Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung
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Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung

Grundlagen und Konzepte für die Eingliederungshilfe

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Sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung

Grundlagen und Konzepte für die Eingliederungshilfe

About this book

Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung ist heute unbestritten. Das stellt die Einrichtungen der Eingliederungshilfe und die darin tätigen Fachkräfte vor völlig neue Aufgaben, für deren Lösung das Wissen um Leitlinien, Handlungskonzepte und -maßnahmen unabdingbar ist. Das Buch beleuchtet zunächst beeinträchtigungsspezifische und strukturelle Erschwernisse sexueller Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderung. Darauf folgt eine praxisnahe Bestandsaufnahme zu den Arbeitsbedingungen der Fachkräfte, aber auch zu den Lebensbedingungen der Bewohner im Hinblick auf die mögliche Realisierung sexueller Selbstbestimmung in den Einrichtungen. Das Buch beschreibt dann Handlungsoptionen, wobei der Schwerpunkt auf ganz konkreten Maßnahmen in den unterschiedlichsten Bereichen liegt.

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Information

1          Einleitung

 
 
 
 
2012 erschreckten die Ergebnisse der repräsentativen Studie zur »Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderung und Beeinträchtigung in Deutschland«, die von Schröttle im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführt wurde. So ein immenses Ausmaß von Gewalterfahrungen im Leben der Frauen hatte die Fachwelt nicht vermutet, obwohl schon die Studien von Zemp und Pircher (1996) sowie Zemp et al. (1997) diesbezüglich sehr deutliche Hinweise zur Betroffenheit von sexueller Gewalt bei Frauen und Männern mit geistiger Behinderung in Einrichtungen gaben.
Die Zahlen sprachen für sich: Menschen mit Behinderung sind deutlich häufiger Opfer sexueller Gewalt als Menschen ohne Behinderung. Dabei sind Menschen mit Behinderung, die in Einrichtungen leben, besonderen Gefährdungen ausgesetzt. Tschan (2012, 36) bezeichnet die Institutionen sogar als »Hochrisikobereiche für sexualisierte Gewaltdelikte«.
Die Ergebnisse haben verstärkte Bemühungen im Bereich der Prävention und Intervention sexueller Gewalt in ihrer Notwendigkeit und Dringlichkeit deutlich gemacht. Gelingende und umfassende Maßnahmen in den Bereichen der Sexualpädagogik und Sexualandragogik sind unumstrittene Anteile von Präventionsarbeit (vgl. Mattke 2015). Sie sind sowohl in diesbezüglichen Präventionskonzepten zu finden (vgl. Limita 2011) als auch bei den Hinweisen von Enders (2012, 149 ff) zu den erforderlichen »täterunfreundlichen Strukturen« von Institutionen.
Konzeptansätze und einzelne Ideen zur Schaffung sexualfreundlicher Strukturen in Institutionen finden sich immer wieder in der entsprechenden Fachliteratur (vgl. Walter 2005, Clausen/Herrath 2013). Forderungen werden vor allem an die Mitarbeitenden gestellt. Sie sollen sich in der Regel fortbilden, um angemessen auf die Bedarfe der Bewohner/innen reagieren zu können.
Überprüfte man jedoch, was in Fachkreisen über die Arbeitssituation der Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe wissenschaftlich gesichert bekannt war, so wurde recht schnell deutlich, dass deren Situation umfassend zuletzt 1980 von Walter beschrieben wurde. In den darauf folgenden Jahrzehnten hatte sich aber vieles verändert – sowohl in den Einrichtungen als auch gesamtgesellschaftlich im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung sowie den Forderungen nach umfassender gesellschaftlicher Teilhabe für Menschen mit Behinderung z. B. durch die UN-Behindertenrechtskonvention.
Die Zielperspektive war somit klar: Zur Minimierung der Gefahr sexueller Gewalt durch gelingende sexualpädagogische und -andragogische Maßnahmen mussten die Mitarbeitenden mit ihrer Arbeitssituation, ihrer Belastung und ihren Veränderungsmöglichkeiten in den Blick genommen werden.
