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Vom inklusiven Anspruch zum inklusionsorientierten Handeln – Anmerkungen zu einigen Missverständnissen in der Inklusionsdebatte
Joachim Kahlert und Birgit Grasy
»ohne Angst verschieden sein« (Theodor W. Adorno, 1951)
Wer sich mit Herausforderungen, Möglichkeiten und Chancen der Inklusion für Menschen und Institutionen beschäftigt, sollte die Unvermeidbarkeit von Exklusion nicht außer Betracht lassen.
Dabei geht es nicht darum, eine Hintertür für pragmatische Bequemlichkeit offen zu halten, die Beharrlichkeit von Institutionen hinzunehmen oder Privilegien zu verteidigen. Vielmehr wirkt die Einsicht in das Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion Vereinfachungen entgegen, die ideologieanfällig sind, unproduktive Auseinandersetzungen schüren und die Erfüllung der Aufgaben von Schule und Lehrer eher erschweren als unterstützen. Damit einher geht die Gefahr der Überforderung, die weniger auf die Größe der mit Inklusionsansprüchen verbundenen Aufgaben zurückzuführen ist, sondern auf die Ausblendung einer moralisch zunächst irritierenden Einsicht: Inklusion ist ohne Exklusion zwar zu denken, aber nicht zu realisieren.
1.1 Inklusion – was war neu an diesem Anspruch?
»Der demokratische Glaube an Gleichheit ist die Überzeugung, daß jeder Mensch, was immer auch das Ausmaß seiner Begabung sei, das Recht habe auf den gleichen Zugang zur Entwicklung der Begabung, die er besitzt (jedem soll die Gelegenheit gegeben sein, das, was er an Fähigkeiten besitzt, auch entwickeln zu können). Es ist der Glaube an die Fähigkeit jedes Menschen, sein eigenes Leben zu leben, frei von Zwang durch andere, vorausgesetzt, daß die richtigen Grundlagen geschaffen sind.«
Diese Ausführungen wurden nicht im Anschluss an die UN-Behindertenrechtskonvention (im Folgenden UN-BRK) formuliert, sondern von John Dewey kurz nach Beginn des Zweiten Weltkrieges. In deutscher Fassung erschienen sie 1948 (Dewey, 1948, S. 3).
Schon einige Jahrzehnte zuvor hatte Dewey in seinem Hauptwerk »Demokratie und Erziehung« den Zusammenhang zwischen demokratischem Anspruch und gemeinsam geteilten Erfahrungen hervorgehoben:
»Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung« (Dewey, 1916/2011, S. 121; siehe auch S. 113ff.).
Vor dem Hintergrund der demokratisch-emanzipativen Grundidee von Schule und des modernen Bildungsverständnisses ist der mit Inklusion verbundene pädagogische Anspruch nicht neu.
Die Menschenrechte gelten nicht erst seit der UN-BRK. Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes wurde 1994 um den zweiten Satz erweitert: »Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden« (BGBl I, 1994, S. 3146). In Bezug auf pädagogische Absichten trat bereits Comenius dafür ein, »Omnes«, »alle«, zur »Vollkommenheit ihrer Menschennatur« zu führen (Comenius, 1677/1991, S. 18ff.). Kein Mensch solle davon »ausgeschlossen, geschweige denn ferngehalten werden« (ebd. S. 35). Ausdrücklich bezieht er Menschen mit Behinderungen ein: »In dem Maße, wie jemand an der menschlichen Natur Anteil hat, soll er an jener Wartung teilnehmen; besonders ist dort, wo die Natur sich wegen eines inneren Mangels nicht selbst helfen kann, äußere Hilfe nötig« (ebd., S. 36f.). »Keiner darf jedoch übergangen werden« (ebd., S. 36).
