenn sie durch krankhafte Veränderungen des Leibes, durch bestimmte Organprozesse mit ihren funktionalen Folgen und (funktionalen oder morphologisch fassbaren) Bereichen bedingt sind.«19 Damit ist das Definitionsproblem allerdings erst einmal nur auf eine andere Ebene verschoben, denn auch der Begriff physischer Krankheit muss definiert werden. Christopher Boorse steht für den Versuch, Krankheit als Störung »natürlicher Funktionen« zu definieren, die in »arttypischer Weise« Überleben und Reproduktion eines Organismus sichern.20 An dieser Stelle könnte jedoch mit Engelhardt eingewendet werden, dass die Störung einer »arttypischen Funktion« keine notwendige Bedingung für die Feststellung einer Erkrankung sein kann. Engelhardt verweist in seiner Argumentation auf das Beispiel der Osteoporose, einer schmerzhaften Knochenentkalkung, die bei Frauen regelhaft nach der Menopause auftritt. Die »arttypische« Osteoporose als Folge der »arttypischen« hormonellen Umstellung nach der Menopause kann sicher nicht als artuntypische Funktionsstörung bezeichnet werden und gilt dennoch als Erkrankung.21
Dies widerspricht der Definition von Boorse, der explizit feststellt, dass der als Krankheit bezeichnete »innere Zustand des Organismus« nicht einfach »in der Natur der Art« liegen darf. Ein krankhafter Zustand muss demnach für die Art untypisch sein oder – wenn er doch typisch ist – dann wenigstens im Wesentlichen auf Umweltursachen zurückgeführt werden können.22
Der bei Boorse implizit gegebene Begriff psychischer Gesundheit kann aus seinem Krankheitsbegriff erschlossen werden. Wenn Krankheit bestimmte, arttypische Funktionen stört, als physische Krankheit »physiologische Prozesse«, als psychische Krankheit »geistige (mentale) Prozesse«, dann ist psychische Gesundheit (mental health) eben die ungestörte Ausübung psychischer Prozesse, die das arttypische Überleben und die Reproduktion sichern.23 Boorses Argumentation steht und fällt also mit dem Verweis auf bestimmte »Standardfunktionen« im menschlichen Verhalten, die durch psychische Prozesse ausgeübt werden,24 und zwar im Sinne einer Verursachung bestimmter Verhaltensweisen.25 Als solche Standardfunktionen benennt er Wahrnehmung, Intelligenz und Gedächtnis, Triebe, Angst, Schmerz und Sprache.26 Dass sie Standardfunktionen sind, soll ihre Konformität mit dem »Design« der »Art« sicherstellen, dass Boorse als »angeborene« Organisation zum Zwecke der Anpassung versteht.27
Damit stellt sich jedoch die Frage, was denn dann Psychiatrie von Neurologie, der Wissenschaft von den krankhaften Zuständen des Gehirns, unterscheiden soll. Boorse antwortet darauf, indem er die angedeutete Artikulation psychischer und psychologischer Funktionen sofort wieder einschränkt: ein psychisch definierter Krankheitstyp (als Beispiel für eine solche Erkrankung wird erstaunlicherweise »Ambivalenz gegenüber seinem Vater« gewählt) könne mit unterschiedlichen Zuständen des Gehirns verschiedener Patienten zusammenfallen.28 Diese Argumentation für die relative Unabhängigkeit psychischer Prozesse von bestimmten Hirnfunktionen lässt jedoch erneut die Frage aufkommen, welches Kriterium denn garantieren soll, dass eine Funktion der Psyche eine »arttypische Standardfunktion« darstellt.
