Wie das Gehirn "Wirklichkeit" konstruiert
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Wie das Gehirn "Wirklichkeit" konstruiert

Zur Neuropsychologie des realistischen, fiktionalen und metaphysischen Denkens

Rainer Bösel

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Wie das Gehirn "Wirklichkeit" konstruiert

Zur Neuropsychologie des realistischen, fiktionalen und metaphysischen Denkens

Rainer Bösel

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Wie entscheidet das Gehirn zwischen Realität und Fiktion? Anhand von experimentellen Befunden zeigt dieser Band, wie einzelne Regionen des Stirnhirns bei der Fantasieproduktion, bei der Beurteilung des Realitätsgehalts und bei spekulativen Weiterführungen des unmittelbar Wahrgenommenen aktiv werden. So wird erkennbar, dass das Stirnhirn nicht nur an intellektuellen und sozio-emotionalen Funktionen beteiligt ist, sondern auch eine deutende Funktion besitzt. Diese erlaubt es, Erwartungen aufzubauen, in den Kategorien "Als-ob" und "Was-wäre-wenn" zu denken, sowie metaphysische Extrapolationen vorzunehmen. Auswahl und Zusammenstellung der Befunde können einmal mehr deutlich machen, wo sich neuropsychologische und philosophische Fragen berühren.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2016
ISBN
9783170302679
Edition
1