Dies war 2013 Anlass für eine von mir initiierte Mitarbeitendenbefragung, welche nachfolgende Fragen in den Blick genommen und das Ziel verfolgt hat, auf die Ergebnisse aufbauend ein Konzept zur Realisierung gelingender sexueller Selbstbestimmung in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe zu entwickeln:
•  Was erleben die Mitarbeitenden mit den Bewohner/innen im Alltag im Bereich Sexualität?
•  Was stört sie in dem Bereich?
•  Was belastet sie?
•  Wie erklären sie sich das Verhalten der Bewohner/innen?
•  Was wollen sie für Veränderungen?
•  Und womit haben sie schon positive Erfahrungen gemacht?
An meiner Befragung nahmen 640 Mitarbeitende aus sechs Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe teil. Der Aufbau der Befragung sowie die sehr aufschlussreichen Ergebnisse werden im ersten Teil des Buches vorgestellt und diskutiert. Sie zeigen deutlich die Komplexität und die enormen Herausforderungen, vor die alle Beteiligten bei der Realisierung sexueller Selbstbestimmung gestellt sind. Hiermit liegt eine aktuelle und umfassende Beschreibung des Arbeitsalltags der Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe unter der Perspektive der sexuellen Selbstbestimmung der Bewohner/innen vor.
Die Ergebnisse und deren Diskussion sind Grundlage für das in Kapitel sechs vorgestellte Gesamtkonzept »Sexuell selbstbestimmt leben in Wohneinrichtungen«, das vor allem Wohneinrichtungen in den Blick nimmt, in denen erwachsene Menschen mit geistiger Behinderung leben. Aufgrund des Lebensalters der Bewohner/innen wäre es sicherlich angemessen, von einem sexualandragogischen Konzept zu schreiben. Trotzdem werden in dem Buch die Begriffe Sexualandragogik und Sexualpädagogik entweder nebeneinander oder synonym verwendet. Die jetzigen Erwachsenen, die in den Wohneinrichtungen leben, haben oft keine oder eine nur lückenhafte Sexualerziehung in ihrer Kindheit und/oder Jugend erlebt. Insofern besteht bei ihnen oft noch (Nachhol-)Bedarf für sexualpädagogische Inhalte. Die Nutzung beider Termini soll dies deutlich machen.
In die Konzeptvorstellung fließen auch erste aktuelle Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt ein, das aufgrund der Ergebnisse der Mitarbeitendenbefragung entstanden ist. In dem Forschungsprojekt »Reflexion, Wissen, Können – Qualifizierung von Mitarbeitenden und Bewohner/innen zur Erweiterung der sexuellen Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderung in Wohneinrichtungen (ReWiKs)« werden gemeinsam mit den Kollegen/innen Prof. Dr. Kathrin Römisch von der Evangelischen Fachhochschule Bochum sowie Prof. Dr. Sven Jennessen von der Universität Koblenz-Landau drei inhaltliche Schwerpunkte in enger Kooperation mit Bewohner/innen und Mitarbeitenden aus Einrichtungen erarbeitet:
•  Reflexion: Auf der Grundlage von »Leitlinien gelingender sexueller Selbstbestimmung« (
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Kap. 6.2.1), die es in Ausführungen sowohl in schwerer Sprache für Mitarbeitende als auch in leichter Sprache für Bewohner/innen gibt, werden für beide Gruppen Reflexionsmanuale entwickelt. Diese dienen dazu, die aktuelle Arbeits- und Lebenssituation komplex zu reflektieren und Ansatzpunkte für Veränderungsnotwendigkeiten zu finden.
•  Wissen: Aufbauend auf neu entwickelten und mit der Praxis diskutierten Fortbildungsmodulen (
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Kap. 6.3.4.2) werden exemplarisch Fortbildungsbausteine entworfen, die in der Praxis erprobt, evaluiert und weiter entwickelt werden.
•  Können: Basierend auf einer umfassenden Recherche gelingender Praxisprojekte zur Realisierung (sexueller) Selbstbestimmung werden für ausgewählte Projekte Handlungsanweisungen für deren Umsetzung in der Praxis erarbeitet, erprobt, evaluiert und weiter entwickelt.
