Therapie schwerer Anorexia nervosa
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Therapie schwerer Anorexia nervosa

Ein psychiatrisches Behandlungskonzept mit somatischem Schwerpunkt

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Therapie schwerer Anorexia nervosa

Ein psychiatrisches Behandlungskonzept mit somatischem Schwerpunkt

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Anorexia nervosa ist eine der schwersten psychischen Erkrankungen mit einem Sterblichkeitsrisiko, das etwa sechsfach höher ist als in der Allgemeinbevölkerung.In dem vorliegenden Band wird ein Behandlungskonzept fĂŒr die Therapie schwerer und schwerster Anorexia nervosa vorgestellt, das auf einer geschĂŒtzten Station der Klinik fĂŒr Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-UniversitĂ€t MĂŒnchen entwickelt wurde. Ziel der Behandlung ist eine Gewichtszunahme von 700-1000 g pro Woche und ein BMI von 17kg/m2.Einleitend werden Daten zur Erkrankung sowie seelische und körperliche VerĂ€nderungen bei Untergewicht und deren VerĂ€nderung bei einem Refeeding dargestellt und folgend das Behandlungskonzept fĂŒr diese PatientInnen beschrieben. Die KlĂ€rung der rechtlichen Grundlage der Behandlung ist ebenso Teil des Konzeptes wie die Anlage einer perkutanen Magensonde zur UnterstĂŒtzung der ErnĂ€hrung sowie ein Therapievertrag mit VerknĂŒpfung von Gewicht und verschiedenen Therapiemöglichkeiten.

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Information

1 Einleitung

1.1 Störungsbild, Zahlen und Fakten

Hautala und Mitarbeiter fanden in einer epidemiologischen Studie zu Essstörungen bei Jugendlichen, dass sich bei 24 % der MĂ€dchen und bei 16 % der Jungen, die an der Studie teilnahmen, Symptome einer Essstörung fanden (Hautala et al. 2008). Solche Ergebnisse epidemiologischer Studien mögen die Bedeutung der Essstörungen verdeutlichen. FrĂŒhere Studien hatten ergeben, dass bis zu 25 % der normalgewichtigen MĂ€dchen ihren Körper als zu dick einschĂ€tzten und bis zu 50 % ungesunde Methoden benutzten, um ihr Körpergewicht zu regulieren.
Essstörungen werden als Störungen des Verhaltens beschrieben, die zur BewĂ€ltigung unangenehmer oder schwieriger GefĂŒhle, einer Regulation des Affekts, eingesetzt werden. FrĂŒh konnte bereits gezeigt werden, dass eine Restriktion der Nahrung bedeutende Auswirkungen auf das psychische und besonders emotionale Erleben von Menschen hat. In den Studien von Ancel Keys (The Biology of Human Starvation 1950) im Rahmen des Minnesota Starvation Experiments wurde MangelernĂ€hrung bei psychisch gesunden Menschen untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass es zu gravierenden emotionalen VerĂ€nderungen bei Nahrungsrestriktion kommt (Depression, Angst etc.). Diese Symptome bestanden teilweise auch nach ausreichender ErnĂ€hrung weiter (zitiert nach Kalm et al. 2005).
Eine der ersten Beschreibungen der Anorexia nervosa lieferte Sir Richard Morton 1684 und bezeichnete sie als »nervöse Atrophie« (Liechti 2008). Im 17. Jahrhundert beschrieb auch Marcé eine Essstörung und bezeichnete sie als »hypochondrisches Delirium«. In der zweiten HÀlfte des 19. Jahrhunderts beschrieb Sir William Whitey Gull die »apepsia hysterica«, die er spÀter in Anorexia nervosa umbenannte (Pearce 2006; Treasure 2006). Einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der Anorexia nervosa lieferte in den 1970er Jahren Hilde Bruch. In den gegenwÀrtig gÀngigen Klassifikationen wurden die Essstörungen erst 1980 in der heutigen Form in der DSM-III und ICD-9 beschrieben (Walsh 2010). Es werden Anorexia nervosa und Bulimia nervosa sowie ihre Unterformen nach der International Classification of Diseases der Weltgesundheitsorganisation und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association (ICD-10 und DSM-IV bzw. DSM-V) unterschieden.
Hier sei nur auf die Anorexia nervosa eingegangen, weil das folgend dargestellte Behandlungskonzept fĂŒr die Therapie von PatientInnen mit Anorexia nervosa und extremem Untergewicht ausgelegt ist. Die Anorexia nervosa ist eine schwere psychische Erkrankung. In der ICD-10 werden
‱ die Anorexia nervosa ohne aktive Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (F50.00; restriktiver Typ) und
‱ die Anorexia nervosa mit aktiven Maßnahmen zur Gewichtsabnahme (F50.01; mit Erbrechen, AbfĂŒhren etc.) sowie
‱ die atypische Anorexia nervosa (F50.1; es sind nicht alle diagnostischen Kriterien vorhanden) unterschieden.
Die bulimische Form der Anorexia nervosa unterscheidet sich von der Bulimia nervosa insbesondere durch eines der Hauptsymptome – das geringe Körpergewicht.