Eine substanzielle Neuerung des Bildungsauftrages eines Schulsystems in einem demokratischen Gemeinwesen lässt sich aus der UN-BRK nicht entnehmen. Mit Artikel 24 »Bildung« verpflichten sich die Vertragsstaaten, »Menschen mit Behinderungen, ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen« (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2011, S. 35). Niemand dürfe »vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden« (ebd., S. 36). Ziel sei es, Menschen mit Behinderung die »volle und gleichberechtige Teilhabe an der Bildung und als Mitglieder der Gemeinschaft zu erleichtern« (ebd.).
Danach sind alle Kinder und Jugendlichen so zu fördern, dass sie ihre Persönlichkeit nach Maßgabe von Anlagen, Fähigkeiten und Interessen entfalten und am sozial-kulturellen Leben so selbstbestimmt und verantwortungsvoll wie möglich teilhaben können, und zwar in Gegenwart und in Zukunft. Zum damit verbundenen Bildungs- und Erziehungsauftrag gehört die Förderung von Fähigkeiten zum wissens- und wertebasierten Urteilen, zum sachgerechten, interessenbewussten und kompromissfähigen Handeln sowie zur eigenständigen Erweiterung individuellen Wissens und Könnens.
Mit Bezug auf die UN-BRK wird oft die gemeinsame Beschulung aller Kinder und Jugendlichen in einer Schule gefordert. Dies mag zwar ideologische Bedürfnisse befriedigen, wird aber weder der Vielfalt von Förderbedarfen und -möglichkeiten gerecht noch lässt sich aus der UN-BRK die Pflicht zur Umsetzung einer schulpolitischen Monokultur (»eine Schule für alle«) ableiten: »Besondere Maßnahmen, die zur Beschleunigung oder Herbeiführung der tatsächlichen Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen erforderlich sind, gelten nicht als Diskriminierung im Sinne dieses Übereinkommens« (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, 2011, S. 18).
Da das deutsche Bildungssystem von der »Bildsamkeit« (Tenorth, 2013) aller Schülerinnen und Schüler ausgeht und kein Kind, kein Jugendlicher aufgrund einer Behinderung von schulischer Bildung ausgeschlossen ist, wird der grundlegende Anspruch an Inklusion umgesetzt (Tenorth, 2013, 7ff.). Eine andere Frage ist, ob die Entwicklung des einzelnen Schülers bzw. der einzelnen Schülerin und damit Teilhabe in Gegenwart und Zukunft so gut wie möglich gefördert wird. Dies lässt sich nicht pauschal aus der Schulart erschließen, die jemand besucht, sondern muss mit professionell geschulter pädagogischer Sensitivität für jeden Einzelfall beurteilt werden. Die vorhandenen empirischen Befunde erlauben kein generelles Urteil darüber, welche Art der Beschulung den Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen am besten gerecht wird (vgl. z. B. Ahrbeck, 2017, 20f.; Möller, 2013, S. 29f.; Stranghöner/Hollmann/Otterpohl/Wild/Lütje-Klose/Schwinger, 2017). Weder gibt es eine empirisch eindeutig belegte Überlegenheit für eine inklusiv ausgerichtete Beschulung noch für die Beschulung in besonderen Einrichtungen (Möller, 2013, 33f.).
Es ist nicht zu erwarten, dass es in absehbarer Zukunft größere Klarheit darüber geben wird.
Die Schwierigkeiten beginnen bereits mit der Art und Weise, wie ein besonderer Förderbedarf definiert und festgestellt wird. Weder international noch wenigstens national sind die dafür verwendeten Verfahren einheitlich (Hillenbrand, 2013). Berücksichtigt man den ökosystemischen Ansatz zur Erklärung menschlicher Entwicklung (Bronfenbrenner, 1981) sowie die Bedeutung einer umfassenden Mensch-Umfeld-Analyse für die Förderung des einzelnen Kindes und Jugendlichen (vgl. z. B. Hildeschmidt/ Sander, 2009; Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister 1994, S. 5ff.; ders., 2017, S. 250), dann rücken zahlreiche Bedingungen ins Blickfeld, die beeinflussen, wie gut ein institutionelles Setting die Fähigkeit zur Teilhabe fördert.
