Teil II: Temporäre Konzepte in der Stadt- und Regionalentwicklung
Auf dem Wege sein … Temporäre Konzepte als Mittel schöpferischer Umweltgestaltung
Thomas Schriefers
Abb. 4: Mit der eigenen Behausung unterwegs. (Collage: Thomas Schriefers)
1. Temporär – dauerhaft?
Mit dieser Frage verband sich lange Zeit eine Diskussion um Wert und Qualität baulichen Schaffens. Gerade in Zeiten eines propagierten Baukulturgedankens schien sie sich zu stellen. Doch zeigt die Entwicklung der vergangenen 50 Jahre, dass längst nicht mehr die gängigen Bewertungsmaßstäbe im Sinne von temporär (= minderwertig) und dauerhaft (= werthaltig) zutreffen. Die faktische Vergänglichkeit der Bausubstanz trägt dazu ebenso bei wie die nach Alter steuerrechtlich berechnete Wertminderung privaten Wohneigentums. Zudem gelten Bauten, welche im Rahmen etwa einer Weltausstellung für den Abriss errichtet wurden, längst zu den bedeutenden Zeugnissen der Baukultur, z. B. Mies van der Rohes berühmter Barcelona-Pavillon, der 1929 als Ausstellungsgebäude der Deutschen Regierung für die Weltausstellung in der katalanischen Hauptstadt errichtet wurde. Als Inkunabel des modernen Bauens klassifiziert, ist der Pavillon, Jahrzehnte nach seiner Demontage, an gleicher Stelle wiederaufgebaut worden. In kaum einem Standardwerk der Architektur fehlt der Hinweis auf dieses Bauwerk, in dem sich der Geist der progressiven Kräfte um 1929 manifestiert. Und doch handelt es sich um Architektur, die unter normalen Umständen im urbanen Raum nicht realisiert worden wäre, denn sie ist das Resultat des Bauens im Ausnahmezustand einer internationalen Ausstellung, wo Nationen im Wettbewerb aufeinandertrafen, um für ihre Zukunftskonzepte zu werben. Nicht wenigen galt die Demonstration der eigenen Zukunftszugewandtheit als schlagkräftiges Argument. Daher war man auf Weltausstellungen bereit, ein gestalterisches Wagnis einzugehen, um Visionen Ausdruck zu verleihen. Derartige Architektur wird zum informationsverdichteten Ideenraum. Darin artikuliert sich eine grundlegende Eigenschaft temporärer Raumkonzepte: sie regen zum Denken und zur Diskussion an. Sie bedürfen dabei weniger des Pathos denn eines tragfähigen Gedankens, der sich verstärkt, einprägt und weitergetragen wird.
2. Interventionen
Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts eignen sich Künstler verstärkt urbane Räume an, um sie für kurze Zeit pointiert zu wandeln. Zeitlich begrenzt in bestehende Strukturen einzugreifen, sie kritisch auf den Prüfstand zu stellen, ist eines der Konzepte. Die Schaffung irritierender Nachbarschaften hilft, die Belastbarkeit des Bestandes auszuloten. Ein anderes Konzept zielt lösungsorientiert auf die Verbesserung verwahrloster Bereiche, ein drittes auf deren Potenziale und ein viertes auf die Aktivierung bürgerlichen Engagements im Sinne der Partizipation. Ziel ist es stets, eingebrannte Sehgewohnheiten zu sprengen, um den Blick für Neues zu schärfen. Das Gestalten im Ausnahmezustand erlaubt schließlich, ohne Ernstfall-Konsequenzen spielerisch auszuloten, was möglich oder zumindest denkbar ist. Die uns alltäglich umgebende Realität wird dazu gewandelt, von den geltenden Spielregeln befreit und durch möglicherweise nur momentan nutzbare Muster ersetzt (Mon, 1968). Das gilt besonders für Pop-up-Konzepte, etwa die vorübergehende Nutzung leerstehender Geschäftsräume, die nur für einen bestimmten Zeitraum wiederbelebt werden. Nach der Devise Vielheit statt Einheit wird dabei mit disparaten Versatzstücken gearbeitet, die in ungewohnter Nachbarschaft den Blick fesseln und zur besonderen Aufmerksamkeit anregen. Entsprechende Installationen feiern den Augenblick, um gegebenenfalls schnell in sich selbst zu vergehen. So vereint das für den Moment konzipierte Werk, welches Demonstrations- und Spielzwecken dient, Anschaulichkeit mit der Lust des Zurschaustellens, der Freude am Sehen und Gesehenwerden.