Diagnostische Leitlinien fĂŒr die Anorexia nervosa nach ICD-10 sind:

1. das tatsÀchliche Körpergewicht liegt mindestens 15 % unter dem erwarteten,
2. der Gewichtsverlust ist selbst herbeigefĂŒhrt,
3. das Vorliegen einer Körperschema-Störung in Form einer spezifischen psychischen Störung,
4. eine endokrine Störung auf der Hypothalamus-Hypophysen-Gonaden-Achse liegt vor (Amenorrhoe bzw. Libido- und Potenzverlust),
5. bei Beginn vor der PubertÀt ist die Abfolge der pubertÀren Entwicklungsschritte verzögert oder gehemmt.
Fairburn stellte die epidemiologischen Merkmale der Anorexia nervosa in einem Seminar zusammen. Es handelt sich um eine vorzugsweise in westlich orientierten Gesellschaften vorkommende Erkrankung, an der vor allem Frauen im Jugend- und frĂŒhen Erwachsenenalter erkranken. Das GeschlechterverhĂ€ltnis betrĂ€gt etwa 90 Frauen zu 10 MĂ€nner (Fairburn et al. 2003). Dieser bedeutende Unterschied lĂ€sst weitere Differenzen zwischen den Geschlechtern vermuten. Allerdings fanden Crisp und Mitarbeiter bei der Auswertung der Untersuchungsergebnisse bei 751 Frauen und 62 MĂ€nnern nur ein leicht höheres Lebensalter der MĂ€nner bei Beginn der Erkrankung und eine Tendenz fĂŒr einen etwas hĂ€ufigeren Missbrauch von Laxanthien bei Frauen, wĂ€hrend bei MĂ€nnern hĂ€ufiger die Bevorzugung einer veganen ErnĂ€hrung gefunden wurde (Crisp et al. 2006).
Die Inzidenz der Anorexia nervosa wird mit zwischen 4,2 bis 8,3 pro 100 000 Patientenjahre und die PunktprĂ€valenz wird mit etwa 0,3 % angegeben, wĂ€hrend die LebenszeitprĂ€valenz zwischen 1,2 % und 2,2 % der Gesamtbevölkerung geschĂ€tzt wird. Die Inzidenzrate der Anorexia nervosa ist am höchsten bei Frauen zwischen dem 15. und 19. Lebensjahr. Außerdem wurde berichtet, dass die Inzidenz der Anorexia nervosa zwischen 1935 und 1999 anstieg (Bulik et al. 2006; Herpertz-Dahlmann 2009; Hoek et al. 2003; Keski-Rahkonen et al. 2006; Miller et al. 2010).
Ätiologisch wird fĂŒr die Essstörungen bisher ein komplexes Zusammenspiel genetischer, biologischer und sozio-kultureller Faktoren angenommen. So wird die Vererblichkeit einer genetischen Belastung mit ĂŒber 50 % und eine starke Überlappung mit genetischen Merkmalen fĂŒr zwanghafte, depressive und Angststörungen sowie AbhĂ€ngigkeitserkrankungen gefunden. Biologisch ist besonders von einer VulnerabilitĂ€t des Gehirns auszugehen, dass auch bei Gesunden etwa 20 % der gesamten Kalorienaufnahme in Anspruch nimmt. Im Gehirn sind vor allem Systeme, Regelkreise in Hirnstamm und Thalamus, die mit Homöostase, Antriebsregulation und Selbstkontrolle zu tun haben, betroffen. An von der Umgebung abhĂ€ngigen Faktoren wurden perinatale Komplikationen sowie Stigmatisierungen, ĂŒbermĂ€ĂŸige Kritik gegenĂŒber Idealisierungen in Verbindung mit einem minderen Selbstbewusstsein gefunden (Treasure et al. 2010).
NatĂŒrlich können auch Risikofaktoren fĂŒr die Entwicklung einer Essstörung benannt werden. Hier kommen etwa weibliches Geschlecht, weiße Hautfarbe, Alter, ein bestimmter familiĂ€rer Interaktionsstil und Ă€hnliches in Frage und wurden in Studien untersucht, doch erscheint es hier wichtig, zwischen variablen und kausalen Risikofaktoren zu unterscheiden, wobei besonders kritisiert wurde, dass es hinsichtlich der Forschung zu Risikofaktoren nicht genĂŒgend longitudinale Studienergebnisse gebe und festgestellt wurde, dass bisher kein kausaler Risikofaktor benannt werden könne (Jacobi et al. 2004). Es werden die Risikofaktoren von Faktoren unterschieden, die den Krankheitsprozess aufrechterhalten.