1

Hinter der Stirn

Anschein und Wirklichkeit

In vielen Kunstprodukten, vor allem in der Literatur, auf der Bühne, auf Bildern oder im Film, werden Teile einer besonderen Welt wiedergegeben, die zumindest eine gewisse Ähnlichkeit mit der realen Welt besitzen oder sogar versuchen, bestimmte Aspekte der realen Welt zu verwenden. Dennoch haben Kunstprodukte große Anteile von Erfundenem. Sie sind zwar selbst real, und ihr Thema mag einen realen Hintergrund besitzen, wie das zum Beispiel bei historischen Berichten der Fall ist. Dennoch stellt jede Übertragung von Realität in ein Kunstprodukt eine Entfernung von der dargestellten Realität dar und ist insofern Fiktion. Dies gilt selbstverständlich auch dann, wenn ein Filmset sorgfältig nachgebaut oder mit dem Computer nachkonstruiert wurde und durch handelnde Personen lebensecht gestaltet wurde.
Fiktionen lassen sich von realitätsbeschreibenden Berichten nicht immer unterscheiden. Manchmal ist die mangelnde Übereinstimmung mit den Erfahrungen, die man von Realität besitzt, sehr augenfällig, etwa wenn im Bericht Tiere zu sprechen beginnen. Oft wird bei fiktionalen Kunstprodukten der Anspruch auf genaue Realitätsbeschreibung gar nicht erst erhoben. Fiktionen können jedoch sehr anschaulich sein und unter Umständen sogar pädagogische Zwecke erfüllen. Dieser doch recht erstaunliche Effekt muss eng mit den Mechanismen zusammenhängen, mit denen unser Gehirn arbeitet. Dabei muss man sehen, dass es offenbar eine subjektive »Wirklichkeit« gibt, in der die Wirkungen einzelner Handlungskomponenten vorstellbar sind, auch wenn die die Erreichung eines Ziels ungewiss ist. Diese ist von einer intersubjektiven Wirklichkeit zu unterscheiden, der viele Menschen vertrauen.
Unser Gehirn muss die Eindrücke von der Wirklichkeit in jedem Augenblick neu ordnen. Also muss in der Art, wie das Gehirn die Welt konstruiert, auch der Schlüssel dazu zu finden sein, wodurch sich Fiktion von Realität unterscheidet und unter welchen Umständen Urteile als wirklichkeitsbeschreibend gelten dürfen. Um zu verstehen, wie sich das Gehirn die Welt konstruiert, wollen wir zunächst davon ausgehen, dass das Gehirn im Grunde nicht allzu viel von der Welt verstehen kann. Es besteht aus Nervennetzwerken, die nur wenig über die Wirklichkeit wissen und hauptsächlich Informationen hin- und herschieben. Dabei kann es durchaus zu Fehldeutungen kommen, wie es die bekannten optischen Illusionen demonstrieren.
Eine dieser optischen Illusionen ist das sogenannte Farb-Phi-Phänomen. Dieses wurde schon früh zum Anlass genommen, über die Mechanismen des Bewusstseins bei der Deutung von Wahrgenommenem nachzudenken (Dennett 1991). Zwei Lichtpunkte, die abwechselnd aufleuchten, können unter bestimmten Bedingungen den Eindruck erzeugen, dass es sich um einen einzigen Lichtpunkt handelt, der hin- und herspringt. Diesen Effekt bezeichnet man als Phi-Phänomen. Schon vor über hundert Jahren wurde die Vermutung geäußert, dass das Phi-Phänomen auf die Trägheit der verarbeitenden Nervenzellen beim An- und Abklingen der Erregung in benachbarten Netzhautstellen zurückzuführen ist (Wertheimer 1912). Später entdeckte man jedoch einen noch verblüffenderen Effekt, in dem man eine rote und eine grüne Lichtquelle verwendete, die abwechselnd aufleuchteten. In diesem Fall entsteht der Anschein, dass ein Lichtpunkt grün gefärbt abspringt und rot gefärbt landet, was sich anschließend umkehrt. Überraschenderweise wird als Ort des Farbwechsels nicht einer der beiden leuchtenden Punkte, sondern ein Ort dazwischen angegeben, der dunkel geblieben ist und an dem objektiv überhaupt nichts geschah (Kolers & Grünau 1976). Der fiktive Ort des Farbwechsels stellt einen real nicht existierenden »Erwartungswert« dar. Offenbar spielt bei dieser verblüffenden Illusion ebenfalls die Trägheit der Netzwerkverarbeitung eine Rolle. Die Analyse der Farben ist nämlich gegenüber der biologisch weitaus wichtigeren Bewegungserkennung ein besonders aufwendiger Vorgang. Ist jedoch Bewegung und Farbe gleichermaßen bedeutsam, entsteht offenbar ein Problem bei der Rückrechnung und Zuordnung von Beobachtungszeitpunkten. Das hat zwar nicht direkt mit Bewusstheit zu tun, lässt jedoch eine wichtige Eigenschaft der Bewusstwerdung erkennen. Wir werden das später im Zusammenhang mit »Zeit und Kausalität« näher betrachten. Jenseits solcher Ungenauigkeiten ist es dennoch erstaunlich, was das Gehirn innerhalb kürzester Zeit alles zu leisten vermag.
