Martin Rehak
Wie weit reicht die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramts?
Can. 750 § 2 CIC und die Lehre von den „Katholischen Wahrheiten“
1. Einführung in die Problemstellung
Der folgende Beitrag reflektiert, was die Kirche über die Möglichkeiten und Grenzen ihrer eigenen Lehrtätigkeit lehrt.1 Das besondere Interesse gilt dabei der Frage: Wie weit reicht die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramts?
Das klingt wie eine einfache, klassische Katechismusfrage (aus der Zeit, als der Katechismus noch nach dem Frage-Antwort-Schema aufgebaut war), auf die der Katechimus der Katholischen Kirche kurz und bündig so antwortet: „Diese Unfehlbarkeit reicht so weit wie das Glaubenserbe der göttlichen Offenbarung.“2
Als Quelle gibt der Katechismus die auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erarbeitete Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen Gentium an.3 Überprüft man diese Fundstellenangabe, so kann man je nach dem, zu welchem Hilfsmittel man greift, eine kleine Überraschung erleben. Im Denzinger sowie in Herders Theologischem Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil findet sich eine wortgetreue Übersetzung des maßgeblichen lateinischen Textes:
„Diese Unfehlbarkeit aber, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Bestimmung einer Lehre über den Glauben oder die Sitten ausgestattet sehen wollte, reicht so weit, wie die Hinterlassenschaft der göttlichen Offenbarung reicht, die unantastbar bewahrt und getreulich ausgelegt werden muss.“4
Zieht man jedoch das Kleine Konzilskompendium oder den Ergänzungsband zur zweiten Auflage des Lexikon für Theologie und Kirche zu Rate, so wird einem die folgende Übersetzungsvariante geboten, wonach – verkürzt gesagt – die Unfehlbarkeit so weit reicht, wie es erforderlich ist:
„Diese Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definierung einer Glaubens- oder die Sittenlehre ausgestattet sehen wollte, reicht so weit, wie die Hinterlage der göttlichen Offenbarung, welche rein bewahrt und getreulich ausgelegt werden muss, es erfordert.“5
Diese Übersetzungsvariante hat vor etlichen Jahren eine geharnischte Kritik des damaligen Würzburger Dogmatikers Walter Simonis provoziert, nachzulesen in seinem recht avantgardistischen Dogmatiklehrbuch aus dem Jahre 1995:
„Was allerdings die offizielle, von der Deutschen Bischofskonferenz approbierte Übersetzung […] betrifft, so können wir nicht umhin, auf einen gravierenden Fehler hinzuweisen. […] Jeder des Lateinischen einigermaßen Kundige wird sogleich verstehen […] daß es sich bei dem ‚ sancte custodiendum et fideliter exponendum‘ um ein Gerundivum handelt, das unmittelbar allein dem ‚ depositum revelationis‘ gilt […]. Ebenso eindeutig und unproblematisch ist das ‚ tantum – quantum‘, zumal das ‚ patet‘ sogar wiederholt wird. Die Infallibilität reicht so weit, wie das ‚ depositum revelationis‘ reicht. – Was aber macht der Übersetzer daraus? […] Von einem ‚erfordert‘ ist im Text überhaupt nicht die Rede! […] Wäre seine Übersetzung von Lumen Gentium sinngemäß richtig (grammatikalisch gesehen ist sie einfach falsch), so hätte das Vatikanum II dem infalliblen Lehramt praktisch einen Blankoscheck ausgestellt. […] Stellt Lumen gentium die Sache so dar, daß Infallibilität und depositum revelationis strikt aufeinander bezogene Größen sind, so zielt die deutsche Übersetzung […] auf das jenseits des Bereiches des depositum revelationis Liegende ab, eben auf das zur Bewahrung der Auslegung der Offenbarung sonst noch Erforderliche.“6
Papst Johannes Paul II. (1978–2005) hat im Jahre 1998 als Gesetzgeber der Universalkirche einige Änderungen im Codex Iuris Canonici der Lateinischen Kirche vorgenommen, und dabei zu can. 750 CIC einen neuen § 2 eingefügt:7
„Firmiter etiam amplectenda ac retinenda sunt omnia et singula quae circa doctrinam de fide vel moribus ab Ecclesiae magisterio definitive proponuntur, scilicet quae ad idem fidei depositum sancte custodiendum et fideliter exponendum requiruntur; ideoque doctrinae Ecclesiae catholicae adversatur qui easdem propositiones definitive tenendas recusat.“8
In can. 750 § 2 CIC begegnet damit nicht nur erneut die bereits aus LG 25,3 bekannte Formel vom Glaubenserbe, das unversehrt zu bewahren und treu auszulegen ist („ fidei depositum sancte custodiendum et fideliter exponendum“), sondern jetzt erscheint auch im lateinischen Original das ominöse „ requiruntur“, „es ist erforderlich“.
