1 Vorbemerkungen
1.1 Zu diesem Buch
1.1.1 Einige persönliche Vorbemerkungen
Kann man zwischen zwei Buchdeckeln vermitteln, wie vielfältig, herausfordernd, spannend, aber manchmal auch anstrengend Unterricht sein kann? Gerade auch Unterricht mit Schülern mit geistiger Behinderung? Dass dieser Unterricht immer auf dem Bezug zwischen Lehrer und Schülern basiert, ihrem Miteinander, welches sie gemeinsam gestalten? Dass es ohne diesen Bezug »nicht geht«, weil gerade Kinder und Jugendliche mit Behinderung (aber nicht nur sie) häufig auch ihrem Lehrer zuliebe lernen?
Ich hoffe, dass diese Haltung und Einsicht bei allen, die dieses Buch zur Hand nehmen, als Voraussetzung für die Arbeit mit Schülern mit geistiger Behinderung vorhanden ist. Dann kann zu dieser Grundhaltung die Auseinandersetzung mit dem nötigen Handwerkszeug für die tägliche Unterrichts- und Erziehungsarbeit kommen, verknüpft mit der Einsicht, dass die Anwendung dieser Werkzeuge nur in Verbindung mit einer entsprechenden pädagogischen Haltung sinnvoll ist, die den Schüler und seine Lern- und Bildungsbedürfnisse, seine Möglichkeiten aber auch seine Erschwernisse in den Mittelpunkt stellt.
Das vorliegende Buch ist in erster Linie als Hilfe für die tägliche Unterrichtspraxis konzipiert. Dabei bekennt es sich zu einer gewissen »Rezepthaftigkeit«, indem es aufzuzeigen versucht, wie Dinge funktionieren (können). »Woran erkennt man brauchbare Unterrichtsrezepte?«, fragt Grell (1998, 225) – und beantwortet diese Frage gleich selbst: »Daran, dass sie demonstriert, vorgemacht werden können« (ebd.). Eben das will dieses Buch: Es versucht zu zeigen, wie man als Lehrkraft mit Schülern mit geistiger Behinderung bestimmte Aufgaben und Herausforderungen angehen kann – eine Gruppenarbeit planen, auf seine Lehrersprache achten, eine Deutschstunde zum Thema »Buchstabeneinführung« konzipieren, ein Sachunterrichtsthema inhaltlich und methodisch aufbereiten. Angesichts der Vielfalt möglicher Inhalte sowie didaktischer und methodischer Fragestellungen, welche nicht oder nur knapp angesprochen werden, ist mit den vorgestellten Rezepten allerdings auch die Bitte verknüpft, diese als Anstoß zum Dialog und zur steten Weiterentwicklung von Unterricht zu verstehen.
Und schließlich: Die genannten Rezepte verlangen denjenigen, die sie anwenden, einiges ab. Nie können sie einfach so übernommen werden, sondern müssen immer in Bezug auf die jeweilige Klassensituation, in der sie angewandt werden sollen, modifiziert werden. Wenn aber die Schüler im Mittelpunkt stehen und nicht die Rezepte, sollte dies nicht so schwer sein.
1.1.2 Zum Aufbau des Buches
Die Frage nach der klaren Strukturierung von Unterricht ist der »rote Faden«, der sich durch die folgenden Überlegungen, Reflexionen und Vorschläge zur Gestaltung von Unterricht für Schüler mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zieht. Dabei werden sowohl die inhaltliche, »innere« Seite wie auch die unterrichtsmethodische »äußere« Seite von Strukturierung beleuchtet.
• Zunächst wird gefragt, wie Schüler mit geistiger Behinderung lernen – welche Schwierigkeiten, aber auch welche Ansatzpunkte gibt es hier, und inwiefern machen diese eine Strukturierung von Unterricht erforderlich?
• Lehrpläne für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung sind in der Regel Rahmenpläne. Lehrkräfte müssen daher passende Inhalte sowie die dazugehörigen Kompetenzen für ihre Klasse auswählen und strukturieren, indem sie Sachverhalte reduzieren bzw. elementarisieren und in einen Zusammenhang bringen. Nach welchen Gesichtspunkten kann dies geschehen?
• Im Abschnitt zum Prinzip der klaren Strukturierung von Unterricht werden dessen innere und äußere Seite verknüpft: Welche inneren (inhaltlichen) und äußeren (methodischen) Strukturen weist Unterricht auf, und wie können diese in ihrem Zusammenhang herausgearbeitet werden?