Das Wissen, dass das Gehirn mit dem Verhalten von Menschen zu tun hat, war schon seit der Antike bekannt. Der im heutigen Kalabrien tätig gewesene Arzt Alkmaion hat, wie aus verschiedenen Quellen überliefert worden ist, um 500 v. Chr. erstmalig öffentlich die Ansicht vertreten, dass die Gehirntätigkeit für den Verstand verantwortlich wäre. Dieser Ansicht schlossen sich sehr bald auch die Verfasser der dem Arzt Hippokrates zugeschriebenen Schriften und der Physiker Demokritos an (Aetios IV, 5, 1; vgl. Capelle 1968, S. 427). Wenig später konnte der römische Gladiatorenarzt Galenus in Pergamon Verhaltensänderungen als direkte Folgen von Hirnverletzungen beobachten.
1845 schrieb Wilhelm Griesinger in Tübingen ein vielbeachtetes psychiatrisches Lehrbuch, in dem er von der Maxime ausging, dass Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten wären. Wenig später dominierte jedoch Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie die Diskussion über geistige Fähigkeiten. Darwins Cousin Francis Galton diskutierte bereits ab 1859 die Frage der Vererbung geistiger Eigenschaften. In Verbindung mit Darwins Evolutionstheorie führte diese Diskussion jedoch in die Sackgasse des Sozialdarwinismus.
Etwa an der Wende zum 20. Jahrhundert begann man, systematisch an Tieren zu forschen, um mehr über den spezifisch menschlichen Geist zu erkunden. Die dabei gewonnen Erkenntnisse prägen seither unser Verständnis vom menschlichen Denken. Für unseren Ansatz ist ein Befund des Neuroanatomen Korbinian Brodmann (1868–1918) besonders bedeutsam: Bei Menschen ist nämlich das Stirnhirn etwa dreimal so groß ist wie bei Schimpansen, wenn man die rein motorischen Anteile ausklammert. Die Funktionen des Stirnhirns scheinen also für spezifisch menschliche Eigenschaften besonders bedeutsam zu sein. Später kamen Forscher wie Konrad Lorenz (1903–1989) und Burrhus Frederic Skinner (1904–1990) trotz höchst unterschiedlicher Forschungsansätze in einem anderen Punkt zu einem ebenfalls höchst wichtigen Ergebnis: Es ist das ungleich höhere Lernvermögen gegenüber Tieren, das beim Menschen so enorme Kulturleistungen ermöglicht.1
Heute müssen wir davon ausgehen, dass die Fähigkeit, die Welt immer wieder neu zu konstruieren, darauf beruht, dass beim Lernen ständig kleine Veränderungen in der neuronalen Informationsverarbeitung stattfinden. Durch Stoffwechselprozesse, Verletzungen oder Lernen werden, formal betrachtet, in den Netzwerken Gewichtsfaktoren verändert. Dadurch werden assoziative Verknüpfungen entweder enger oder schwächer. Das Wesen von Netzwerken besteht ja darin, dass jede einzelne Einheit einerseits viele Nachbareinheiten beeinflusst und andererseits durch viele Nachbareinheiten beeinflusst wird. Dadurch steht die einzelne Aktivität stets im Verhältnis zur Aktivität der Umgebung, und es kann durch die Wechselwirkung zu einer relativen Verstärkung oder Abschwächung von Einzelaktivitäten kommen. So entstehen zum Beispiel Effekte der Kontrastbildung. Das geschieht vor allem, wenn Farbflächen aneinanderstoßen. Oder es kommt zum Effekt des Referenzierens, den wir im Kapitel 5 Vergleichen und Analogien bilden noch ausführlich behandeln werden. Durch das Referenzieren erzielen Reize relativ zu ihrer Umgebung einen besonderen Effekt. Reichen jedoch solche Prozesse schon dafür aus, dass plötzlich eine neue Perspektive oder sogar ein neues Weltbild entsteht, ein Selbstbild kippt oder sich eine ganze Persönlichkeit verändert? Sicherlich nicht.