Vor diesem Hintergrund ist eine temporäre Demonstrationsarchitektur ohne Selbstdarstellung kaum denkbar. Idealerweise rufen derartige Aktivitäten Reaktionen hervor, sie fordern zum Meinungsaustausch auf und eignen sich daher, Tendenzen allgemeiner Sprachlosigkeit zu überwinden. Sie geben Impulse und schärfen unser Bewusstsein für Probleme. Schließlich fördert die Bildung temporärer Projekträume, frei von institutionellen Zwängen, interdisziplinäre Kooperationen mit dem Ziel, unorthodoxe Lösungen zu entwickeln. Dabei entstehen
• Orte kalkuliert provozierter Ausnahmezustände (z. B. künstlerisch motiviert),
• Orte der daraus resultierenden Aufmerksamkeit (ökonomisch oder didaktisch motiviert),
• Orte der gemeinsamen Aktivität (Arbeiten und Wohnen), des Feierns, der Kommunikation, des Spiels, des risikolosen Abenteuers sowie möglicher Grenzerfahrungen,
• Orte der Umwidmung und Revitalisierung,
• Orte der Partizipation,
• Orte der Simulation einer möglichen neuen Wirklichkeit (z. B. im Wohnlabor).
3. Ein Beispiel
Platzda! war das Motto einer gleichnamigen Veranstaltungsreihe, mit der sich das Planungsamt der Stadt Düsseldorf im Jahr 2004 an alle Bürgerinnen und Bürger wendete. Die Aufmerksamkeit galt dem öffentlichen Raum und der Frage, wie die Lebensqualität des Stadtraums insgesamt verbessert werden könnte. Eine der vielen Initiativen befasste sich mit temporärer Architektur am besonderen Ort. Exemplarisch widmete man sich der Düsseldorfer Gustav-Gründgens Platzanlage, wo sich zwei spektakuläre Gebäude gegenüberstehen: Auf der einen Seite das dem Hofgarten zugewandte Schauspielhaus, welches der Architekt Bernhard Pfau 1970 als organisch anmutende Bauplastik realisiert hatte und auf der anderen Seite das wegen seiner Erscheinung auch Dreischeibenhaus genannte Verwaltungsgebäude des Thyssen-Krupp-Konzerns, das zwischen 1957 und 1960 nach Plänen der Architekten Helmut Henrich und Hubert Petschnigg errichtet worden war.
Der spannungsvolle Dialog der 94 Meter hoch aufragenden Scheiben-Architektur und der horizontal sich lagernden Theatertopografie bestimmt die zwischen beiden Bauten sich ausdehnende Platzfläche, derer sich die Studierenden von vier Universitäten aus Nordrhein-Westfalen annahmen, um dort Möglichkeiten der Intervention im Stadtraum auszuloten. In einem hochschulübergreifenden Ideenwettbewerb setzten sich zwei Architekturstudierende der Fachhochschule Münster mit ihrer Idee durch, den Platz zu parzellieren und auf Zeit an mietwillige Bürgerinnen und Bürger zu übergeben. Die Fläche wurde dazu mit Holzpaletten belegt, mit Stromanschlüssen versehen und schließlich für einen Euro pro Quadratmeter als individuelle Kreativzone zur Verfügung gestellt. Nutzer sollten die Freiheit haben, auf ihrem Stückchen öffentlichen Raum selbst zu entscheiden, was passiert und damit produktiv Stadt mitgestalten.