• Unterricht definiert sich durch unterschiedliche Strukturen: Kognitive, zeitliche, sprachliche und soziale. Dementsprechend werden der Zusammenhang von Denken und Handeln, die Begriffsbildung (kognitive Strukturen), die Phasen des Unterrichts (Zeit-Strukturen), die Unterrichtssprache von Lehrern und Schülern (sprachliche Strukturen) sowie Sozialformen des Unterrichts (soziale Strukturen) daraufhin untersucht, wie sie so gestaltet und sichtbar gemacht werden können, dass Schüler mit geistiger Behinderung erfolgreich lernen können.
• Einen großen Teil des Buches nimmt die Darstellung fachspezifischer Artikulationsmodelle und im Zusammenhang damit die Auseinandersetzung mit Fragen der Fachdidaktik ein, soweit sie für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung besonders interessant und bedeutsam erscheinen. Die Vielfalt möglicher Inhalte macht hier eine Beschränkung auf einige zentrale Fragestellungen nötig, die exemplarisch auf ihre Bedeutung für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung hin untersucht werden.
• Dass Offenheit und Strukturierung keine Gegensätze sein müssen, sondern sich in sinnvoller Weise ergänzen können, wird abschließend nochmals in einem Kapitel zum Materialgeleiteten Lernen gezeigt.
1.2 Ein Bild von Unterricht
Jeder Lehrer, jede Lehrerin entwickelt sicherlich im Laufe der Jahre eine persönliche Herangehensweise an Unterricht und damit einen individuellen Unterrichtsstil.
Nachdem ich einige Zeit Lehrer gewesen war, stellte ich fest, dass sich mein unterrichtliches Denken und Handeln auf einige charakteristische Merkmale hin verdichtete. Zum einen bemerkte ich, dass mein Unterricht einen ruhigeren Rhythmus und beständigeren Fluss bekam, als er ihn zu Anfang gehabt hatte. Ich führte dies darauf zurück, dass ich es immer besser lernte, das Wesentliche eines Sachverhalts zu erfassen und dies vor allem in einer für meine Schüler nachvollziehbaren Weise in seinen Grundzügen darzustellen, so dass die Stunde inhaltlich einen »roten Faden« bekam. Diesen Inhaltsfaden galt es so zu spinnen, dass er für die Schüler in Form verschiedener methodischer Maßnahmen sichtbar wurde, sie sich daran orientieren konnten und wir uns nicht im Labyrinth inhaltlicher Unklarheit verliefen. Gleichzeitig übte ich mich in der schwierigen Kunst des Weglassens oder verteilte Inhalte, die ich zuvor in eine Stunde gepackt hätte, auf zwei oder drei Einheiten. Die Folge war, dass ich mit meinen Schülern anschaulicher und intensiver an den Dingen arbeiten konnte und sie Zeit und Gelegenheit hatten, eigene Erfahrungen und Bedeutsamkeiten, aber auch ihre Fragen und ihre Neugier auf die Sache einzubringen. Ein weiterer Nebeneffekt dieser Herangehensweise war, dass es im Unterricht meistens lustiger und humorvoller zuging als zuvor. Der Arbeitsrhythmus war entspannter, so dass es auch Räume und Zeiten für kleine Exkurse, Späße und Geschichten zum Thema gab und die Beziehung, die gemeinsame Arbeit von Lehrer und Schülern am Unterrichtsgegenstand mindestens gleichwertig neben der inhaltlichen Arbeit stand.
An die Planung einer Stunde ging ich nicht selten so heran, dass ich zunächst das Tafelbild skizzierte (was stets eine starke Beschränkung auf das Wesentliche verlangt) und von hier aus die Stunde konzipierte.
