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Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Kindern
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Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie bei Kindern
About this book
Entsprechend dem Verlauf von analytischen und tiefenpsychologisch fundierten Kinderpsychotherapien wird die Arbeit des Kinderanalytikers geschildert von der Diagnose über die theoretischen Grundlagen bis zum analytischen Prozess. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Rahmen, Haltung und Beziehung, einschließlich eines kurzen Kapitels zur Elternarbeit. Fallbeispiele und Beispiele aus der Literatur veranschaulichen die wissenschaftlich fundierte Darstellung und machen das Buch auch für den Anfänger verständlich. Fragen und vertiefende Literaturhinweise regen zum weiteren Studium an.
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Information
1 Einleitung
Ein Vater bittet einen Psychoanalytiker um Hilfe, weil er sich Sorgen macht über das plötzlich veränderte Verhalten seines fünfjährigen Sohnes. Der fröhliche, aufgeweckte Junge zeigt sich immer wieder ängstlich, besonders abends, weint und traut sich nicht mehr aus dem Haus aus Angst, ein Pferd werde ihn beißen. Er ist also an einer Phobie erkrankt. Auslöser für diese Phobie war ein ihn zutiefst erschreckendes Erlebnis: Als er mit der Mutter unterwegs war, hat er gesehen, wie ein Pferd auf der Straße stürzte. Nach diesem äußeren Ereignis, das der Junge zufällig miterlebte, entwickelt sich bei ihm eine lärmende Symptomatik, die eine Psychotherapie erforderlich macht. Das Kind selbst steht unter einem starken Leidensdruck und wendet sich dem Analytiker mit großer Hoffnung und uneingeschränktem Vertrauen zu. Mit dieser positiven Übertragung kann der Analytiker arbeiten und schließlich den Jungen von seiner Phobie befreien. Er kann das Kind deshalb heilen, weil er dessen Symptomatik versteht als Ausdruck eines intrapsychischen Konflikts, der dem Jungen nicht bewusst ist und über den dieser daher auch nicht sprechen kann. Ein solcher intrapsychischer Konflikt – in diesem Fall ein ödipaler Konflikt – ist für die Neurose typisch, und der Analytiker kann ihn dem Kind bewusst machen, indem er ihm Worte dafür gibt. Und weil er die Mitarbeit der Eltern, besonders des Vaters, der ausreichend motiviert ist, nutzen kann, kann er auch dem Jungen bei der Lösung seines Konflikts helfen und in Überwindung des Ödipuskomplexes den Weg zu seiner altersgerechten Weiterentwicklung freimachen.
In dieser kleinen Fallvignette sind die wesentlichen Elemente der Kinderanalyse enthalten. Obwohl der Analytiker Sigmund Freud den »kleinen Hans«, wie er das Kind nennt, nur einmal kurz gesehen hat, gilt diese Fallgeschichte doch als Vorläufer der späteren Kinderanalyse, wie sie von Hermine Hug-Hellmuth und nach ihr vor allem von Melanie Klein und Anna Freud weiterentwickelt wurde. Freud selbst bezeichnet die »Heilungsgeschichte« des kleinen Hans als Analyse, was sie auch aus heutiger Sicht immer noch ist, auch wenn Kinderanalytiker heute ihre kleinen Patienten in einem anderen Setting behandeln, nämlich in der Regel zweimal wöchentlich mit begleitenden Elterngesprächen alle vierzehn Tage. Was sich gut an Freuds Krankengeschichte zeigen lässt, ist die Entstehung einer neurotischen Symptomatik (Pathogenese), ihre Ursache (Ätiologie) und schließlich ihre Auflösung durch Bewusstmachen der Ursache. So hat Freud sie verstanden und dargestellt in seiner Arbeit »Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben« von 1909. Darüber hinaus lässt sich auch die positive Auswirkung einer der Heilung förderlichen Übertragungsbeziehung, eines für die Therapie unerlässlichen Arbeitsbündnisses mit den Eltern und einer die kindliche Entwicklung unterstützenden Triangulierung in dieser Kranken- und Heilungsgeschichte aufzeigen, obwohl Freud die Übertragung erst drei Jahre später entdeckte (Freud 1912) und die Triangulierung erst Jahrzehnte nach dieser Analyse durch Abelin Eingang in die psychoanalytische Diskussion im deutschen Raum fand (Abelin 1986), nachdem Lacan die Bedeutung des Vaters als dem Dritten im frühkindlichen Beziehungsdreieck herausgestellt hatte (Hopf 2014). Und schließlich können wir beim »kleinen Hans« in seinen Träumen, Phantasien und Spielen entdecken, wie gut neurotisch erkrankte Kinder symbolisieren und damit einen Ausdruck für ihre seelische Not finden können, im Unterschied zu Kindern mit ich-strukturellen Defiziten, denen diese Fähigkeit nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung steht. So ist seine Geschichte auch ein Vorläufer für unser heutiges Verständnis der Bedeutung von Symbolisierung, wie sie Hanna Segal 1957 beschrieben hat (Segal 1990).