Damit stellen sich weitere Fragen: Reicht die Unfehlbarkeit des kirchlichen Lehramts also doch weiter als das depositum fidei, das geoffenbarte Glaubenserbe? Erstreckt sie sich auf alles und jedes, was im Urteil des Lehramts erforderlich ist, um die Glaubens- und Sittenlehre zu bewahren und auszulegen? Hat sich womöglich der kirchliche Gesetzgeber in can. 750 § 2 CIC jenen Blankoscheck ausgestellt, der ihm laut Walter Simonis auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil verweigert worden war?
2. Die Lehre des Ersten Vatikanischen Konzils über die Reichweite der Unfehlbarkeit
Die Definition in der Dogmatischen Konstitution Pastor Aeternus
Wendet man sich zur Klärung all dieser Fragen zunächst der Lehre des Ersten Vatikanischen Konzils über die Unfehlbarkeit von Kirche und Papst zu, so erwartet einen dort die nächste Überraschung: Der Text der Dogmatischen Konstitution Pastor Aeternus spricht zunächst davon, dass die Apostel das depositum fidei „heilig bewahren und getreu auslegen“ sollten, und zu diesem speziellen Zweck ihnen der Beistand des Heiligen Geistes verheißen wurde.9 Hier ist klar das Prinzip der so genannten assistentia negativa angesprochen, gemäß welchem der Beistand des Heiligen Geistes keine neuen Offenbarungserkenntnisse bewirkt. Zur Reichweite der päpstlichen Unfehlbarkeit, also zu den Gegenständen und Inhalten unfehlbaren Lehrens, finden sich in der Konstitution selbst dann jedoch die folgenden beiden Aussagen:
Zunächst wird ganz allgemein gesagt, dass Unfehlbarkeit für die Glaubens- oder Sittenlehren, die von der Universalkirche festzuhalten sind („ doctrina de fide vel moribus […] tenenda“10), in Anspruch genommen werden kann; anschließend heißt es, dass die päpstliche Unfehlbarkeit jene ist, mit der Christus seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte („ Romanum Pontificem […] ea infallibilitate pollere, qua divinus Redemptor Ecclesiam suam in definienda doctrina de fide vel moribus instructam esse voluit.“):
„Romanum Pontificem, cum ex cathedra loquitur, id est, cum omnium Christianorum pastoris et doctoris munere fungens pro suprema sua Apostolica auctoritate doctrinam de fide vel moribus ab universa Ecclesia tenendam definit, per assistentiam divinam ipsi in beato Petro promissam, ea infallibilitate pollere, qua divinus Redemptor Ecclesiam suam in definienda doctrina de fide vel moribus instructam esse voluit; […] (Wenn der Römische Bischof ‚ex cathedra‘ spricht, das heißt, wenn er in Ausübung seines Amtes als Hirte und Lehrer aller Christen kraft seiner höchsten Apostolischen Autorität entscheidet, dass eine Glaubens- oder Sittenlehre von der gesamten Kirche festzuhalten ist, dann besitzt er mittels des ihm im seligen Petrus verheißenen göttlichen Beistands jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- und Sittenlehre ausgestattet sehen wollte […].“11
Mit dieser Aussage ist zunächst klargestellt, dass die Unfehlbarkeit des Papstes und die Unfehlbarkeit der Kirche hinsichtlich ihrer möglichen Gegenstände und Inhalte deckungsgleich sind. Der genaue Sinn und die Tragweite dieser zweiten Formulierung über mögliche Objekte irrtumsfreier Lehre bestehen jedoch nicht allein darin, die diesbezüglichen Charismen des Papstes und der Kirche zu parallelisieren. Dem kritischen Analysten wird vielmehr auffallen, dass die zweite Formel ihrerseits keinen präzisen Aufschluss darüber gibt, von welcher Reichweite denn die Unfehlbarkeit der Kirche ist, so dass das Konzil hier also gewissermaßen in der Definition mit einem Verweis auf eine unbestimmte Größe arbeitet und gleichsam einen Platzhalter verwendet.
