1. EinfĂŒhrung
1.1 Die AnfÀnge einer Sprachreflexion im Abendland und ihr jÀhes Ende
Arno Borst beginnt sein monumentales Werk zur Geschichte der Meinungen ĂŒber den Ursprung und die Vielfalt der Sprachen und Völker mit folgender Episode (Borst 1957, 3): Ein Mann aus Verona mit Namen Bonigrinus stand 1296 vor dem Inquisitionsgericht in Bologna, vor dem er als AnhĂ€nger der Irrlehre der Katharer angeklagt war. Das Verhör bestĂ€tigte diesen Verdacht. Bonigrinus gab an, dass der Teufel alles Irdische geschaffen habe, auch sei die Sintflut sein Werk gewesen. Völlig anders bewertete er den Turmbau zu Babel und das Ereignis der Sprachentrennung. Statt diese als Teufelswerk hinzustellen, plĂ€dierte er mit einem völlig unkatharischen Argument fĂŒr die Gleichheit aller Sprachen und Religionen: âitem dixit, quod sicut sunt LXXII linguae, ita sunt LXXII fidesâ, als ob die Teilung der Sprachen und Religionen in gleicher Weise göttlichem Ratschluss entsprĂ€che. Bonigrinus entpuppte sich als ein frĂŒher Vertreter einer pluralistischen Religionstheorie. AuffĂ€llig ist die Koppelung von sprachlicher Zugehörigkeit und religiöser IdentitĂ€t. Bonigrinus endete 1297 auf dem Scheiterhaufen.
Der Glaube an 72 Sprachen war fester Bestandteil der Sprachtheorie im Mittelalter. Borst fasst den Topos oder das Klischee wie folgt zusammen: âGott schuf den Menschen und gab ihm die Sprache; diese Sprache deckte sich mit den Dingen genau; Gott redete mit Adam HebrĂ€isch. Aus Adams Familie erwuchsen viele StĂ€mme, die alle ein Volk mit einer Sprache blieben. Erst in Babel wurde durch den frevelhaften Turmbau die Einheit des Menschengeschlechts zerrissen; es entstanden durch Gottes wunderbares Eingreifen 72 Sprachen und 72 Völker, die alle mit der hebrĂ€ischen Ursprache und Adams Volk verwandt waren und blieben. Von ihnen stammten die âheutigenâ Sprachen und Völker unmittelbar ab, noch immer 72 an der Zahl. Bei der Sprachenteilung blieb es bis Pfingsten; seither ist die Differenzierung durch die göttliche Stiftung der Kirche, durch den Aposteln vom Heiligen Geist geschenkte Kenntnis aller Sprachen ĂŒberwunden; die drei am Kreuz Christi angebrachten Sprachen HebrĂ€isch, Griechisch und Latein sind zugleich als Bibelsprachen ĂŒber alle anderen Idiome hinausgehoben und geheiligt. In ihnen werden sich die getrennten Völker versammeln, und am Ende der Zeiten werden alle StĂ€mme dem Herrn im Himmel auf HebrĂ€isch ihr Halleluja singenâ (Borst 1957, 6). SĂ€mtliche der soeben aufgefĂŒhrten Motive kommen in mittelalterlichen Texten wirklich vor, aber neben ihnen finden sich auch zahlreiche andere Spekulationen, so dass sich eigentlich nicht von einer einheitlichen Sprachtheorie im Mittelalter sprechen lĂ€sst. Die Zahl der Sprachen stand zu der Völkerzahl in eher lockerem Zusammenhang. Die Bedeutung der Ereignisse am Turm von Babel wurde kontrovers diskutiert. Ăber den Urzustand im Paradies waren widersprĂŒchliche Hypothesen im Umlauf: ob Adams Sprache HebrĂ€isch, Syrisch oder gar Deutsch war; ob Gott zu Adam in einer dieser Sprachen redete oder ob er die âSpracheâ der Naturerscheinungen, Blitz, Donner, Wolke benutzte; ob er sich gar nicht vernehmlich Ă€uĂerte, sondern durch Eingebung mit Adam kommunizierte. Nicht weniger vielfĂ€ltig waren die Ansichten ĂŒber Art und Zahl der heiligen Sprachen und die wiedergefundene Spracheinheit am Ende der Zeiten.