Ich möchte nun versuchen darzustellen, wie wir heute, mehr als 100 Jahre nach dieser ersten Kinderanalyse, Freuds revolutionäre Entdeckung des Unbewussten und dessen Wirksamkeit im Seelenleben nutzen, um Kindern mit seelischen Nöten zu helfen. Dabei lassen sich gelegentliche Vereinfachungen nicht vermeiden. Kopernikus hatte die Erde aus dem Mittelpunkt des Universums gerückt, Darwin dem Menschen seine Sonderrolle in der Evolution genommen, und Freud hat der Menschheit eine dritte Kränkung zugefügt: das Ich des Menschen ist nun nicht einmal mehr »Herr im eigenen Hause« (Freud 1917, S. 11). Auch wenn ihm diese Erkenntnis viel Anfeindung einbrachte, so hat sie doch unser Verständnis vom Seelenleben enorm erweitert und durch die Einbeziehung des Unbewussten unsere Hilfsmöglichkeiten auch für seelisch erkrankte Kinder vergrößert. Der aktuelle Stand der von Freud ausgehenden Kinderpsychoanalyse, einschließlich ihrer modifizierten Verfahren soll Gegenstand dieses Buches sein. Dabei gibt es keine scharfe Trennungslinie zwischen Analyse und Therapie, da analytisch ausgebildete und praktizierende Therapeuten immer Analytiker bleiben, »auch in modifizierten Verfahren, in denen man sich als Analytiker ebenfalls von den Besonderheiten und Problemen seines jeweiligen Patienten leiten lässt« (Zwiebel 2013, S. 271). Da es eine ausgezeichnete, aktuelle, Theorie und Praxis umfassend darstellende Übersicht über tiefenpsychologisch fundierte Therapie mit Kindern und Jugendlichen von Arne Burchartz gibt (Burchartz 2015), werde ich dieses Thema hier nur anreißen, ebenso die Elternarbeit, weil hierzu ein eigener Band in dieser Reihe erscheinen wird.
Im Verlauf meiner Darstellung werden analysespezifische Begriffe von Anfang an immer wieder auftauchen. Das liegt im Wesen der Analyse, die aus einem komplexen Zusammenspiel in einem fluktuierenden Prozess besteht. So bleiben Überschneidungen und Wiederholungen nicht aus, denn jede Trennung und Schematisierung wäre künstlich und würde den lebendigen Entwicklungen nicht gerecht. Ich hebe die Fachtermini durch Kursivschreibung hervor, werde sie aber erst nach und nach, jeweils im Zusammenhang ihrer größten Relevanz, erläutern, um den Anfang nicht mit einer Ballung theoretischer Definitionen zu überfrachten. Der interessierte Leser kann aber jederzeit die Definitionen der wichtigsten Begriffe im Glossar am Ende dieses Bandes nachlesen.
2 Anamnese und psychologische Untersuchung
Wenn Eltern sich Sorgen machen, weil ihr Kind Auffälligkeiten zeigt, die auf eine Störung in seiner seelischen Entwicklung hinweisen, kommen sie mit ihm zum Kinderanalytiker. Dieser lernt die Familie kennen und macht sich ein Bild. Er beginnt also immer mit einer sorgfältigen Diagnostik. Die Eltern benennen das, was ihnen problematisch erscheint, und er lässt sich von ihnen schildern, wann die Symptomatik aufgetreten ist und wie sie sich bis jetzt entwickelt hat. Darüber hinaus interessiert er sich für die bisherige Lebensgeschichte des Kindes (seine Genese) und die der Eltern, auch im Zusammenhang mit der Familiengeschichte. So erhält er Informationen über Beziehungserfahrungen, Belastungen und Bewältigungsstrategien, Störungen und Ressourcen. Er weiß aufgrund seiner Ausbildung, dass ein Kind immer im Beziehungsgefüge der Familie zu sehen ist und dass es viel dafür tut, ein intrafamiliäres Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, unter Umständen dafür sogar Symptome entwickelt. Wenn es sich um ein pathologisches Gleichgewicht handelt, sorgt der Indexpatient, also der Symptomträger, der als behandlungsbedürftig vorgestellt wird, mit der Entwicklung seiner Symptomatik dafür, dass die übrigen Familienmitglieder bleiben können, wie sie sind. Gleichzeitig veranlasst er durch seine störende Symptomatik, dass die Familie sich Hilfe sucht. In diesem Fall ist das auffällige Kind das gesündeste Familienmitglied, weil es die Eltern veranlasst, etwas zu verändern, auch wenn ihnen zu dem Zeitpunkt meist noch nicht klar ist, dass auch sie selbst sich verändern müssen.
