A Die Musikwirtschaft als wirtschaftlicher Sektor
(Martin Lücke)
1 Die Musikwirtschaft
1.1 Einführung
Niemals zuvor gab es so viel Musik zu hören, zu erleben, zu kaufen und zu beschaffen, wenn auch nicht immer auf ganz legalen Wegen. Die zahlreichen neu am Markt aufkommenden Cloud- und Streamingservices machen es nun jedem möglich, das lizenzierte Weltrepertoire mit seinen rund 30 Millionen Titeln überall zu (fast) jedem Zeitpunkt abzuspielen – eine leistungsstarke Verbindung zum Internet vorausgesetzt. Egal ob im Auto, im Zug, auf der Straße, auf dem Crosstrainer im Fitnessstudio, zu Hause im Wohnzimmer oder auf dem Balkon, mit CD, Vinylschallplatte, YouTube oder MP3-Player: Der Musikkonsum gehört für die meisten Menschen zum täglichen Leben dazu, sowohl aktiv als auch passiv. Ein flüchtiger Blick auf die Straßen der Welt zeigt, dass Musik ihr ständiger Begleiter ist und der Kopfhörer von iPod, iPhone und Co. vor allem für viele Jugendliche als modisches Accessoire zum Ausdruck ihres individuellen Lebensgefühls schlicht dazugehört. Michael Bull drückt diese sichtbare Veränderung folgendermaßen aus: „The experience of waiting is generally transformed through the use of mobile technologies. iPod users, for example, are conscious of the slightest gap in listening, using their iPods to potentially fill every second.“1
Musik bereitet den meisten Menschen Freude, verstärkt Stimmungen, löst Emotionen aus und ist für viele immer noch ein ganz persönlicher Ausdruck von Geschmack und Lebensstil. Über Musik grenzen sich soziale Gruppen voneinander ab oder formieren sich neu. Zu Musik kann getanzt, gelacht oder diskutiert werden. Vom morgendlichen Erwachen bis zum allabendlichen Einschlafen ist sie unser permanenter Begleiter. Für jeden von uns bildet Musik einen nicht endenden Soundtrack unseres alltäglichen Lebens.
Die Welt der Musik(-produzierenden) könnte so schön sein, wenn sich die global agierende Musikindustrie nicht seit inzwischen 15 Jahren in ihrer wahrscheinlich schwersten ökonomischen Krise befinden würde2 – und noch kann niemand mit Sicherheit absehen, wann (und ob) diese beendet werden kann, auch wenn der IFPI, der Interessenverband der Tonträgerindustrie zu Beginn des Jahres 2013 eine zarte Hoffnung auf einen globalen Umschwung (plus 0,3 Prozent Umsatz) andeutete. Denn Musik ist neben aller künstlerischer Kreativität und oft auch Virtuosität vor allem ein wirtschaftliches Gut. Wir alle wollen Musik über die Vielfalt der Medien hören oder live erleben, aber Künstler und Urheber möchten und müssen gleichzeitig von ihrer erschaffenen kreativen Leistung, ihrer Kunst leben können. Jedoch haben es die technischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ermöglicht, dass das weltweit vorhandene Repertoire theoretisch überall (und zu einem großen Teil immer noch illegal) kostenlos besorgt werden kann. Zahlreiche Künstler und große Teile der hinter ihnen stehenden, traditionellen Musikwirtschaft erwirtschaften dadurch immer weniger Umsatz – und von Gewinn kann vielfach keine Rede mehr sein. Neue, oft branchenfremde Player, erobern hingegen den Musikmarkt durch zum Teil innovative Geschäftsmodelle und wälzen dadurch die jahrzehntelang gewachsenen Strukturen des gesamten Wirtschaftsbereiches radikal um. Alles scheint möglich. Aber wie sieht eigentlich die Ausgangslage heute aus, Anfang 2013?
1.2 Ausgangssituation 2012/2013
Von Beginn ihres Bestehens an hat sich die Musikwirtschaft gewandelt, nicht nur aufgrund der zahlreichen technologischen Entwicklungen und der daraus resultierenden Veränderungen ihrer Geschäftsmodelle (vgl. in Teil B Kapitel 2), sondern auch in Hinblick auf die verschiedenen, immer wieder neu entstehenden musikalischen Genres. Letztlich kann der Blick auf die aktuelle Situation der Musikwirtschaft nur ein Schnappschuss sein, denn bereits morgen können einige der hier genannten Aspekte schon wieder obsolet sein. Das ist die Besonderheit dieses sich im Umbruch befindlichen Medienmarkts, aber auch das Problem bei der Erstellung dieses Buches:
► Nachdem der traditionelle Branchentreff Popkomm 2004 aus dem rheinischen Köln nach Berlin übergesiedelt ist, dort aber trotz vieler Versuche nie richtig angekommen zu sein schien, war das Jahr 2012 ein weiteres Jahr ohne Popkomm – möglicherweise auch für immer, denn ob sie 2013 stattfinden wird, stand bei Redaktionsschluss dieses Buches noch nicht fest. Die Frage bleibt, ob der Wegfall der Popkomm eine Lücke hinterlässt, denn inzwischen haben sowohl der Hamburger Reeperbahn Festival Campus im September als auch die C’n’B Convention im Juni in Köln der Berliner Konkurrenzveranstaltung den Rang abgelaufen (vgl. Kapitel 6.2.4).
► Aus vier mach drei: Universal Music übernahm, nachdem alle Kontrollgremien und Kartellwächter dem Deal Ende September 2012 nach monatelangen Diskussionen und Verhandlungen zugestimmt hatten, die Tonträgersparte EMI Music der traditionsreichen EMI Group für 1,9 Mrd. US-Dollar.3 Damit baut der seit einigen Jahren uneingeschränkte Marktführer Universal Music seine Vormachtstellung im Tonträgersegment gegenüber der Konkurrenz massiv aus – obwohl das Unternehmen im Vorfeld einige Labels und Verlagskataloge verkaufen musste.4 Dabei wird EMI auch in Deutschland größtenteils in seine Einzelteile zerschlagen, in Köln wird nur noch ein einziges Label (Rhingtön) zurückbleiben, die restlichen – Capitol, Blue Note...