1 Einführung
Wenn ich in das Literaturverzeichnis eines der zahlreichen Bücher zum Thema Gesprächsführung und Beratungskompetenz sehe, stelle ich fest, dass es eine Fülle von Bücher zu diesem Thema gibt, und je länger ich mich mit Gesprächsführung befasse, umso mehr Literatur finde ich.
In meiner Lehrerausbildung in den 1970er Jahren habe ich das alles nicht gelernt. Von jüngeren Menschen höre ich, dass in der Zwischenzeit im einen oder anderen Seminar in der universitären Ausbildung von Kommunikation die Rede ist, dass auch in der zweiten Ausbildungsphase das Wie von Gesprächen behandelt wird. Insgesamt habe ich in der Funktion als Schulaufsichtsbeamter jedoch alltäglich erlebt, dass viele Lehrerinnen und auch etliche Schulleitungsmitglieder1 oft einfachste Regeln der Gesprächsführung nicht oder nur bruchstückhaft beherrschen. Dabei wird von allen Seiten betont, dass neben dem Unterrichten das Beraten eine der zentralen Aufgaben von Lehrerinnen sei; gerade angesichts zunehmender Erziehungsprobleme in den Elternhäusern scheint es immer wichtiger zu werden, dass Lehrerinnen über Beratungskompetenz verfügen.
Zudem erfordert die Lehrerkooperation als eine wesentliche Voraussetzung für Schulqualität in verstärktem Maß kommunikative Kompetenz. Lehrer können es sich immer weniger leisten, Einzelkämpfer zu sein. Die Anforderung zu kooperieren wächst stetig. In immer mehr Schulen stehen die Klassentüren offen, Lehrer beobachten sich gegenseitig im Unterricht und sprechen anschließend darüber. Auch das inklusive Arbeiten aufgrund der UN-Behindertenrechtskonvention, bei dem neben den Fachlehrkräften auch eine sonderpädagogische Lehrkraft in der Klasse arbeitet, verstärkt die kollegiale Kooperation und Kommunikation. Diese beiden Elemente werden deshalb immer häufiger den Alltag der Lehrerinnen prägen.
Schließlich ist es auch der Unterricht selbst, der sich in Folge von PISA und der Ergebnisse der Hirnforschung wandelt. Schüleraktivierende Unterrichtsformen, in denen die Lehrkräfte nicht nur die Aufgabe der Instruktion, sondern auch die der Lernberatung übernehmen, fordern bisher ungewohnte kommunikative Fähigkeiten.
Das sind nur einige Beispiele aus dem Schulalltag, Situationen, in denen Kommunikations- und Beratungskompetenz von Lehrerinnen gefragt ist. Aufgrund solcher Beobachtungen begann ich während und nach meiner fünfjährigen gestalttherapeutischen Zusatzausbildung, Fortbildungsmodule zu entwickeln und Kurse anzubieten. Die positiven Rückmeldungen der Kursteilnehmer bestärkten mich in meiner Einschätzung, dass in diesem Bereich großer Bedarf herrscht, dem relativ wenige Angebote gegenüberstehen. So entstand dieses Buch.
Die Gliederung des Buchs entspricht in weiten Teilen der Struktur einer Fortbildungsmaßnahme. Gedacht war es zunächst als Skript für die Teilnehmer des Kurses. Sehr schnell erweiterte ich jedoch die Zielsetzung auch auf Leser, die nicht an einem Kurs teilgenommen haben.
Es handelt sich nicht um ein Übungsbuch, sondern eher um eine Art Reader, der in knapper Form die wesentlichen Elemente zu den Themen »Theoretische Grundlagen«, »Gesprächsführungskompetenz«, »Beratungskompetenz«, »Kompetenter Umgang mit Konflikten« und »Moderationskompetenz« enthält. Zum Weiterlesen in der aufgeführten Literatur lade ich ausdrücklich ein.
1.1 Warum das 347. Buch zu diesem Thema?
Meine Absicht ist es, ein praktisch nutzbares Buch für Lehrer zu schreiben und die fast unübersehbare Literatur zu diesem Thema zusammenzufassen. Insofern verstehe ich dieses Buch als Serviceleistung. Wer es als Lehrerin oder Lehrer liest, kann nicht nur zu einem Erkenntnisgewinn kommen, sondern vielmehr die Beispiele und Übungsanregungen aufgreifen und gemeinsam mit anderen das erforderliche Handwerkszeug üben. Das kann im Selbststudium, am effektivsten aber bei einer Fortbildungsmaßnahme geschehen, bei der der Einzelne nicht alleine bleibt mit seinen Fragen, sondern einen Seminarleiter oder Trainer zur Seite hat, der Fragen kompetent beantworten und damit die Nutzung von Erfahrungswissen ermöglichen kann. Beim Erwerb von Gesprächsführungs- und Beratungskompetenz geht es nicht nur um kognitives Lernen, sondern immer auch um praktisches Üben.