2.1 Das »Hören mit dem dritten Ohr«
Während der Analytiker den Eltern zuhört, nimmt er nicht nur die von ihnen berichteten Daten und Fakten auf, sondern er achtet auch auf sein eigenes Erleben im Kontakt mit ihnen. Das kann sehr unterschiedlich sein. Manchmal ergibt sich ein geordnetes Bild, und es fällt leicht, die Mitteilungen aufzunehmen in einer Gestimmtheit wohlwollender Aufmerksamkeit. Bei anderen Eltern fällt es schwer, sich eine klare Vorstellung von den geschilderten Ereignissen zu machen, man gerät unter Druck oder in Verwirrung und hat womöglich große Mühe, das Gespräch nach den dafür vorgesehenen 50 Minuten zu beenden. Das, was der Analytiker beim Zuhören fühlt, umfasst auch Körperreaktionen, Phantasien, Fehlleistungen wie Versprechen, Vergessen, Überhören, etc. und wird unter dem Begriff Gegenübertragung zusammengefasst. Diese Reaktion hat immer mit dem zu tun, was unter oder hinter den Worten des Gegenübers mitschwingt. Während seiner langen und fundierten Ausbildung, die nicht nur Theorie und Praxis, sondern auch Selbsterfahrung in einer eigenen Psychoanalyse, der sogenannten Lehranalyse, umfasst, hat der Analytiker gelernt, in einer Haltung der gleichschwebenden Aufmerksamkeit auf seine spezifischen Reaktionen im Kontakt zu achten, weil gerade sie auf unbewusste Komponenten in der Persönlichkeit des Gegenübers hinweisen, die die Familienatmosphäre oft nachhaltiger prägen als die bewussten. So kann es z. B. sein, dass Eltern sich beklagen über das schwierige Verhalten ihres Kindes und der Analytiker beim Zuhören plötzlich eine gewisse Kurzatmigkeit bei sich bemerkt, die er sonst von sich nicht kennt. Und erst dann, nachdem er nach weiteren Symptomen gefragt hat, erfährt er von asthmatischen Beschwerden des Kindes. Hier hat er über seine eigene Körperreaktion etwas erfahren von einer atemabschnürenden Familienatmosphäre und der Befindlichkeit des Kindes in ihr.
Von Anfang an nutzt der Analytiker also seine Gegenübertragung, um nicht nur bewusste, sondern auch unbewusste Mitteilungen aufzunehmen. Dabei muss er unterscheiden zwischen dem, was er selbst zur Gesprächsatmosphäre beiträgt (seiner eigenen Übertragung in Form unbewusster Wahrnehmungs- und Erlebensmuster) und seiner Reaktion auf das, was vom Gegenüber ausgeht. Gerade hierfür ist seine eigene Analyse unerlässlich, damit nicht eigene neurotische Konflikte das Muster des Patienten verfälschen. Diese Unterscheidung gelingt nie ganz, es bleibt immer eine gewisse unaufgeklärte Verflechtung der beiden Psychen bestehen, da kein Analytiker sozusagen restlos durchanalysiert ist, sondern immer auch vom eigenen Unbewussten bestimmt wird. Dennoch können wir in der Reflexion unserer Gegenübertragung diese diagnostisch nutzen als Hinweis auf das Erleben und die unbewussten Strukturen unserer Patienten. (Ich werde auf dieses komplexe Thema bei der Schilderung des analytischen Prozesses zurückkommen, da das Zusammenspiel von Übertragung und Gegenübertragung ein wesentliches Element der analytischen Arbeit darstellt.)