In Studien zum Langzeitverlauf von PatientInnen mit Essstörungen wurde gefunden, dass zwischen 47 % und 67 % von ihnen nach fĂŒnf Jahren gesund seien. Bei lĂ€ngerem Follow-up steige der Anteil der symptomfreien ehemaligen PatientInnen (zitiert nach Attia 2010). DemgegenĂŒber ergab das Follow-up von 51 PatientInnen mit in der Adoleszenz einsetzender Anorexia nervosa ĂŒber 18 Jahre, dass 54 % der PatientInnen nach 18 Jahren frei waren von störungsspezifischem Verhalten, 22 % bestimmte Nahrungsmittel vermieden (z. B. Fleisch) und bei 39 % Kriterien fĂŒr eine andere psychische Störung (meist Zwangsstörung) erfĂŒllt waren, wĂ€hrend bei 12 % noch eine Essstörung diagnostiziert wurde (Wentz et al. 2009). Rigaud und Mitarbeiter untersuchten 484 erwachsene PatientInnen mit Anorexia nervosa nach 13,5 Jahren. Sie fanden, dass 60,3 % der PatientInnen gesund und 25,8 % relativ gesund waren, wĂ€hrend je 6,4 % ein schlechtes oder sehr schlechtes Outcome hatten (Rigaud et al. 2011).
In einer folgenden Untersuchung von Rigaud und Mitarbeitern wurde das Outcome nach sechs Jahren von 41 initial extrem unterernĂ€hrten PatientInnen mit Anorexia nervosa (initialer BMI bei Aufnahme 10,1 ± 0,57 kg/m2) mit 443 PatientInnen, die ein weniger deutliches Untergewicht bei Aufnahme hatten, verglichen. Die Ergebnisse zeigten, dass von den 41 PatientInnen 5,8 % mehr verstorben waren, 19% mehr ein schlechtes Outcome hatten und 21 % weniger die Gesundheit wiedererlangt hatten, obwohl alle PatientInnen mit einem Refeeding behandelt worden waren (Rigaud et al. 2012). Zudem ist ein niedrigeres Körpergewicht bei Entlassung insgesamt mit einer erhöhten Zahl an Rehospitalisationen assoziiert gefunden worden (Castro et al. 2004). Auch bei der Analyse des Zustands der PatientInnen aus fĂŒnf Studienkohorten fanden Lock und Mitarbeiter fĂŒr Erwachsene, die wegen einer Anorexia nervosa hospitalisiert worden waren, dass das Erreichen eines Körpergewichts von mehr als 86 % des idealen Körpergewichts (ideal body weight; IBW) bei Entlassung den besten PrĂ€diktor fĂŒr ein Erreichen des Normalgewichts darstellte (Lock et al. 2013). Somit scheint es mehrere VerlaufsprĂ€diktoren fĂŒr die Prognose bzw. das Outcome von PatientInnen mit Anorexia nervosa zu geben. Hierzu gehört die nach oben dargestellten Studienergebnissen einerseits das Körpergewicht bei Aufnahme als auch das Körpergewicht bei Entlassung aus der stationĂ€ren Behandlung.
Fichter et al. (2006) fanden in einem nationalen Patientenkollektiv im Rahmen einer 12-Jahres-Katamnese eine MortalitĂ€t von 7,7 %, 20–30 % verstarben durch Suizid, die ĂŒbrigen 60–70 % durch sekundĂ€re Komplikationen des Hungerns (Fichter et al. 1997, 2006). Die Auswertung schwedischer Sterberegister hinsichtlich ehemals wegen Anorexia nervosa hospitalisierter PatientInnen ergab eine standardisierte MortalitĂ€tsrate von 6,2 entsprechend einer 6-fach erhöhten MortalitĂ€t gegenĂŒber der Allgemeinbevölkerung. Es wird angenommen, dass die Anorexia nervosa von allen psychischen Erkrankungen die höchste MortalitĂ€tsrate aufweist (Papadopoulos et al. 2009).
Einerseits sollten die Ergebnisse dieser Studien verdeutlichen, dass eine besondere Notwendigkeit der Behandlung von PatientInnen mit Anorexia nervosa besteht, insbesondere bei extremem Untergewicht mit einem BMI < 13 kg/m2. Andererseits wurde festgestellt, dass die Möglichkeiten zur Behandlung der Anorexia nervosa unzureichend sind und es nicht genĂŒgend Behandlungsmöglichkeiten gibt, insbesondere fĂŒr die Behandlung schwersterkrankter PatientInnen mit extremem Untergewicht, also einem BMI von weniger als 13 kg/m2 (Diagnostik und Therapie der Essstörungen, S3-Leitlinie der AWMF 2010).