Was sagt die hebrĂ€ische Bibel ĂŒber den Anfang? Am Anfang sprach Gott: âEs werde Licht.â Und es wurde Licht. Die Schöpfung hebt an als eine gewaltige Sprechhandlung Gottes. Erst durch das Aussprechen der Dinge erhalten diese ihr Sein und ihr Wesen. In Genesis 2,16 spricht Gott erstmals mit Adam, um ihm die Bewahrung und NutznieĂung des Gartens (mit Ausnahme der FrĂŒchte des Baumes der Erkenntnis von âböseâ und âgutâ) zu ĂŒbertragen. In welcher Sprache redete Gott mit Adam? War es HebrĂ€isch? Schon bei den Rabbinen beginnt der Streit ĂŒber diese Frage und setzt sich ĂŒber die KirchenvĂ€ter bis ins Mittelalter hinein fort. AuffĂ€llig ist, dass Gott nicht damit beginnt, aus dem Ackerboden die Tiere des Feldes und die Vögel des Himmels zu formen, bevor er mit Adam geredet hatte. Gott fĂŒhrte die untermenschliche Kreatur, die er aus Lehm herstellte, dem Adam zu, um zu sehen, wie er (Adam) sie benennen wĂŒrde. Wie Adam jedes Lebewesen benennen wĂŒrde, so sollte es heiĂen. Die Bibel weist Adam die Rolle des âNomotheten oder Gesetzgebersâ, d. h. des âersten Schöpfers der Spracheâ zu, wie sie auch in der Mythologie anderer Kulturen nachweisbar ist (Eco 1994, 21). Die Bibel lĂ€sst es offen, auf welcher Grundlage Adam die Tiere benannte. Benannte er sie bei einem Namen, der ihnen auf der Grundlage eines âauĂersprachlichen Rechtsâ zukam (ebd.), oder ging er bei der Namensgebung willkĂŒrlich vor? Hat Adam jedes Tier auf der Grundlage einer wesentlichen Bestimmung, seiner Natur benannt, oder begrĂŒndete er mit der Benennung lediglich eine Konvention?
In
Genesis 2,22f. erblickt Adam die ihm zugedachte âHilfeâ, die âihm entsprachâ, was sich in der von Adam vorgenommenen Namensgebung ausdrĂŒckt: âDas ist doch nun endlich Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch,
MĂ€nnin soll sie heiĂen, denn vom Mann ist sie genommenâ, so in der Ăbersetzung Martin Luthers, der das hebrĂ€ische
so ĂŒbersetzt, um hörbar zu machen, dass es sich um das Feminin zu
handelt. In
Genesis 3,20 nennt Adam seine Frau âEvaâ, was âLebenâ oder âMutter der Lebendenâ bedeutet. Wir haben also zwei FĂ€lle von âBenennungen nicht-willkĂŒrlicher Artâ, in denen der Mensch die Sache mit ihrem ârichtigenâ Namen benennt (Eco 1994, 22).
Die Frage des Nomotheten oder Gesetzgebers des Namens wird in Platons Dialog Kratylos, der ersten sprachphilosophischen Abhandlung im Abendland, explizit gestellt und unbeantwortet gelassen. Der Gesetzgeber könnte den Dingen einen Namen verliehen haben, der ihnen kraft ihrer Natur (ÏÏÏΔÎč) zukommt, er könnte mit der Benennung aber auch nichts weiter als eine Konvention begrĂŒndet haben. In diesem Fall trĂŒgen die Dinge einen Namen, der ihnen aufgrund einer Ăbereinkunft (ΜÏÎŒáżł) zukomme. Der FĂŒrsprecher der KonventionalitĂ€tsthese ist Hermogenes, die These von der natĂŒrlichen Richtigkeit der Namen wird Kratylos, nach dem der Dialog benannt ist, in den Mund gelegt. Sokrates zeigt sich im Dialog zunĂ€chst unentschieden. Er probiert es mit Etymologien, er diskutiert die These, dass der Name durch Lautnachahmung oder Lautmalerei (Onomatopöie) richtig benenne und gibt diese These der LĂ€cherlichkeit preis, und hĂ€lt dann mit der eigenen Position nicht lĂ€nger hinter dem Berg, wonach die wahre Erkenntnis nicht von den Benennungen (âWortenâ), sondern von den Sachen selber auszugehen hat. Wenn es ĂŒberhaupt eines âNomothetenâ bedarf, dann ist dieser kein andere als der in der Dialektik, d. h. an der am Wahren interessierten Unterredungskunst geschulte Philosoph. Platon schlĂ€gt einen dritten Weg zwischen der KonventionalitĂ€tsthese des Hermogenes und der These des Kratylos von der natĂŒrlichen Richtigkeit der Namen ein, womit er das Problem beiseiteschiebt. Die Sprache ist seither kein eigentliches Thema fĂŒr die Philosophie des Abendlandes. Das zentrale Thema der Philosophie der Antike und des Mittelalters ist das Seiende, verstanden als Idee (Platon) oder als substanzielle Form (Aristoteles). Seit dem SpĂ€tmittelalter schiebt sich die erkenntniskritische Skepsis vor die Erkennbarkeit des so verstandenen Seienden. Die theoretische Philosophie der Neuzeit schlĂ€gt sich mit der Frage der ObjektivitĂ€t unserer Begriffe und der unerschĂŒtterlichen Fundamente unseres Wissens vor dem Hintergrund der universell gewordenen Skepsis herum, nicht mehr mit dem Seienden.
Literatur:
Eco 1994.
Kraus 1996.
Prechtl 1998.
Leiss 2009.
1.2 Denken in der Neuzeit
Die TĂ€tigkeiten, die wir seit dem Beginn der Neuzeit âDenkenâ nennen, untergliedern sich entsprechend des dreistufigen Schemas der damaligen Logik in die Handlungen des Begreifens (Begriffsbildung), des Urteilens und des SchlieĂens. Die Trias liegt allen LogikbĂŒchern der Epoche seit der Logik von Port-Royal von 1662 zugrunde (Arnauld/Nicole 1994). Noch Immanuel Kant unterteilt den ersten Hauptteil seiner Logik, die Allgemeine Elementarlehre, in die Abschnitte: (1.) âVon den Begriffenâ, (2.) âVon den Urteilenâ, (3.) âVon den SchlĂŒssenâ (Kant 1977, 521ff.). Bei der Begriffsbildung geht unser Verstand induktiv vor, indem er die PhĂ€nomene vergleicht, Ăhnlichkeiten feststellt und bestimmte Merkmale abstrahiert, die er in einem Begriff zusammenfasst. Der Begriff ist stets der Begriff eines Gegenstandes. Die basalste Form des Urteils ist die Subsumtion eines Gegenstands unter einen Begriff, z. B.:
Dieser [Mensch] ist weise.
Im Urteil lassen sich aber auch mehrere Begriffe von einem Gegenstand miteinander verknĂŒpfen. Das Urteil ist demnach ein VerknĂŒpfen oder Trennen der Begriffe von GegenstĂ€nden, d. h. eine Synthesis von Begriffen mit Blick auf GegenstĂ€nde, z. B.
Der Berg raucht.
SchwĂ€ne haben weiĂes Gefieder.
Nicht alle Menschen sind weise.
Ein Urteil kann wahr oder falsch sein. Werden Urteile in eine bestimmte Form gebracht, lassen sich aus Urteilen weitere Urteile ableiten, ohne dass die Wirklichkeit ĂŒber die Wahrheit dieser Urteile befragt werden mĂŒsste. Die Wahrheit von Urteilen lĂ€sst sich also manchmal auch an der Form von Urteilen ablesen, z. B.
[PrÀmisse:] Alle Menschen sind sterblich.
[PrÀmisse:] Alle Athener sind Menschen.
[Konklusion:] Alle Athener sind sterblich.
Die in der Trias von Begriff, Urteil, Schluss zusammengefassten VerstandestĂ€tigkeiten sind keine sprachlichen TĂ€tigkeiten. Begriff, Urteil, Schluss besitzen zwar Ăquivalente in den natĂŒrlichen Sprachen â jedem Begriff entspricht idealerweise ein PrĂ€dikatswort in einer Sprache, der VerknĂŒpfung von Subjekt und PrĂ€dikat im Satz entspricht die Synthesis der Begriffe von einem Gegenstand im Urteil, dem Schluss entspricht die Ableitung von wahren Urteilen aus wahren Urteilen â, aber die entsprechenden Verstandeshandlungen sind nicht wesentlich an die Verwendung von Sprachzeichen gekoppelt. Begriffe dĂŒrfen daher nicht mit den PrĂ€dikatswörtern einer Sprache, Urteile nicht mit Aussagen und SchlĂŒsse nicht mit Ableitungen von Aussagen aus Aussagen verwechselt werden.
1.3 Die abgeleitete IntentionalitÀt der Sprachzeichen
Was wir die Semantik von Sprachzeichen nennen â dass Wörter Bedeutung haben und fĂŒr GegenstĂ€nde stehen, dass Aussagen wahr oder falsch sind â, gilt als ein PhĂ€nomen, das sich von der Tatsache herleitet, dass Menschen die FĂ€higkeit besitzen, eine Konvention der Art zu begrĂŒnden, dass Typen von Lauten oder Schriftgebilden dazu benutzt werden können, den Inhalt von Urteilen auszudrĂŒcken und mitzuteilen. Die Erfindung des Geistes, mittels Laut- und/oder Schrifttypen Gedankeninhalte auszudrĂŒcken und mitzuteilen, nennen wir eine âSpracheâ. Eine Sprache besteht, stark vereinfacht ausgedrĂŒckt, aus zwei endlichen Mengen: (1.) aus einem endlichen Vorrat an Zeichen, den Phonemen, die nicht weiter variiert, sondern zu Morphemen (Silben) und Lexemen (Wörtern) kombiniert werden; (2.) aus einer endlichen Menge von VerknĂŒpfungsregeln (Syntax, Grammatik), die es erlauben, aus Wörtern SĂ€tze zu bilden. Durch Flexion und VerknĂŒpfung lassen sich immer komplexere SĂ€tze bilden. Der Satz ist die grundlegende Einheit der VerstĂ€ndigung, d. h. mittels SĂ€tzen, und nur mit ihnen, können wir einen Inhalt ausdrĂŒcken, d. h. etwas zu verstehen geben. SĂ€tze können wahr oder falsch sein. Wörter haben Bedeutung, weil sie in SĂ€tzen verwendet werden können, in denen wir etwas zum Ausdruck bringen, mit dem wir Wahrheit beanspruchen.
Von sich her haben die Laut- und/oder Schrifttypen, die im Verbund mit VerknĂŒpfungsregeln eine Sprache konstituieren, keinerlei Bedeutung. Die Semantik der Sprachzeichen ist vielmehr von der IntentionalitĂ€t des menschlichen Geistes entlehnt, d. h. von seiner FĂ€higkeit, Begriffe auszubilden, denen GegenstĂ€nde entsprechen, und mittels der Begriffe Urteile zu fĂ€llen, die mit Blick auf einen gegebenen Sachverhalt wahr oder falsch sein können. Der Begriff der IntentionalitĂ€t, der das Vermögen des Geistes bestimmt, sich auf etwas zu beziehen, seien es reale oder nur vorgestellte GegenstĂ€nde, Eigenschaften oder Sachverhalte, geht in der modernen Diskussion auf den Philosophen und Psychologen Franz Brentano zurĂŒck (Brentano 1924). Der Sache nach ist das PhĂ€nomen seit der Antike bekannt.
IntentionalitĂ€t im ursprĂŒnglichen Sinn kommt allem Anschein nach dem Geist allein zu, niemals den Sprachzeichen. Die Semantik jedweder Sprache wurzelt in der IntentionalitĂ€t des Geistes von Denkerinnen und Denkern, welche Sprache haben. In der Reihenfolge der ErklĂ€rung hat die ErklĂ€rung der IntentionalitĂ€t des Geistes Vorrang vor der ErklĂ€rung der Semantik der Sprachzeichen. Die ErklĂ€rung der IntentionalitĂ€t des Geistes fĂ€llt in den ZustĂ€ndigkeitsbereich der Philosophie des Geistes, die ErklĂ€rung der Semantik von sprachlichen Zeichen in die ZustĂ€ndigkeit der Sprachphilosophie. Wenn der ErklĂ€rung der IntentionalitĂ€t des Geistes gegenĂŒber der ErklĂ€rung der Semantik einer Sprache der Vorrang ge...