Dabei gehen wir von Freuds bahnbrechender Entdeckung der Wirkmächtigkeit des Unbewussten aus. Freud schreibt: »Es ist sehr bemerkenswert, dass das Ubw (Freuds Kürzel für das Unbewusste, A. W.) eines Menschen mit Umgehung des Bw (sein Kürzel für das Bewusste, A. W.) auf das Ubw eines anderen reagieren kann« (Freud 1915, S. 293). Ein eindrückliches Beispiel für eine solche Kommunikation von Unbewusst zu Unbewusst, wie sie auch außerhalb der analytischen Situation immer wieder zu finden ist, schildert Katherine Jones in einer kurzen Mitteilung in der Internationalen Zeitschrift für Psychoanalyse von 1923:
»In dem dritten Band von Bismarcks ›Gedanken und Erinnerungen‹ findet sich in dem Kapitel ›Caprivi‹ ein interessanter Affekt, der von der Person Caprivis, dem Bismarck jeden Vorwurf erspart, auf ein Symbol projiziert wird. Als Bismarck auf seine Entlassung durch den Kaiser und auf seinen Nachfolger zu sprechen kommt, tut er dies mit einer bemerkenswerten Selbstbeherrschung und ohne sichtliche Erregung. Er hebt hervor, dass Caprivi ernste Bedenken gegen die Übernahme des Kanzlerpostens geltend gemacht hat, preist seine Fähigkeiten, und die Kritik Bismarcks hält sich durchaus in den Grenzen der Gerechtigkeit. Er lässt sogar für Caprivi die Entschuldigung einer harten Jugend… als genügenden Grund gelten, den Kanzlerposten als ›eine ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals‹ anzunehmen. Um so mehr muss es uns überraschen, wenn in einer Fußnote eine Menge von Affekt an eine scheinbar unbedeutende und durchaus nicht zur Politik gehörende Sache verschwendet wird. Bismarck sagt nämlich: ›Ich kann nicht leugnen, dass mein Vertrauen in den Charakter meines Nachfolgers einen Stoß erlitten hat, seit ich erfahren habe, dass er die uralten Bäume vor der Gartenseite seiner, früher meiner, Wohnung hat abhauen lassen, welche eine erst in Jahrhunderten zu regenerierende, also unersetzbare Zierde der amtlichen Reichsgrundstücke in der Residenz bildeten. Kaiser Wilhelm I., der in dem Reichskanzlergarten glückliche Jugendtage verlebt hatte, wird im Grabe keine Ruhe haben, wenn er weiß, dass sein früherer Gardeoffizier alte Lieblingsbäume, die ihresgleichen in Berlin und Umgebung nicht hatten, hat niederhauen lassen, um un poco più di luce zu gewinnen… Ich würde Herrn Caprivi manche politische Meinungsverschiedenheit eher nachsehen als die ruchlose Zerstörung uralter Bäume, denen gegenüber er das Recht des Nießbrauchs eines Staatsgrundstückes durch Detoriation desselben missbraucht hat.‹ Die Identifizierung des Schreibers mit den ›ruchlos zerstörten alten Bäumen‹ liegt auf der Hand. Die alten Bäume mögen Caprivi ebenso im Wege gestanden sein wie kurze Zeit vorher der alte Kanzler, der ihm so lange ›im Licht‹ gestanden war. Es ist ein weiterer Punkt von Interesse, dass Bismarck das Gedächtnis des Vaters, Kaiser Wilhelm I., anruft, der ›keine Ruhe im Grabe hätte‹, wenn er das wüsste. Es ist als ob er sagen wollte, dass der Vater ihm seine ›Bäume‹ belassen habe, doch dass sein Sohn durch die Hand seines Nachfolgers die symbolische Kastration in ruchloser Weise ausgeführt habe. Caprivi, nachdem er Bismarck ›abgesägt‹ hatte, schreitet nun auch zu dem tatsächlichen Absägen der alten Bäume. Man sieht, mit welcher in...
Table of contents
- Deckblatt
- Titelseite
- Impressum
- Inhalt
- 1 Einleitung
- 2 Anamnese und psychologische Untersuchung
- 3 Exkurs zum Ödipuskomplex
- 4 Entwicklung und Neurosenlehre
- 5 Psychoanalytische Schlussbildung
- 6 Beginn
- 7 Rahmen
- 8 Haltung
- 9 Exkurs zur Symbolisierung
- 10 Spiel
- 11 Beziehung
- 12 Prozess
- 13 Beendigung
- 14 Modifizierte Verfahren
- 15 Arbeit mit Bezugspersonen
- Glossar
- Literatur
- Stichwortverzeichnis