1.2 VerÀnderungen der Seele bei Untergewicht

Die folgend dargestellten seelischen VerĂ€nderungen bei der Anorexia nervosa scheinen zumindest teilweise nach klinischer Erfahrung von dem ErnĂ€hrungszustand abhĂ€ngig, was von einigen aktuellen Forschungsergebnissen unterstĂŒtzt wird, und sind daher nicht einheitlich vorzustellen. Vielfach wurde auch eine Korrelation dieser VerĂ€nderungen mit der Dauer der Erkrankung festgestellt. Dies mag etwa die zwischen den einzelnen Studien mitunter sehr unterschiedlichen Ergebnisse, insbesondere der HĂ€ufigkeit dieser VerĂ€nderungen erklĂ€ren.

1.2.1 Depression, Angst und Zwang

Bei untergewichtigen Menschen werden vor allem depressive, Angst- und Zwangssymptomatik vermehrt gefunden. Allgemein kommt es durch die komorbid auftretenden Störungen bei Untergewicht meist zu einem sehr komplexen Störungsbild. Die LebenszeitprĂ€valenz bei PatientInnen mit EssstörungenfĂŒr depressive Störungen wird mit bis zu 75 %, fĂŒr bipolare Störungen mit etwa 10 %, fĂŒr Angststörungen mit bis zu 20 % und Zwangsstörungen mit bis zu 40 % sowie fĂŒr Substanzmissbrauch mit bis zu 46 % angegeben. Allerdings muss einschrĂ€nkend erwĂ€hnt werden, dass es schwierig ist, depressive Symptomatik im klinischen Sinne zu diagnostizieren, da die Betroffenen in AbhĂ€ngigkeit von ihrem ErnĂ€hrungsstatus ihre Stimmung selbst immer eher als depressiv bezeichnen werden, wobei sie hĂ€ufig ein GefĂŒhl der inneren Leere und der StimmungslabilitĂ€t erleben (Woodside et al. 2006).
In wenigen Studien wurde bisher der Zusammenhang des ErnĂ€hrungsstatus mit der Psychopathologie im Verlauf der Wiederherstellung des Körpergewichts untersucht, obwohl angenommen wird und klinisch hĂ€ufig zu beobachten ist, dass die psychische Symptomatik zu einem bedeutenden Anteil auf das Untergewicht bei der akuten Anorexia nervosa zurĂŒckzufĂŒhren ist. Mattar und Mitarbeiter fassten die Ergebnisse von sieben solcher Studien zum Verlauf in einem Review zusammen. Sie fanden, dass besonders depressive und Angstsymptomatik bei Wiederherstellung des Körpergewichts deutlich zurĂŒckgehen (Mattar et al. 2011). Dies konnten die Autoren auch in einer eigenen Studie zeigen, in der sie depressive und Angstsymptomatik sowie Zwangssymptomatik bei 24 Patientinnen untersuchten, die mit einem mittleren BMI von 13,8 kg/m2 zur Aufnahme kamen. Im Ergebnis zeigte sich, dass bis zur Entlassung mit einem mittleren BMI von 17,8 kg/m2 eine Remission der depressiven und Angstsymptomatik, allerdings nicht der Zwangssymptomatik eingetreten war (Mattar et al. 2012).