Die temporäre Aneignung der individuellen Platzparzelle erlaubte jedem Einzelnen, dort ein Claim abzustecken und auf Zeit öffentlich-privat sesshaft zu werden. Damit vollzogen die Teilnehmer der Aktion formal, was der Architekt Le Corbusier in seinem 1925 erschienenen Buch Kommende Baukunst auch als Überwindung des ungeordneten Ortes durch den vom Menschen eingebrachten Maßstab bezeichnete (Le Corbusier, 1926). Denn sie richteten sich auf ihrem Grundstück nach ihren persönlichen Ansprüchen ein. Gleichzeitig entstand aber auch ein überindividuell-gemeinschaftlicher Raum, ein Urban Village auf Zeit, welches im kleinen Rahmen ermöglichte, was Le Corbusier 1929 auch als einen Rangierbahnhof für die Ideen der Welt (Le Corbusier, 1929) bezeichnete: Ein Forum auszubilden, welches geeignet war, Vorschläge gegenüberzustellen, zu diskutieren und einzuordnen.
Improvisation war beim Platzda!-Projekt zulässig, ja sogar ausdrücklich gewünscht. Nicht die Vollkommenheit, sondern die Überzeugungskraft der umgesetzten Idee, nicht Endgültigkeit, sondern Vielfalt und nicht zuletzt das gemeinschaftliche Schaffen waren Trumpf. So hinterließ der organisierte und sich nach festgelegter Zeit wieder verflüchtigende »Spuk« bei den Beteiligten ein starkes Bewusstsein für den Ort, welcher dem dahineilenden Passanten üblicherweise fehlt.
Folgt man den Ausführungen der Diplomingenieurin Julia Trapp, die sich im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universität Kassel 2012 grundsätzlich mit derartigen Interventionen im Stadtraum befasste, dann entsprechen derartige Interventionen dem Arbeiten in Zwischenfeldern, welche sozusagen im toten Winkel der klassischen, formellen Stadtplanung liegen (Trapp, 2012), von dieser aber wegen eines meist zu schwerfälligen Instrumentariums oft nicht geleistet werden können. Trapp (2012, S. 11) bringt es auf den Punkt, wenn sie in der Einleitung ihrer Arbeit erklärt, dass angesichts hoher Unsicherheiten über zukünftige Entwicklungen und einer schnelllebigen Gesellschaft, die Flexibilität und In-Time-Lösungen einfordert, die herkömmlichen Planungsinstrumente an ihre Grenzen stoßen. Das gilt besonders für die Reaktion auf urbane Schrumpfungsprozesse, die u. a. dem demographischen Wandel geschuldet sind. Trapp erinnert diesbezüglich an das Konzept der 2010 in Sachsen-Anhalt veranstalteten Internationalen Bauausstellung (IBA Stadtumbau). Entgegen früherer Praxis hatten die IBA-Organisatoren dort bewusst auf ein übergeordnetes Leitbild verzichtet, um stattdessen die Rolle eines Moderators zu übernehmen. Man verfolgte das Ziel, den beteiligten Städten und Gemeinden zu helfen, aus ihren Ressourcen und dem lokalen Kontext heraus einen jeweils eigenen Umgang mit dem Schrumpfen zu entwickeln (IBA, 2019). Dazu dienten Interventionen, z. B. in der nordöstlich des Harzes gelegenen Stadt Aschersleben, wo Künstler im Rahmen der DRIVE THROU Gallery an der stark befahrenen Ortsdurchfahrt direkt ins Stadtbild eingriffen (Trapp, 2012, S. 129 ff). Gerade am scheinbar verlorenen Ort sollte das Bewusstsein für die Potenziale der Umgebung entwickelt und der Wunsch nach Selbstbestimmung gestärkt werden.