1.2 Ziel und Struktur
Kapitel 2 bietet Theorien und Deutungsmodelle zu Menschenbildern, Beziehungsgestaltung und Kommunikationsmodellen an, die in zweifacher Hinsicht Grundlage für die folgenden Ausführungen sind: Sie stellen die Wissensbasis für die Kommunikationsgestaltung dar, und sie sollen deutlich machen, welche Haltung der Gesprächsführung zugrunde liegen muss. Denn Methoden und Techniken sind nur dann sinnvoll und verantwortbar, wenn sie mit einer humanistischen Grundhaltung verbunden sind.
In Kapitel 3 geht es dann um Gesprächselemente, die in allen Arten von Gesprächen eine Rolle spielen. Diese Basics habe ich in der Literatur in dieser elementaren Form kaum vorgefunden, und weil mir das als Manko erschien, habe ich Gespräche »seziert« und die Elemente benannt.2
Kapitel 4 behandelt das umfangreiche Thema Konflikte, die in Kommunikationssituationen auftreten können.
Anschließend gebe ich Ihnen in Kapitel 5 – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – einen exemplarischen Überblick über die verschiedenen Gesprächsarten, bei denen das Beratungsgespräch eine herausgehobene Stellung einnimmt.
Kapitel 6 befasst sich mit Konfliktgesprächen und gibt u. a. Hinweise zu Gesprächen über Beschwerden und den Umgang mit Kritik und kritischem Feedback.
Das Buch wendet sich an alle Lehrer, ist aber selbstverständlich auch für Personen gedacht und nutzbar, die mit Leitungsaufgaben betraut sind. In Kapitel 7 habe ich einige Themen – wieder ohne zu beanspruchen, eine vollständige Darstellung zu geben – herausgegriffen, die ausschließlich das Arbeitsfeld von Schulleitungspersonen betreffen.
In Kapitel 8 stelle ich schwierige Situationen dar, die es in allen Gesprächen geben kann, und gebe Hinweise zu deren Bewältigung.
Thema von Kapitel 9 ist die Moderation von Gesprächen, die ebenfalls eine wichtige Kompetenz von Lehrern darstellt.
Die Bedeutung von Kommunikation für Kooperation und Teamarbeit von Lehrkräften stellt einen weiteren inhaltlichen Schwerpunkt dar, den ich in Kapitel 10 behandele. Den Abschluss (Kapitel 11) bilden Hinweise auf die Bedeutung von Kommunikationsprozessen für inklusive Schulentwicklungsprozesse.
Dieser Aufbau orientiert sich an den beiden folgenden Zielen:
• Ich möchte Sie einladen, sich mit Ihren eigenen Menschenbildannahmen auseinanderzusetzen und zu spüren, wie bedeutsam diese Auseinandersetzung für die Anwendung von »Handwerkszeug« ist. Ich lade Sie herzlich ein, bei der Lektüre mitzuvollziehen, dass Technik alleine nicht ausreicht.
• Sie sollen Gelegenheit haben, Ihren Handwerkskoffer zu füllen, d. h. Ihr Handlungsrepertoire zu erweitern. Dabei geht es mir nicht darum, Ihnen zu vermitteln, dass in einer bestimmten Situation eine und nur diese Handlungsweise »richtig« ist. Vielmehr möchte ich eine Kompetenzerweiterung ermöglichen, d. h. Ihnen die Kompetenz vermitteln, selbst zu entscheiden, welche Gesprächstechnik in der jeweiligen Situation einzusetzen sinnvoll sein kann und sowohl zu Ihnen persönlich als auch zur Situation passt. Selbstverständlich ist hier auch Raum für eigene Kreativität. Für jede Lehrerin und jeden Lehrer sind diese beiden Komponenten – nämlich Passung zu Situation und Person – bestimmend für das Handeln, mit beiden befasst sich dieses Buch.