Nicht selten ist bei Menschen mit extremem Untergewicht (BMI unter 13 kg/m2) ein psychosenahes Erleben zu beobachten. Dies ist auch bei vielen unserer PatientInnen nach der Aufnahme zu bemerken, wie in den Fallvignetten weiter unten dargestellt. Damit ist die gefĂŒhlsmĂ€ĂŸige Eingenommenheit und folgend die fortwĂ€hrende gedankliche BeschĂ€ftigung mit Ängsten und Sorgen gemeint. In GesprĂ€chen kommt es zu fortwĂ€hrendem Kreisen der Inhalte etwa der BefĂŒrchtung, unheilbar körperlich erkrankt zu sein. Es kommt im klinischen Sinne zu massiver gedanklicher Einengung, dem Auftreten sogenannter ĂŒberwertiger Ideen, mithin Wahnvorstellungen, von denen sich die PatientInnen kaum distanzieren können. Dies ist am ehesten im Sinne einer schweren affektiven Erkrankung zu verstehen. Miotto et al. stellten fest, dass die Kriterien fĂŒr eine wahnhafte Störung oder Schizophrenie meist nicht erfĂŒllt sind (Miotto et al. 2010). Nach unserer klinischen Erfahrung scheint es zu diesem psychosenahen Erleben deutlicher und hĂ€ufiger bei PatientInnen mit dem restriktiven Subtyp der Anorexia nervosa als bei jenen mit bulimischem Subtyp zu kommen. Allerdings könnte diese Beobachtung auch nur auf eine unterschiedliche AusprĂ€gung des Erlebens hinweisen. Im Laufe des Refeeding und mit zunehmendem Körpergewicht kommt es im Allgemeinen zu einem allmĂ€hlichen, manchmal auch ganz plötzlichen RĂŒckgang dieser Symptomatik, bis die PatientInnen frei von psychosenahem Erleben sind. Eine medikamentöse antipsychotische Behandlung ist hier bisher wenig erfolgreich und die Zielsymptomatik einer medikamentösen antipsychotischen Behandlung ist vor allem die psychomotorische Unruhe mit massiven Schlafstörungen und starken Ängsten.
Neben den beschriebenen Merkmalen fĂŒr Störungen der Achse-I nach DSM finden sich auch hĂ€ufig Merkmale fĂŒr Suchterkrankungen bei PatientInnen mit Anorexia nervosa. So wurde berichtet, dass es viele Hinweise auf eine gemeinsame Grundstörung von substanzabhĂ€ngigen SĂŒchten und Essstörungen (vor allem der Anorexia nervosa mit bulimischen Anteilen und der Bulimia nervosa) gebe und dies die diagnostischen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung erfĂŒlle. Diese Persönlichkeitsstörung zeichne sich besonders durch emotionale InstabilitĂ€t und ImpulsivitĂ€t aus, wobei das Suchtverhalten in der dauernden BeschĂ€ftigung mit Essen und Nahrung, der Symptomatik der Abstinenz und Kontrollverlust bestehe (Kinzl et al. 2010).