Abb. 5: Aufmerksamkeit erzeugende Bauverwandlung: Köln-Projekt, 2007. (Foto: C. Pascale; Collage: Thomas Schriefers)
Ein ähnliches Konzept verfolgte ein künstlerisches Projekt in Köln, das 2007 zur Zusammenarbeit eines Fotografen mit einem Architekten führte. Im Fokus standen Stadtbereiche, wo damals von kommunaler Seite massiv in bestehende Strukturen eingegriffen wurde: z. B. in unmittelbarer Nachbarschaft der Kölner Messe, wo das Barmer Viertel zugunsten zukünftiger Bauprojekte komplett abgerissen wurde. Die Gegenüberstellung der Fotografie eines letzten dort noch verbliebenen Stadthauses kurz vor dessen Abriss und deren montierte Überarbeitung reflektierte Momente und Erfahrungen des aktuellen Geschehens. Darin artikuliert sich ein Dialog zwischen Lebensraum, Erlebnisraum und Gestaltraum (Leismann, 2008, S. 8), der am konkreten Beispiel dazu auffordert, Prozesse im öffentlichen Kontext bewusster zu begleiten. Denn zwischen Abriss und Neubau entsteht ein Moment spannungsvoller Konzentration: Raum für Reflexionen, Gedankenspiele und Protest. Das nutzten die Hausbesetzer der 1970er Jahre, als sie verlassene Bausubstanz in Besitz nahmen, um dort provisorisch offene Wohn- und Arbeitsgemeinschaften einzurichten. Heute gehören Gemeinschaftswohnmodelle längst zum Instrumentarium der Freiberufler, Kreativen und digitalen Nomaden. Denn in Zeiten gemeinschaftlichen Konsums, kombinierter Wohn- und Arbeitsformen wie dem Co-Working und Co-Living sowie immer weiter zunehmender Mobilität entstehen spezielle Konstellationen des Lebens im Provisorium.
4. Co-Working und Co-Living
Laut Duden bezeichnet das Provisorium eine Zwischenlösung, den Wechsel zu etwas Anderem und Neuem. Ein bauliches Provisorium ist demnach Heimat im Übergangsstadium, nicht dauerhaft gedacht. Manche Provisorien, wie Flüchtlingslager weltweit bestätigen leider, werden aus politischen wie ökonomischen Gründen häufig ein Dauerzustand. Dagegen erweisen sich Co-Working und Co-Living tatsächlich als flexible Wohn- und Arbeitsraummodelle, die produktiv genutzt werden können, vorausgesetzt, dass sich alle Beteiligten an zuvor festgelegte Regeln des Zusammenseins halten. Darin ähnelt das Prinzip dem Konzept des traditionell-japanischen Hauses, dessen modulare Struktur erlaubt, einzelne Bereiche, je nach Bedarf, zu öffnen oder zu schließen. Begreift man den Ort der Co-Living-Comunity als Spielfläche, dann erlaubt das gemeinsame Leben vielfältige Spielarten.
Für den Blog von ZEIT Campus Online schrieb Luisa Jacobs (2016, S. 1), dass man sich Co-Living wie eine Büro- und Wohngemeinschaft unter einem Dach, gewissermaßen als Co-Working für Fortgeschrittene (Jacobs, 2016) vorstellen könne. Sie eint demnach die Überzeugung, dass diejenigen, die viel Zeit miteinander verbringen und ähnliche Ziele haben, sich besser unterstützen und weiterbringen. Ein fester Büroplatz ist dabei eher hinderlich, denn zum Arbeiten benötigt man heute oft kaum mehr als einen WLAN-Zugang und eine Steckdose. Damit verändert sich grundsätzlich der Anspruch gegenüber baulichen Einrichtungen und dem Raum, der wirklich benötigt wird.
5. Huckepack wohnen
Während mobile Raumeinheiten meist auf Freiflächen positioniert wer...