Vorwissen und Können der Schülerinnen und Schüler spielen dabei ebenso eine Rolle wie Lehrer-Schüler-Relationen, Vorgaben der Einzelschule, methodisch-didaktisches Geschick der Lehrkräfte, räumliche Gegebenheiten, verfügbare Medien, Erwartungen des schulischen Umfelds und nicht zuletzt auch außerschulische Unterstützungsmöglichkeiten. Es wäre also eine Vielfalt von Bedingungen zu kontrollieren, um Entwicklungsunterschiede zuverlässig und valide mit dem institutionellen Setting Förderschule bzw. allgemeine Schule erklären zu können.
Dies gilt erst recht, wenn man, in langfristiger Perspektive, Unterschiede der Teilhabemöglichkeit von Erwachsenen auf Auswirkungen unterschiedlicher schulischer Settings zurückführen wollte. Selbst wenn es gelingen würde, die Vielzahl der dabei zu kontrollierenden Variablen, die sonst noch auf die personale Entwicklung Einfluss nehmen, methodisch zu erfassen und statistisch sauber zu bewältigen, wäre nicht viel gewonnen. Eine solche Studie müsste, ihrem Erkenntnisinteresse entsprechend, sehr langfristig angelegt werden. Lägen die Befunde nach vielen Jahren vor, wären sie kaum nutzbar, denn die gesellschaftlichen und damit auch schulischen Rahmenbedingungen für erfolgreiche Förderung hätten sich in der Zwischenzeit verändert. Die Erwartungen der Öffentlichkeit im Hinblick auf wichtige Aufgaben der Schule, wie Leistungsförderung, soziales Lernen, Erziehungsfunktionen, sowie die Wahrnehmung von pädagogischen Herausforderungen für und von Lehrerinnen und Lehrern, Schulleitungen und Schulverwaltungen bleiben nicht über Jahre konstant, neue Aufgaben kommen hinzu. Allein die Digitalisierung von Lebenswelten und von Lernmöglichkeiten wird dazu führen, dass sich die Lernbedingungen in Schule und Unterricht noch rascher als bisher wandeln.
Daher ist es weder klug, noch zeugt es von der für pädagogisches Handeln immer gebotenen Vorsicht, wenn quasi präskriptiv festgelegt wird, dass nur eine gemeinsame Beschulung dem auf Teilhabe konzentrierten Inklusionsgedanken gerecht wird. Eine intelligente Umsetzung inklusiver Absichten hält verschiedene Wege zur Teilhabe offen und sorgt für hinreichend hohe Durchlässigkeit zwischen den unterschiedlichen schulischen Angeboten.
Je nach individuellen Entwicklungsmöglichkeiten und nach institutionellen Bedingungen kann jede Schulart ein guter Ort für die Förderung von Teilhabe des einzelnen Kindes oder Jugendlichen sein – wenn die materiellen, personellen und pädagogischen Voraussetzungen dafür gegeben sind bzw. geschaffen werden (können). Aber auch umgekehrt gilt: Keine Schulart kann von vorneherein beanspruchen, in jedem Fall der bessere Ort zu sein.
1.2 Zum Zusammenspiel von Inklusion und Exklusion im konkreten Handeln
In der pädagogischen Kommunikation über Inklusion, aber auch in anderen Kontexten, wird der Begriff »inklusiv« häufig so verwendet, als markiere er eine Eigenschaft, die man Institutionen, sozialen Ereignissen und Situationen zuschreiben könnte. Die Rede ist dann von einer inklusiven Gesellschaft, von einer inklusiven Schule, von inklusivem Unterricht, von inklusiven Settings etc.
Sofern damit die Absicht bzw. der Anspruch zum Ausdruck kommt, Teilhabe in Gegenwart und Zukunft nach bestem pädagogischem Wissen und Gewissen zu fördern, ist gegen diese Verwendung des Inklusionsbegriffs nichts einzuwenden. Missverständlich wird die Verwendung des Begriffs jedoch, wenn damit Eigenschaften von Situationen, Handlungen, Institutionen oder gar ganzer Gesellschaften beurteilt werden.