Was hier angesprochen werden soll, ist das Problem kultureller Einflüsse, auf das bereits beim Verweis auf die »Natur der Art« angespielt wurde. Wenn Boorse die Störung psychischer Funktionen über den Begriff der »biologischen Dysfunktionalität«29 mit der Störung psychischer Funktionen vergleichen will, die psychische Krankheit definieren soll, versucht er natürlich, sich einen möglichst kulturunabhängigen Raum zu erschließen. Tatsächlich kann argumentiert werden, dass die einfachen Symptome einer Störung des Zentralnervensystems, aus denen z. B. die Neurologie ihre Krankheitsbilder zusammensetzt, relativ kulturunabhängig vorliegen können. Muskelkraft und Muskelkonus, die Flüssigkeit und Zielgenauigkeit einfacher Bewegungen oder gar Muskeleigenreflexe, die ohne aktive Beteiligung des Untersuchten ausgelöst werden können,30 stellen sich als relativ basale Phänomene dar, die in verschiedenen Kulturen einigermaßen gleichförmig zu beobachten sein sollten. Schon angebliche »Standardfunktionen« psychischer Prozesse wie die Schmerzwahrnehmung können jedoch in verschiedenen Kulturen unterschiedlich ausgeprägt sein. So kann sich Schmerz als seelischer oder körperlicher Schmerz, als Erschöpfung oder Depression im Erleben des Patienten manifestieren.31
Die Wissenschaft von physischen Krankheiten kann hier auf ein relativ erlebnisunabhängiges Kriterium ausweichen, das die subjektiv erlebten Symptome intersubjektiv standardisieren soll: das des organischen Korrelats, das durch pathologische (heute auch bildgebende, elektrophysiologische oder laborchemische) Methoden objektiviert werden kann.32 Wenn Boorse jedoch auf der Eigenständigkeit und Variabilität psychischer Funktionen gegenüber physiologischen Zuständen des Gehirns beharrt, kann er nicht auf diese Form der Standardisierung an organpathologischen Befunden zurückgreifen. Er weicht dementsprechend auch auf ein Normalitätskriterium aus, um eine arttypische Funktion als solche zu charakterisieren: Eine »Theorie der Gesundheit« müsse auch eine »empirische Untersuchung« zurückgreifen, die eine Beschreibung liefern soll, »wie wir konstitiert sind«. Entscheidungskriterium ist dabei offenbar die Durchschnittsnorm: »Nur eine empirische Untersuchung kann zeigen, ob normale menschliche Wesen ein ausgeglichenes Temperament haben […]«.33 Wenn aber die Norm entscheidet, welches abweichende Verhalten, das zudem »Überleben« und »Reproduktion« gefährdet,34 als psychisch krank zu gelten hat, dann sind Deserteure in der Zeit des Nationalsozialismus als geisteskrank zu klassifizieren.
Der Verweis auf kulturelle Besonderheiten greift hier nicht. Zum einen hat ihn Boorse gerade dadurch verunmöglicht, dass er »Standardfunktionen« psychischer Prozesse nicht durch Identifikation mit allgemeinen physiologischen Prozessen, sondern durch einen Abgleich an der – eben kulturell bestimmten – Norm definieren will. Zum anderen verwischt er aktiv die Grenze zwischen Kultur und »Biologie« bzw. Natur, wenn er argumentiert, dass »die kulturelle Umwelt eine Rolle in der natürlichen Selektion spielt. Aufgrund dieses Effekts sind psychische Gegebenheiten, die einem Individuum erlauben, innerhalb von Kulturen Erfolg zu haben, ein biologisches Phänomen«.35 Auch in Kulturen werde also selektiert, und zwar nach den vorherrschenden psychischen Gegebenheiten; die ausselektierte, normierte Kultur ist dann ein biologisches Phänomen. Hätte der Faschismus in Europa gesiegt und erfolgreich alle Gegner und Dissidenten vergast, wäre dies also ein (natürlicher?) Selektionsprozess, und die psychischen Faktoren, die Individuen die Kollaboration und die damit das Überleben und die Reproduktion sicherten, wären »biologische Phänomene«. Dass, wenn die Nationalsozialisten gesiegt hätten, wir Menschen wie Hunde züchten würden, ist sicher keine neue Erkenntnis, dass aber die Faktoren, die zum Mitläufer prädestinieren, zur biologischen Norm erhoben werden und über den Status psychischer Gesundheit entscheiden sollen, erscheint doch als (sicher ungewollte, dennoch) überraschende Konsequenz der Boorse‘schen Vermengung von Natur und Kultur. Um mit dieser Argumentation dem derzeit wieder aufkeimenden Neofaschismus keine »gesundheitstheoretische« Stütze zu liefern, muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass auch umgekehrt ein Schuh daraus wird: Der verlorene Krieg wäre dann Ausdruck einer Ausstattung der Faschisten mit psychischen Gegebenheiten, die sich in einen natürlichen Selektionsprozess als minderwertig gezeigt haben und eigentlich ausselektiert werden müssten.
Wenn also die Gleichsetzung von Natur und Kultur nicht akzeptiert werden kann, muss ein anderes Kriterium als die Orientierung an der Durchschnittsnorm über die Gesundheit oder Krankheit psychischer Zustände entscheiden.
1.3 Die Definition von Krankheit als wertsetzender Akt
In bewusster Abgrenzung gegenüber Boorses Versuch, psychische Krankheit als objektivierbare Abweichung von einer arttypischen Norm zu definieren, betont Engelhardt den evaluativen Charakter der Krankheitsbegriffe.36
Engelhardt verweist auf die realitätsschaffende Wirkung der medizinischen Terminologie, die bestimmte Problemkonstellationen in ihre eigenen Begriffe übersetzt. Die medizinische Sprache verändere die vorgefundenen Probleme dabei insofern, als sie sie bewerte, mit standardisierten Konzepten beschreibe, mit bestimmten Erklärungsmodellen versehe und die soziale Realität der Kranken über die Rollenzuschreibung bestimme.37 Probleme, die mit medizinischer Terminologie erfasst und entsprechenden Therapieansätzen zugewiesen werden, seien dabei solche eines »Verfehlens« eines bestimmten Zustandes wie der Angst- oder Schmerzfreiheit, der menschlichen Form oder Anmut oder eines bestimmten Lebensziels.38 Um ein solches Problem überhaupt als medizinisches und nicht etwa als religiöses oder rechtliches zu definieren und zur Lösung an Ärzte und nicht Juristen oder Priester zu überweisen, sei ein bewertender Akt notwendig.39 Dieser orientiere sich zwar an Kriterien wie der Möglichkeit, den Zustand durch Aufbietung eigener Willenskraft direkt zu beeinflussen, oder an der Zuschreibbarkeit der Phänomene zu einer bestimmten Gruppe kausaler Erklärungen,40 sei aber in strittigen Fällen, wie z. B. der Alkoholabhängigkeit, eine Frage der Plausibilität und Nützlichkeit und damit einer diskussionsfähigen Wertentscheidung.41 Engelhardt nimmt dabei explizit Stellung gegenüber Boorses Ansatz, Krankheit »wertfrei« als Abweichung von einer arttypischen Norm feststellen zu wollen. Engelhardt verweist darauf, dass zur Feststellung einer Normabweichung die Norm selbst genau definiert sein müsse. Boorse vertrete ein eingeengtes Verständnis menschlicher Vollkommenheit, wenn er in einer an Platon erinnernden Sicht nach einer typischen Art und Weise suche, diese Vollkommenheit zu erreichen,42 und dies mit Gesundheit gleichsetze. Am Beispiel der Homosexualität und der Sichelzellenanämie versucht Engelhardt, Boorses Ansatz zu falsifizieren. Was die Homosexualität betreffe, die für Boorse eine Krankheit sei, so zeigten empirische Untersuchungen, wie der Kinsey-Report, dass homosexuelle Erfahrungen in der...