1.2.2 Persönlichkeit, Perfektionismus und ImpulsivitÀt

Die hÀufigste Form von Störungen der Achse II nach DSM bei PatientInnen mit dem restriktiven Subtyp der Anorexia nervosa ist mit etwa jeweils 20 % die zwanghafte und die vermeidende Persönlichkeitsstörung, aber auch die emotional-instabile und die depressive Persönlichkeitsstörung sind bei etwa 10 % der PatientInnen gefunden worden. Bei der Anorexia nervosa mit bulimischen Anteilen stehen die emotional-instabile mit etwa 25 % und die vermeidende Persönlichkeitsstörung mit etwa 15 % im Vordergrund, wÀhrend aber auch die depressive mit etwa 14 % und die zwanghafte Persönlichkeitsstörung mit etwa 12 % diagnostiziert wurde (Sansone et al. 2005, 2010).
Das Vorliegen bzw. das störende Hervortreten von Merkmalen dieser Persönlichkeitsstörungen, insbesondere der starken AusprĂ€gung von vermeidenden Anteilen, wirkt sich hĂ€ufig erschwerend auf die Behandlung aus. Im klinischen Alltag findet sich oft bestĂ€tigt, dass die Symptomatik bzw. Merkmale fĂŒr Persönlichkeitsstörungen wie auch fĂŒr Depression und Angst umso deutlicher das klinische Bild bestimmen, je niedriger das Körpergewicht ist, wie auch das oben dargestellte psychosenahe Erleben nach unserer klinischen Erfahrung hĂ€ufiger und deutlicher ist, je mehr die Betroffenen an Körpergewicht verloren haben.
Es hat sich seit Beginn der 1990er Jahre zunehmend eine multidimensionale Darstellung der Persönlichkeit durchgesetzt. So wird die Persönlichkeit mit dem »Neuroticism, Extraversion, Openness to New Experience – Five Factor Inventory« untersucht (NEO FFI; NEO FĂŒnf-Faktoren-Inventar) und in Fragen zum Neurotizismus, zur Extraversion, zur Offenheit fĂŒr Erfahrung, zu VertrĂ€glichkeit und Gelassenheit erfasst. Die Dimensionen des Perfektionismus und der ImpulsivitĂ€t sind als den einzelnen Symptomen zugrundeliegende Merkmale bei der Anorexia nervosa stark ausgeprĂ€gt. Bereits Hilde Bruch charakterisierte Patienten mit Anorexia nervosa als solche, die »allen Eltern und jeden Lehrers Vorstellung von Perfektion« erfĂŒllen (Bruch 1978, S. 59). Bardone-Cone und Mitarbeiter berichteten in einem Review zum Perfektionismus bei Essstörungen, dass sich bei allen Essstörungen in den Studien ein hohes Maß an Perfektionismus zeigte, wobei sich bemerkenswerterweise bei Patienten mit Anorexia nervosa das höchste Vorkommen von Perfektionismus fand. Allerdings ergaben sich nur minimale Unterschiede zwischen den einzelnen Essstörungen. Auch scheint Perfektionismus eine der akuten Erkrankung vorausgehende und sie ĂŒber...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Vorwort
  6. 1 Einleitung
  7. 2 RĂŒckblick und Ausblick
  8. 3 Ein psychiatrisches Behandlungskonzept mit somatischem Schwerpunkt
  9. 4 Zusammenfassung
  10. 5 Anhang
  11. Literaturverzeichnis
  12. Stichwortverzeichnis