Eine grundlagenlose Anwendung von Techniken unterliegt immer der Gefahr von Manipulation oder Missbrauch; deshalb ist die Auseinandersetzung mit Haltungsfragen mindestens ebenso wichtig wie das Erlernen von Techniken. Andererseits reicht eine angemessene Haltung nicht aus; es gehört auch Handwerkszeug dazu, sich professionell verhalten zu können. Ich bin jedoch eindeutig der Auffassung, dass der Grundhaltung eine größere Bedeutung zukommt als der Technik. Wenn ich über die Grundhaltung der Wertschätzung aller Menschen verfüge, ist ein technischer Fehler eher zu verschmerzen, als wenn ich eine abwertende oder manipulative Haltung einnehme und mich technisch optimal verhalte. Etliche praktische Erfahrungen bestätigen diese Auffassung.
• Im institutionellen Rahmen von Schule kommt als weiteres Merkmal die Struktur hinzu, die den Rahmen bieten muss, um der Grundhaltung gemäß handeln zu können.3 Es kann also nicht nur darum gehen, individuell Kompetenzen zu erwerben und anzuwenden, sondern es muss darüber hinaus einen institutionellen Rahmen geben, in dem ich entsprechend der Grundhaltung agieren kann.
Abb. 1: HSH = Haltung, Struktur und Handwerkszeug
In diesem Buch möchte ich darauf achten, dass die Ziele mit den Methoden kongruent sind. Was bedeutet das? Wir alle erleben im öffentlichen Raum immer wieder Menschen, die heimlich Wein trinken, während sie öffentlich Wasser predigen, wie Heinrich Heine es pointiert formuliert hat.4 Wer beispielsweise als Schulleiterin bei öffentlichen Reden das hohe Lied der Dialogkultur singt, intern im Kollegium jedoch Leitung nach Gutsherrenart praktiziert, wird bestenfalls als nicht authentisch, oft eher als verlogen erlebt.5 Meine Intention ist es, möglichst widerspruchsfrei die wesentlichen Inhalte darzustellen und dabei die Merkmale, die ich postuliere, selbst einzuhalten (Transparenz, selektive Authentizität usw.).
1.3 Lesehinweise
Selbstverständlich können Sie dieses Buch lesen, wie Sie wollen, von vorne bis zum Ende durch, mal hier, mal dort usw. Mein Rat: Lesen Sie Kapitel 2 zuerst. Folgende Gründe kann ich Ihnen für diesen Rat nennen:
• Bevor Sie sich Techniken aneignen, halte ich es für sehr wichtig, zunächst grundlegende Entscheidungen zu treffen und die eigene Haltung zu Kommunikation und zum Menschen überhaupt zu klären. Diese Möglichkeit erhalten Sie, wenn Sie sich mit Kapitel 2 beschäftigen.
• Immer wieder stelle ich bei den praktischen Elementen Bezüge zur Theorie her.
Sie können das Buch auch als Nachschlagewerk verwenden. Wenn Sie sich beispielsweise daran erinnern, dass unter »Setting« ein für Sie interessanter Gedanke zu finden war, können Sie dieses Kapitel erneut (oder natürlich auch erstmals) lesen. Oder wenn Sie ein Kritikgespräch führen müssen, können Sie sich die Struktur dieser Gesprächsart wieder ins Gedächtnis rufen.
Lange habe ich gezögert, konkrete Gesprächsbeispiele aufzunehmen, weil damit konkrete Probleme verbunden sein können.
• Konkrete Formulierungen vermitteln oft den Eindruck, als sei es so, wie es dargestellt ist, richtig, und als sei jedes andere kommunikative Verhalten falsch. Explizit möchte ich betonen, dass die Beispiele, die ich aufführe – z. T. in wörtlicher Rede – genau das nicht intendieren. Meine Beispiele stellen eine Möglichkeit dar, das im jeweiligen Abschnitt Gemeinte zu konkretisieren. Ich bitte Sie, diese Beispiele als Steinbruch zu betrachten, um Rohlinge zu gewinnen, die Sie aber selbst bearbeiten können und sollten, bis sie zu Ihnen als Person und zur Situation passen. Für ungeübte Personen kann es auch sinnvoll sein, zunächst die vorgeschlagenen Formulierungen zu benutzen, um später mit zunehmender Übung und Sicherheit zu einer individuell passenden Sprache zu gelangen. Meine Erfahrung ist die, dass es gerade für ungeübte Personen eine konkrete Hilfe darstellt, »Vokabeln für die Zungenfertigkeit«, wie Jörg Schlee es nennt, zu bekommen und üben zu kön...