Neben diesen inhaltlichen Dingen entwickelten sich auch einige individuelle methodische Standards. Stunden »liefen« meistens dann gut, wenn folgende Elemente enthalten waren: eine anschauliche und spannende Hinführung, in deren Verlauf die Schüler genau erfuhren, worum es in der Stunde gehen sollte, und hierzu erste Vorstellungen abrufen und Begriffe bilden oder aktualisieren konnten. Wenn sich hier bereits ein kurzes Unterrichtsgespräch entwickelte, in dessen Verlauf die Schüler eigene Erfahrungen mit dem Lerngegenstand einbrachten, konnte ich oft schon erfahren, ob ich mit ihrem Interesse rechnen konnte oder nicht und was sie aufgrund ihrer eigenen Lebenserfahrungen mit dem Thema assoziierten. Entscheidend war weiterhin ein Maß an Anschaulichkeit, was nicht selten bedeutete, dass Körbe oder Kisten ins Klassenzimmer transportiert werden mussten. Anschaulichkeit und Handlungsorientierung genügen an sich jedoch nicht, wenn den Schülern nicht klar ist, was sie mit den vielen mitgebrachten Dingen anfangen sollen: Die Beziehung der Dinge zueinander versuchte ich durch Versprachlichung und durch eine möglichst durchschaubare Unterrichtsorganisation zu verdeutlichen. Nach spätestens zehn bis fünfzehn Minuten war meist ein Wechsel des Lernorts oder der Sozialform nötig, um die Klasse bei der Stange zu halten und etwa in Einzel-, Partner- oder Gruppenarbeit eine aktive, möglichst selbstständige Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt zu gewährleisten, etwas, das ich meinen Schülern immer zugetraut habe und ermöglichen wollte. Hierzu war es allerdings notwendig, mit den Schülern entsprechende Arbeitsformen einzuüben und die selbstständige Arbeit der Schüler materiell und organisatorisch gut zu planen und vorzubereiten und zu strukturieren. Strukturieren bedeutete in diesem Fall, dass die inhaltlichen Grundlinien des Themas auch in der selbsttätigen Auseinandersetzung der Schüler mit der Sache sichtbar und erfassbar blieben und sich etwa in den Arbeitsmaterialien und der Form der Auseinandersetzung damit widerspiegelten.
Das bereits angesprochene Tafelbild diente nicht nur zur inhaltlichen Zusammenfassung wichtiger Unterrichtsergebnisse, sondern auch als Stütze bei der Versprachlichung wesentlicher Sachverhalte. Ein Arbeitsblatt, welches sich hinsichtlich Text, Abbildungen und Struktur möglichst weitgehend an das Tafelbild anlehnte, sollte zusätzlich deren individuelle Durchdringung ermöglichen.
Als großes, nicht immer in befriedigender Weise zu lösendes Problem stellte sich dabei die Frage der inneren Differenzierung dar: Je nach Zusammensetzung der Klasse bzw. der Heterogenität der Leistungs- und Lernvoraussetzungen galt es Anknüpfungspunkte für alle Schüler zu finden, für leistungsstarke ebenso wie für diejenigen mit schwerer Behinderung, welche basale Förderangebote benötigten. Idealerweise endete die Stunde mit einem Rückgriff auf die Ausgangssituation, indem eine dort gestellte Frage beantwortet, ein Bild oder der eingangs gezeigte Gegenstand unter den erarbeiteten Gesichtspunkten nochmals betrachtet wurde. Meistens (nicht immer) hat diese Mischung aus inhaltlichen und methodischen Entscheidungen funktioniert.
Die Frage nach dem persönlichen Unterrichtsbild ist mir aus zwei Gründen wichtig. Einmal glaube ich, dass Routinen und Rezepte im Unterricht per se nichts Verwerfliches und Anrüchiges sind, sondern orientierend und entlastend wirken können. Dies gilt für Lehrer und Schüler gleichermaßen: Der Lehrer weiß, was »geht«, den Schülern können bekannte, immer wiederkehrende Elemente im Unterricht Sicherheit und Erfolgserlebnisse vermitteln, da sie etwa die damit zusammenhängenden Arbeitsformen beherrschen. Zum anderen können Routinen allerdings auch in Gleichförmigkeit und Langeweile umschlagen oder nicht mehr greifen, weil sich Rahmenbedingungen und Voraussetzungen gewandelt haben. Dann ist es wichtig, sich mit dem eigenen Bild von Unterricht auseinanderzusetzen, es sich in seinen Komponenten bewusst zu machen und zu reflektieren, an welchen Stellen es der Modifikation bedarf. Ein solcher Anlass war für mich persönlich gegeben, als die oben beschriebene Heterogenität der Lern- und Leistungsvoraussetzungen der Schüler meiner Klasse gerade in den Kulturtechniken so groß wurde, dass ich begann, mich mit offenen Unterrichtsformen auseinanderzusetzen und diese in mein pädagogisch-didaktisches Handlungsrepertoire zu integrieren.