Wie konnte das passieren? Auf diese Frage lässt sich eine historische und eine systematische Antwort geben; zunächst die historische: Das Konzil hat sein ursprüngliches Arbeitsprogramm, gemäß welchem eine umfassende Lehre von der Kirche vorgelegt werden sollte, weder planmäßig durchgeführt noch vollendet. Nach den ursprünglichen Planungen sollte das Konzil eine umfassende Dogmatische Konstitution über die Kirche erarbeiten und nicht bloß eine Dogmatische Konstitution über das Papsttum. In der Kirchenkonstitution wäre daher die Gelegenheit gewesen, die Frage nach der Reichweite der kirchlichen Unfehlbarkeit eingehend zu klären. Dann wurde jedoch – nicht zuletzt auf Wunsch des Papstes und auf Drängen ultramontaner Konzilsväter – der Themenkreis „Papst, Primat, Unfehlbarkeit“ isoliert und vorgezogen; nach Ausbruch des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 wurde das Konzil abgebrochen. Die Klausel: „jene Unfehlbarkeit, mit der der göttliche Erlöser seine Kirche bei der Definition der Glaubens- oder Sittenlehre ausgestattet sehen wollte“ stellt also einen (faktisch ins Leere gehenden) Binnenverweis auf jene Kirchenkonstitution des Ersten Vatikanischen Konzils dar, die über Entwürfe nie hinausgekommen ist.12
Damit zur systematischen Antwort: Das Konzil respektive die Theologische Kommission (Glaubensdeputation) des Konzils, die die Konzilstexte vorbereitet und die Änderungsvorschläge der Konzilsväter geprüft und danach die Schemata redigiert hat, sah sich noch mit dem weiteren Problem konfrontiert, dass es unter den Konzilsvätern und Theologen des Ersten Vatikanischen Konzils keine einhellige Auffassung in der Frage gab, inwieweit und inwiefern die kirchliche Unfehlbarkeit über das depositum fidei im engen Sinn hinausreicht.13 Die schließlich gewählte Formulierung ermöglichte es daher, diese theologische Streitfrage – zumindest vorläufig – unentschieden zu lassen; und so auch die konziliare Lehrentscheidung über die ekklesiologische Stellung des Papstes in der Kirche nicht durch eine vorgängige Klärung dieser Streitfrage zu verzögern.
Exkurs: Die Lehre von der Unfehlbarkeit im Entwurf der Kirchenkonstitution
Ein erster Entwurf zu einer Konstitution über die Kirche war im Vorfeld des Ersten Vatikanischen Konzils von den Jesuiten Giovanni Perrone (1794–1876), Clemens Schrader (1820–1875) und Johannes B. Franzelin (1816–1886) erarbeitet worden, die sich als Professoren an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom einen Namen gemacht hatten.14 Dieser Textvorschlag bietet eine weite Formulierung, die neben dem geoffenbarten Wort Gottes auch alles umfasst, was notwendig ist, um die Glaubenslehre zu erklären und gegen menschliche Irrtümer und falsche Wissenschaft zu verteidigen.15 Für die Konzilstheologen gibt es demnach ein primäres Objekt und ein sekundäres Objekt der Unfehlbarkeit. Das primäre Objekt der Unfehlbarkeit umfasst das von Gott selbst Offenbarte. Das sekundäre Objekt der Unfehlbarkeit versetzt die Kirche in die Lage, die Offenbarung Gottes gegen Irrtümer aller Art zu verteidigen. Nähere Ausführungen dazu, was im Einzelnen zum sekundären Objekt der Unfehlbarkeit zu zählen sei, findet sich im Entwurf der Konzilstheologen nicht. Der Entwurf sah auch einen Kanon mit einer Lehrverurteilung vor, der zufolge diejenigen mit einem Anathem belegt werden sollten, die eine Beschränkung der Unfehlbarkeit der Kirche auf das primäre Objekt behaupten und bezüglich des sekundären Objekts die Unfehlbarkeit der Kirche ausschließen.16
Dieser Entwurf zog in der Frage nach dem sekundären Objekt der Unfehlbarkeit in unterschiedlicher Weise die Kritik der Konzilsväter auf sich:17 Eine erste Gruppe wünschte eine präzise und ausführliche Darlegung, welche Sachverhalte im Einzelnen unter das sekundäre Objekt der Unfehlarbeit zu rechnen seien. „Eine zweite, allerdings ziemlich kleine, Gruppe widersetzt sich der Lehre, daß die Unfehlbarkeit der Kirche sich auch über nichtgeoffenbarte Wahrheiten erstreckt. Nach ihrer Auffassung sei diese Lehre nicht richtig oder wenigstens anzuzweifeln“18; als Vertreter der zweiten Gruppe ...