Das Gehirn als deutende Instanz

Prozesse der Kontrastabschwächung oder der Kontrastüberhöhung kennen wir hauptsächlich von den der Wahrnehmung dienenden Netzwerken. Ohne Zweifel gelten solche Gesetze jedoch auch in Netzwerken der höheren Informationsverarbeitung. Stets wird es sich allerdings in den Fällen, die mit dem Modell einer Kontrastwirkung beschrieben werden können, um lokale Effekte handeln, also um Veränderungen, die jeweils nur kleine Teile der informationsverarbeitenden Struktur betreffen.
Dennoch können unter bestimmten Umständen bereits kleinere Veränderungen in den Verarbeitungsgewichten zu einer größeren Verschiebung in der Bewertung von bedeutsamen Sachverhalten beitragen. Dies trifft vor allem dann zu, wenn Gewichte in den »kognitiven« Aufmerksamkeitsarealen verschoben werden oder wenn Netzwerkteile betroffen sind, die man als »emotionale« Bewertungsareale ansehen muss. Alle diese Areale liegen im Stirnhirn. Warum ist das Stirnhirn so verletzungs- und lernsensitiv? Welche Bedeutung haben Aufmerksamkeits- oder Bewertungssysteme? Diese und andere Fragen, zum Beispiel zur Verortung von Geist, Fantasie und nicht-zielgerichteter Zuversicht werden uns im Folgenden beschäftigen.
Den Bauplan des Gehirns kann man wohl am besten verstehen, wenn man sich die Funktionen der zwei großen, parallelen Verarbeitungswege vergegenwärtigt, die das Gehirn durchziehen: Ein oben gelegener Verarbeitungsweg verarbeitet Reizinformationen und die damit verbundenen Bewegungsimpulse (»wo« bzw. »wohin«). In diesem Weg ist auch die Steuerung der Skelettmuskulatur eingebunden. Ein seitlich und basal gelegener Verarbeitungsweg berücksichtigt körperinnere Prozesse in Verbindung mit möglicherweise vital bedeutsamen Reizen, z. B. von Farben oder Gerüchen (»was«). Daraus resultiert letztlich eine Revision vorhandener Bewegungsimpulse in Form von Verstärkung, Hemmung oder Umleitung). Faktoren, die zu einer Verhaltensveränderung führen, bestehen daher in erster Linie aus der Energetisierung von Zu- oder Abwendungsreaktionen, aber auch aus einer Spiegelung von Verhaltensweisen anderer Personen, sowie aus dem Abruf von Informationen aus dem Langzeitgedächtnis und dessen Aktualisierung. Zahlreiche Leistungen des Gehirns entspringen den Funktionen von mehr oder weniger senkrecht verlaufenden Verbindungen, die diese beiden Verarbeitungspfade verknüpfen. Solche Verbindungen existieren auch im Stirnhirn, wobei in diesem Zusammenhang vor allem die mittlere und die untere Stirnhirnwindung beachtenswert erscheint. Das Stirnhirn unterstützt unter anderem Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsprozesse.
Lernen, Aufmerksamkeit-Zuwenden und Bewerten sind zwar elementare Prozesse. Wir werden darüber hinaus sehen, dass in den dafür verantwortlichen Systemen die Fähigkeit ihren Ursprung nimmt, Gedanken zu entwickeln, die hypothetischen, unrealistischen oder auch schöpferischen Charakter besitzen. In erster Näherung hat es zwar den Anschein, als wäre das Verständnis für Realität und Fiktion an den Wahrnehmungsapparat gebunden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Rolle der Wahrnehmung in der Lebenswirklichkeit von Organismen stets im Dienste der Orientierung von Handlung steht. Selbst einfachste Organismen verfügen über ein Repertoire von Verhaltensweisen, die dem Überleben dienen. Einige dieser Verhaltensweisen benötigen, sofern sie zielorientiert sind, eine Steuerung oder Kontrolle durch bestimmte Reize. Hierbei spielen die Sinnesorgane und eine entsprechende datenverarbeitende Wahrnehmung eine zentrale Rolle. Reize müssen jedoch vor allem in Bezug auf ihre Bedeutung für das Handeln gedeutet werden. Damit tritt eine weitere Fähigkeit in den Vordergrund, für die die Hirnmechanismen die Voraussetzung liefern müssen: die Fähigkeit zu deuten.
Manchmal ist die Handlungsbeeinflussung durch die Wahrnehmung ganz elementar. Nehmen wir ein gut untersuchtes Beispiel aus der einfachen Welt einer Kröte. Ein kleiner schwarzer Fleck, der in der Wahrnehmungswelt plötzlich auftaucht, könnte ein Beutetier sein. Die Kröte wendet sich diesem Fleck zu, um in der Folge genauere Informationen über die Verwertbarkeit dieses Objektes zu erhalten. Taucht jedoch in der Umwelt der Kröte ein großer schwarzer Fleck auf, so könnte es sich um eine mechanische oder biologische Bedrohung handeln, etwa durch ein feindliches Tier. Die Kröte wendet sich ab und sucht unter Umständen sogar das Weite. Die Größe von Objekten sowie auch das Größer- oder Kleinerwerden von Objekten sind Eigenschaften, die leicht zu erkennen sind. Sie erzielen sogar beim Menschen manchmal ähnliche Wirkungen wie eben beschrieben und tragen leicht zu Täuschungen bei. So wirkt ein schnelles Größerwerden leicht als Annäherung und mitunter sogar als Bedrohung. Derartige Effekte finden häufig in Filmen Verwendung.