Inklusion ist kein Zustand, der sich kriterial so beschreiben ließe, dass in einer binären Logik entscheidbar wäre, wann Inklusion realisiert ist und wann nicht. Inklusion ohne Exklusion lässt sich zwar als Anspruch an das Handeln von Individuen, an die Funktion und Arbeitsweise von Institutionen und auch an gesellschaftliche Entwicklungen formulieren; aber sobald die Umsetzung dieses Anspruchs erfolgt, kommt unvermeidbar Exklusion ins Spiel. Das gilt auf der individuellen Ebene ebenso wie auf der gesellschaftlichen Ebene, für die Funktion von Institutionen (wie die Schule) ebenso wie für das Handeln in den Institutionen (z. B. als Lehrerin bzw. als Lehrer):
• Auf der individuellen Ebene geht selbst die größte Bereitschaft, Teilhabe anderer Menschen zu fördern und zu ermöglichen, mit mehr oder weniger bewusst getroffenen Entscheidungen darüber einher, wie die dafür einzusetzenden persönlich verfügbaren Ressourcen – Zeit, Veränderungsbereitschaft, Aufmerksamkeit u. a. m. – genutzt werden. Diese Ressourcen sind immer (zu) knapp, denn niemand ist in der Lage, sein Potenzial an Menschlichkeit und Zuwendungsbereitschaft beliebig lange und für beliebig viele Menschen einzusetzen. Immer ist eine Abwägung nötig, für wen man sich wie, wie lange und wie intensiv besonders engagiert. Dass das Ergebnis solcher Abwägung in den meisten Situationen mehr oder weniger durch die private, institutionelle, zufällige oder gezielt hergestellte Nähe zu Menschen mit Beeinträchtigung stark beeinflusst wird, ändert nichts an der grundsätzlichen Problematik, dass die Teilhabe fördernde Zuwendung für die eine Person andere Personen von der eigenen Zuwendungsmöglichkeit ausschließt. Man kann niemandem verwehren abzuwägen, wie viel von dem eigenen verfügbaren Zeitbudget zur Unterstützung von Teilhabe anderer eingesetzt wird. Die allermeisten Menschen dürften zeitliche Spielräume haben, um sich mehr um Menschen zu kümmern, deren Teilhabe am sozialen und öffentlichen Leben aufgrund einer Beeinträchtigung eingeschränkt ist. Wer von diesen Möglichkeiten weiß, aber die eigenen zeitlichen Ressourcen für die Befriedigung eigener Interessen einsetzt, nimmt damit zwangsläufig mehr an Exklusion in Kauf als nötig wäre.
• Dieses Zusammenwirken von Inklusion und Exklusion gilt auch für die Verteilung von Ressourcen auf der gesellschaftlichen Ebene. So wünschenswert es ist, dass Barrieren der Teilhabe abgebaut und Teilhabe fördernde Maßnahmen ausgebaut werden, so klar ist auch, dass angesichts der Vielfalt von Bedarfen dafür immer nur begrenzte Ressourcen zur Verfügung stehen. Die öffentlich verfügbaren Mittel sind nicht beliebig ausweitbar. Man kann darüber streiten, welche Gemeinschaftsaufgaben zu Gunsten der Förderung von Teilhabe eingeschränkt oder wie sich mehr Mittel für öffentliche Ausgaben beschaffen lassen. Doch auch dies führt nicht zu endlos verfügbaren Mitteln, mit denen alle wünschenswerten Maßnahmen zur Unterstützung von Teilhabe finanziert würden. Entsprechend findet sich in der UN-BRK im Hinblick auf die Förderung von Teilhabe in Artikel 4 Abs. 2 ein Ressourcenvorbehalt: Zur Sicherung der Rechte der Menschen mit Behinderung habe jeder Vertragsstaat »unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbe...