Leserlenkung und Grenzen der Interpretation
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Leserlenkung und Grenzen der Interpretation

Ein Beitrag zur RezeptionsÀsthetik am Beispiel des Ezechielbuches

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Leserlenkung und Grenzen der Interpretation

Ein Beitrag zur RezeptionsÀsthetik am Beispiel des Ezechielbuches

About this book

In der RezeptionsĂ€sthetik wird die Mitarbeit des Lesers als notwendig fĂŒr die Sinnkonstitution eines Textes angenommen. Das wirft jedoch die Frage auf, ob dadurch nicht eher Interpretationen in einen Text hinein- als aus ihm herausgelesen werden. Der Beliebigkeit von Interpretation wĂ€re damit TĂŒr und Tor geöffnet. Sind Texte also eindeutig oder mehrdeutig? Gehrig geht in seinen Überlegungen der Frage nach, wie ein Text fĂŒr verschiedene Interpretationen offen sein kann, ohne beliebig interpretierbar zu werden. Auf der Basis von RezeptionsĂ€sthetik und Semiotik gewinnt er Kriterien fĂŒr Grenzen der Interpretationsfreiheit, die in den Texten selbst angelegt sind. Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, werden an den ersten Zeichenhandlungen Ezechiels in Ez 3, 22-5, 17 verdeutlicht und verschiedene Beispiele der Leserlenkung herausgearbeitet.

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Information

Publisher
Kohlhammer
Year
2013
eBook ISBN
9783170270725
Edition
1
Subtopic
Theology

Teil C:
Inferentielle SpaziergÀnge und
Interpretations-Limits im Ezechielbuch –
Eine Anwendung an Ez 3,22–5,17

Im Folgenden sollen die dargestellten Überlegungen und die Konsequenzen, wenn man das Ezechielbuch als ErzĂ€hlkomposition versteht, auf einen begrenzten Text angewendet und dieser exemplarisch auf Interpretations-Limits hin befragt werden. Dabei wird sich zeigen, dass man verschiedene AusprĂ€gungen von Interpretations-Limits unterscheiden kann, die durch ihre jeweilige Stellung im Text auch unterschiedliche Wirkung auf den Modell-Leser haben.
Das wird anhand der ersten Zeichenhandlungen im Fortgang des Ezechielbuches in Ez 3,22–5,17 geschehen, da sich dieser Textbereich aus verschiedenen GrĂŒnden als besonders geeignet fĂŒr diese Anwendung zeigt: Zum einen handelt es sich nicht um einen klassischen ErzĂ€hltext, sondern um eine JHWH-Rede, so dass man von einem typischen Text des Ezechielbuches sprechen kann. Zum Zweiten steht der Text zu Beginn des Buches und damit des ErzĂ€hlfortgangs, was ein Nachzeichnen des Weges des Modell-Lesers bis dahin gut möglich macht und die Einbettung des Textes in den Fortgang und Kontext der ErzĂ€hlung erlaubt. Zum Dritten lĂ€sst die inhaltliche Seite des Textes, die Aufforderung JHWHs zur Zeichenhandlung, nicht nur viel Platz zur Mitarbeit des Lesers an diesem TextstĂŒck, sondern fordert diese geradezu in besonderer Weise. Die Verbindung von Bild und Wort umfasst – wie zu zeigen sein wird – gleichzeitig öffnende und einschrĂ€nkende, das heißt leserlenkende Aussagen, so dass innerhalb dieses einen Textes „ein Bild, nĂ€mlich die Darstellung einer Stadt und ihrer Belagerung, szenische Elemente in Form signifikanter Begleithandlungen, und erlĂ€uternde Worte, welche sich auf das im ĂŒbrigen stumme Geschehen beziehen und dieses in einem spezifischen Sinn historisch und theologisch deuten, nebeneinander [stehen]“1.
Dabei kann es hier nicht darum gehen, die zahlreichen Probleme dieses Textabschnittes vollstĂ€ndig zu bearbeiten und zu lösen, gehört es zu dem hier vertretenen Ansatz doch gerade, die Offenheit mancher Fragen als solche ernst und auch als Textstrategie zur Möglichkeit der Einschreibung des Lesers in den Text wahrzunehmen. Vielmehr sollen an diesem Textabschnitt – im Anschluss an eine annotierte Übersetzung des Textes, die diesen in der wissenschaftlichen Diskussion verortet – exemplarisch drei Möglichkeiten der Lenkung und EinschrĂ€nkung der Mitarbeit des (Modell-)Lesers herausgearbeitet werden, die sowohl Offenheit ermöglichen als auch BeschrĂ€nkung gewĂ€hrleisten: das vorausgehende, das nachgehende und das mitgehende Interpretations-Limit.

I. Der Textbestand von Ez 3,22–5,17 – Annotierte Übersetzung

1. Abgrenzung des Textkomplexes

Fraglich und umstritten ist zunĂ€chst die Abgrenzung des TextstĂŒckes. Am Ende des Abschnitts wird zumeist ein Einschnitt zwischen Kapitel 5 und 6 gesehen.2 Dies legt sich sowohl inhaltlich durch das Ende der Zeichenhandlungen und den Neueinsatz der Anrede an die Berge Israels als auch formal durch die Nennung der Wortereignisformel in Ez 6,1 nahe. Insofern zeigt sich hier eine deutliche Markierung zur Abgrenzung des Textes.
Als schwieriger hingegen erweist sich die Frage der Abgrenzung beziehungsweise die Zusammengehörigkeit im Bereich von Ez 3,15–4,1: WĂ€hrend 3,15 zumeist als Abschluss des ersten Teils, also der Vision Ezechiels und seiner Beauftragung, gesehen wird3 und somit der erste Teil seinen (wenn auch aufgrund des ‚verstörten Sitzens‘ Ezechiels in Ez 3,15 ungewöhnlichen) Abschluss findet, ist Ez 4,1 durch die Anrede Menschensohn und die thematische Einordnung zu den folgenden Zeichenhandlungen deutlich zu dem folgenden Abschnitt zu verorten.
Fraglich erweist sich jedoch die Zuordnung des Abschnitts Ez 3,16–27, der sich in die beiden Abschnitte Ez 3,16–21 und Ez 3,22–27 unterteilt, zu Ez 4,1 ff.4 WĂ€hrend der erste Teil die Beauftragung Ezechiels als WĂ€chter (
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) fĂŒr Israel vor Augen stellt, erfolgt im zweiten Abschnitt die AnkĂŒndigung des Anlegens von Stricken und des Verstummens Ezechiels. Bei beiden Textkomplexen handelt es sich um JHWH-Reden mit unterschiedlich ausfĂŒhrlicher Einleitung.
Zimmerli und Sedlmeier weisen wohl zu Recht darauf hin, dass die Wortereignisformel in Ez 3,16a ursprĂŒnglich nicht Ez 3,16bff. eingeleitet hat, sondern an dieser Stelle ein nachtrĂ€glicher Einschub vorliegt, der die Wortereignisformel von seinem ursprĂŒnglichen Kontext trennt. WĂ€hrend jedoch Zimmerli Ez 3,16a als ursprĂŒngliche Einleitung zu Ez 3,22ff. annimmt,5 sieht Sedlmeier eine ursprĂŒngliche Einleitung fĂŒr Ez 4,1 ff.6 Gerade die im Ezechielbuch immer wieder anzutreffende Kombination von Wortereignisformel und der Anrede ‚Menschensohn‘7 lĂ€sst Sedlmeiers Ansatz wahrscheinlich erscheinen. Durch den Einschub von Ez 3,16b–21 und Ez 3,22–27 wurde die Wortereignisformel von ihrer ursprĂŒnglichen Stellung getrennt.
Gleichzeitig wurde durch diesen Einschub aber eine neue Textstruktur geschaffen, die es nun zu beachten gilt. Die Redeeinleitung in Ez 3,16a bezieht sich in der jetzt vorliegenden Form auf die JHWH-Rede in Ez 3,16b–21. In den Versen Ez 3,22–24 folgt eine neue Redeeinleitung, die auch eine kurze Situationsbeschreibung und die erneute Referenz auf die Erscheinung der Herrlichkeit am Fluss Kebar beinhaltet.
Aufgrund dieser Struktur erweist sich der Abschnitt Ez 3,16–21 als in sich geschlossener Textblock, der sich sowohl durch den Inhalt – die Beauftragung als WĂ€chter – als auch durch die deutliche Strukturierung des Textes8 von den umgebenden Texten abhebt. Insofern scheint es sinnvoll, diesen Textteil eigenstĂ€ndig zu behandeln, wie es zumeist geschieht,9 und ihn weder dem vorhergehenden noch dem nachfolgenden Textabschnitt direkt zuzuordnen.
In Bezug auf Ez 3,22–27 lassen sich sowohl fĂŒr die Abgrenzung von als auch fĂŒr die NĂ€he zu Ez 4,1ff. gute Argumente anfĂŒhren. Gegen die Zugehörigkeit von Ez 3,22–27 zu Ez 4,1ff. spricht die Stringenz und inhaltliche Abstimmung innerhalb von Ez 4,1–5,4, die einen deutlichen inneren Aufbau, orientiert an dem Thema der Belagerung Jerusalems, erkennen lĂ€sst.10 Der Auftrag an Ezechiel zu den Zeichenhandlungen ab Ez 4,1ff. erscheint dem Leser als „Anfang der VerkĂŒndigung des Propheten“11, bei dem zum ersten Mal von einem konkreten, zu verkĂŒndigenden Inhalt die Rede ist.12 Die bereits zuvor genannte Handlung des ‚Einsperrens im Haus‘, des Verstummens und des Gebundenseins in Ez 3,22–27 zeigt keinen eindeutigen Bezug zu den folgenden Zeichenhandlungen, auch wenn in Ez 4,8 erneut auf das mit dem Gebundensein in VerhĂ€ltnis stehende ‚Auf-der-Seite-Liegen‘ rĂŒckverwiesen wird.13 Strittig ist zudem, ob es sich bereits in Ez 3,22–27 um eine Zeichenhandlung14 oder ob es sich nicht vielmehr um die ErwĂ€hnung einer „Behinderung Ezechiels“ handelt, die diesen darin einschrĂ€nkt, „seine VerkĂŒndigungstĂ€tigkeit aufzunehmen“15. Das VerstĂ€ndnis als Zeichenhandlung wĂŒrde entsprechend fĂŒr, das als Behinderung gegen eine Textabgrenzung Ez 3,22–5,17 sprechen.
Auf Basis der Textstruktur des Endtextes zeigt sich hingegen die Zusammengehörigkeit dieser beiden Textabschnitte. So sprechen neben der bereits erwĂ€hnten Bezugnahme von Ez 4,8 auf das Gebundensein vor allem die Form der durchgĂ€ngigen JHWH-Rede und die in diesem Zusammenhang bereits in Ez 3,25 erfolgende Anrede ‚Und Du, Menschensohn‘ fĂŒr das VerstĂ€ndnis als zusammengehörender Textabschnitt. Eine erneute Redeeinleitung fĂŒr einen möglicherweise separaten Textabschnitt Ez 4,1–5,17 ist nicht vorhanden.16 Damit ergibt sich aufgrund der formalen Einteilung in verschiedene Redeblöcke die Gliederung Ez 1–3,15 // Ez 3,16–21 // Ez 3,22–5,17 ...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Vorwort
  6. Teil A: ‚Interpretations-Limits‘ – Die Theorie der Interpretationsgrenzen
  7. Teil B: Das Ezechielbuch – ErzĂ€hlkomposition als grundlegendes Leseprinzip
  8. Teil C: Inferentielle SpaziergĂ€nge und Interpretations-Limits im Ezechielbuch – Eine Anwendung an Ez 3,22–5,17
  9. RĂŒckblick und Ausblick: Und Du, Menschensohn – lies!
  10. Bibliographie
  11. Bibelstellenregister
  12. Sachregister
  13. Glossar