In der komplexen Welt von Menschen muss die Wahrnehmung jedoch noch um ein Vielfaches mehr leisten: Innerhalb von wenigen Millisekunden erkennen wir bekannte Gesichter, und nur wenig länger brauchen wir, um die Intentionen von Handlungen anderer an Mimik oder Gestik abzulesen und vorherzusehen. Hierbei sind wir pfiffiger als Schimpansen, und dabei hilft uns das hochentwickelte Stirnhirn. Solche Befunde liefern Argumente für Vertreter der hermeneutischen Philosophie. Zwar konzentriert sich die Hermeneutik meist auf die Interpretation schwer zu verstehender Texte. Vielfach wird jedoch argumentiert, dass man sich bei jeder Art von Deutung auf die Gesamtheit der Assoziationen verlassen muss, die das Gedächtnis liefert, also auch auf ungewöhnliche. Und hierbei ist auch Fantasie gefragt. Letztlich müsse und könne eine Passung mit angeborenen oder bisher erworbenen Gestalten oder Schemata hergestellt werden. So erst ließen sich dann bestimmte Zusammenhänge ihrem Wesen nach durchschauen. Allerdings ist festzustellen, dass die Informationsverarbeitungsprozesse im Gehirn komplizierter sind, als sie einem solchen Erkenntnismodell zugrunde liegen. Dieser Komplexität wollen wir im Folgenden in kleinen Schritten nähertreten. Ein wichtiger Punkt wird sein, dass wir zwischen automatisch erfolgenden Deutungen, bewusst vorgenommenen, individuellen Erklärungen und kollektiven, regelgeleiteten Interpretationen unterscheiden werden.
Machen wir uns klar, dass bereits einfache Sinneswahrnehmungen keineswegs das Abbild einer Realität darstellen, sondern selbst bereits mentale Konstruktionen sind. Das gilt sogar für elementare Wahrnehmungen, die den eigenen Körper betreffen. Ein Beispiel dafür sind Phantomschmerzen, ein anderes liefert ein Experiment mit einer Gummihand. Legen Sie ihre rechte Hand vor sich auf den Tisch. Dann schieben Sie einen Gegenstand so vor ihren Körper, dass Sie diese Hand nicht mehr sehen. Hierauf platzieren Sie symmetrisch zu Ihrer rechten Hand einen Gummihandschuh, sodass er so liegt, wie wenn Sie auch Ihre linke Hand auf dem Tisch hätten. Nun soll eine andere Person beide »Hände« mehrmals gleichzeitig antippen, also Ihre rechte Hand und die Gummihand. Alsbald wird unter diesen Bedingungen das Gefühl einer Berührung auch dann auftreten, wenn nur der Gummihandschuh angetippt wird. Die entsprechende Körperwahrnehmung entsteht unter Beteiligung des Stirnhirns. Es kann sogar sein, dass Sie heftig zucken, wenn auf die Gummihand ein unerwarteter Schlag erfolgt – eine wohl nur wenig nützliche Konstruktion von »Wirklichkeit« (Ehrsson u. a. 2005).
Betrachten wir nun die allerersten Prozessen, die beim Anblick eines Gesichtes eine Rolle spielen. Angenommen, man betrachtet das Foto eines nicht näher bekannten Menschen: Wie alt könnte er sein? Scheinbar unwillkürlich wandert der Blick ins Gesicht und sucht dort nach Falten, oder er springt zum Haar, um zu sehen, ob es schütter oder gar grau ist. Tatsächlich bewegt sich der Blick hierbei nicht automatisch, sondern folgt bestimmten Strategien. Personen mit Verletzungen im oberen Stirnhirn versagen bei einer solchen Vorhersage. Stattdessen kommt es zu abenteuerlichen Schätzungen, die vermuten lassen, dass die Verletzten die Kontrolle über bestimmte Aspekte der Realität verloren haben. Doch auch, wenn die Augenbewegungen kontrolliert die Umgebung abtasten, kann es zu höchst waghalsigen und spekulativen Einschätzungen des Gesehenen kommen. Wenn man die deutenden Funktionen des Gehirns verstehen will, muss man nun zwei Dinge berücksichtigen, die wir am Beispiel der Wahrnehmung eines unbekannten Gesichts besprechen wollen.
Erstens erfolgt die Ausbreitung der visuellen Daten im Gehirn ziemlich unspezifisch, solange nicht eine bestimmte Verarbeitungsbahn durch Aufmerksamkeitsmechanismen breiter geöffnet worden ist. Die Daten gehen erst einmal in verschiedene Regionen des visuellen Systems. Sie werden sich mehr oder weniger erfolgreich ausbreiten, je nachdem, welches Echo sie in den jeweiligen Netzwerken erzeugen können. Auch dort, wo bereits einschlägige Informationen vorliegen, im Beispiel in Regionen, die auf die Gesichtswahrnehmung spezialisiert sind, ist die Anflutung der Daten anfangs recht spärlich. Letztlich muss ja das Gehirn in der gleichen Sekunde möglicherweise eine ganze Menge anderer Dinge tun, eine Bewegung ausführen oder auf bestimmte Laute achten. In unserem Beispiel gehen wir jedoch davon aus, dass die Gesichtsregion deutlich reagieren kann. Das hat üblicherweise zur Folge, dass eine Reihe von benachbarten Regionen, die etwa auf Werkzeuge oder Buchstaben spezialisiert sind, für den Augenblick gehemmt wird. Wenn das Gesicht eine gewisse Auffälligkeit besitzt, also zum Beispiel besonders hübsch ist, kann sich die Hemmung sogar auf Bewegungen oder das Gehör auswirken. Gleichzeitig werden ab diesem Moment Assoziationen aktiv, mit denen bestimmte Merkmale des wahrgenommenen Gesichts verbunden sind und die von s...

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