Zusammenfassend lässt sich das hier beschriebene Bild von Unterricht so darstellen:
• In erster Linie geht es um die Schüler und ihre Lernbedürfnisse und Lernmöglichkeiten – und dann um die Sache.
• Unterricht lebt von der Beziehung zwischen Lehrer und Schülern – diese Beziehung braucht auch Freiräume, in denen sie atmen und wachsen kann.
• Unterricht vermittelt Bildung: Kinder und Jugendliche entwickeln ihre Persönlichkeit in der Auseinandersetzung mit spannenden und für sie bedeutsamen Inhalten und Themen und damit mit der vielfältigen und bunten Welt – aber auch im Erwerb von Fähigkeiten und Kompetenzen, mit denen sie sich diese Inhalte möglichst selbstständig und bewusst erschließen können.
• Unterricht braucht klare Strukturierung, damit Schüler mit geistiger Behinderung sinnvoll lernen können und wissen, was sie gerade tun.
• Diese Strukturierung ist Aufgabe der Lehrkraft, der damit eine zentrale Stellung bei der Gestaltung von Lernprozessen zukommt.
Das Vertrauen in Rezepte sollte jedoch nicht dazu führen zu übersehen, dass sich Schule und Unterricht nicht im luftleeren Raum ereignen. Schule als Institution ist gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Vorgaben unterworfen, Pädagogik ist nicht immer immun gegen Moden und Trends. Schulische Inklusion, Kompetenzorientierung der Lehrpläne und konstruktivistische Auffassungen von Lernen sind Begriffe, die in die Unterrichtspraxis jedes Einzelnen hineinwirken und es erfordern, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und Stellung zu beziehen. Dies geschieht auch in diesem Buch an der einen oder anderen Stelle.
1.3 Unterricht – kompliziert oder komplex?
Im Gegensatz zum oben beschriebenen Unterrichtsbild, welches die Realität zwar möglicherweise erfolgreich, aber doch holzschnittartig vereinfacht, ist Unterricht immer ein komplizierter oder gar komplexer Prozess – dies gilt für Unterricht generell, in besonderem Maße aber sicherlich für Unterricht im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung.
Komplexe Situationen zeichnen sich dadurch aus, dass Regeln hierfür nicht bekannt sind – dies unterscheidet sie von komplizierten Sachverhalten, die durchaus auf Regeln basieren, welche aber nur unter Schwierigkeiten angewendet werden können (vgl. Anhalt 2012; Häußler 2013b). Durch das Fehlen von Regeln entsteht eine Dynamik, die Ungewissheit erzeugt, standardisierten Problemlösungsmodellen nicht selten widersteht und Pädagogen, denen das Attribut des steten Bescheid-Wissens ja durchaus anhängt, in die »Verlegenheit des Nichtwissens« (Anhalt 2012, 72) bringen kann. Nach dieser Auffassung ist pädagogisches Handeln als soziales Geschehen von den Voraussetzungen auf Seiten von Schülern und Lehrern und von deren Beziehungsgeflecht zueinander geprägt. Vor diesem Hintergrund ereignen sich ständig nur teilweise vorhersehbare Dinge, die rasche Entscheidungen und Maßnahmen erfordern.
Damit ist Unterricht sicherlich nicht bis ins Letzte vorhersehbar und planbar – wobei aus dieser »Unplanbarkeit« allerdings keine »Planlosigkeit« (vgl. Lersch 1988, 3) abgeleitet werden sollte. Und es ist ja auch nicht so, dass Unterricht allenfalls den Gesetzen der Chaostheorie gehorchen würde – jede erfahrene Lehrkraft hat in ihrem Handwerkskoffer einige Werkzeuge, die in der Regel »funktionieren«.
Dennoch bleibt – bei aller Diagnostik, bei aller Planung und allem methodisch-didaktischem Know-how – eine nicht auflösbare Ungewissheit. Die hier angesprochene besondere Schülerschaft in ihrer Heterogenität (sowohl was Lebensalter als auch was Entwicklungsstand betrifft), insbesondere aber auch in ihrer Individualität fordert ein hohes Maß an Verstehens- und Deutungsarbeit. Damit sind nicht in erster Linie Kenntnisse in sonderpädagogischer Diagnostik gemeint (die nicht schaden können, vielleicht aber auch bisweilen überschätzt werden). Es geht um die Schärfung eines sonderpädagogisch geschulten ...