Das Projekt wird von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BzgA) gefördert. Sowohl die Kollegen/innen aus dem Projekt als auch die Kollegen/innen der BzgA haben freundlicherweise der Veröffentlichung der aktuellen Versionen (Stand Juni 2015) der »Leitlinien gelingender sexueller Selbstbestimmung« in schwerer Sprache sowie der »Fortbildungsmodule« zugestimmt. An der Entwicklung der Fortbildungsmodule war maßgeblich Dorothea Kusber-Merkens beteiligt, die mit ihren Erfahrungen und ihren Kompetenzen als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Münster das Projekt voran bringt.
Durch die Diskussion der Befragungsergebnisse mit den Kollegen/innen des Forschungsschwerpunktes »Teilhabeforschung« der Katholischen Hochschule NRW, Abteilung Münster wurde der bis Ende 2013 auf die Mitarbeitenden und die inhaltlichen Aspekte der Konzeptentwicklung fokussierte Blick noch einmal erweitert. Die Organisationen, und hier vor allem die Organisationskulturen, wurden als relevante Einflussgröße deutlich. Die Frage nach der inhaltlichen Stimmigkeit oder Widersprüchlichkeit der Basisannahmen einer Organisationskultur mit den Grundannahmen eines Konzeptes sexueller Selbstbestimmung wurden als äußerst bedeutsam für den Prozess der Konzeptimplementierung erkannt. So konnte es nicht mehr reichen, in diesem Buch ein auf Forschungsergebnissen basierendes, in sich kongruentes Konzept sexueller Selbstbestimmung vorzulegen. Vielmehr wurde durch die Diskussion vor allem mit dem Kollegen Prof. Dr. Heinrich Greving deutlich, dass die Analyse von Organisationen unverzichtbar mit den Konzeptideen verbunden ist. Dies wird im siebten Kapitel differenzierter erläutert.
Das mit diesem Buch vorgelegte Konzept »Sexuell selbstbestimmt leben in Wohneinrichtungen« ist kein ›Rezeptbuch‹ oder eine 1:1 umsetzbare ›Handlungsanweisung‹. Stattdessen wird in strukturierter Form weitestgehend umfassend dargelegt, welche Bereiche in einer Organisation von den verschiedenen Beteiligten für Veränderungsmaßnahmen in den Blick genommen werden können und sollten. Verschiedene Ideen zur konkreten Umsetzung werden angeboten.
Es werden somit Hinweiszeichen und Wegmarken für einen Weg zu mehr sexueller Selbstbestimmung der Frauen und Männer mit Behinderung gesetzt, den jede Organisation mit den in ihr und um sie herum beteiligten Akteuren/innen gemeinsam suchen und umsetzen muss. Die Herausforderung wird sein, diesen zu beginnen, ihn partizipativ zu gestalten, eigene kreative Ideen (weiter) zu entwickeln sowie alle Beteiligten mit auf den Weg zu nehmen und motiviert auf dem Weg zu behalten.
Sexualität und sexuelle Selbstbestimmung, Sexualpädagogik und Sexualandragogik sind komplexe Themen. Die mit ihnen verbundene Vielfältigkeit, die Schwierigkeit, sie zu erfassen und für den Austausch eine gemeinsame, für alle angemessene Kommunikationsform zu finden, die enorme Heterogenität sexueller Biografien und Lebensentwürfe, die beeinflussenden Normen und Werte – all das macht es oft zu einer Herausforderung, diesen Lebensbereich der Menschen mit Behinderung als professionellen Auftrag für die Mitarbeitenden und die Gesamtorganisation zu bestimmen und zu realisieren.
Alleine ist durch den ›Dschungel der Sexualitäten‹ kaum ein gangbarer und überschaubarer Weg zu finden. Auch mich haben in dem Entstehungsprozess der Befragung, der Diskussion der Ergebnisse, der Konzeptentwicklung und der Realisierung des Buches viele Menschen begleitet, indem sie mit mir immer wieder diskutiert haben. Einigen möchte an dieser Stelle ausdrücklich und namentlich danken möchte.
Zunächst gilt mein Dank den Mitarbeitenden der sechs Einrichtungen: Den Leitungskräften, die der Erhebung nicht nur zugestimmt, sondern sie auch unterstützt haben, sowie den Mitarbeitenden, die sich die Zeit zum Ausfüllen des Fragebogens genommen haben. Meine Kollegin Antonia Thimm hat mich sehr fachkompetent und geduldig bei der statistischen Auswertung der Ergebnisse unterstützt. Danken möchte ich den Fachkollegen/innen der KatHO, ihrer Diskussionsbereitschaft und kritischen Rückmeldung. Hier vor allem möchte ich Heinrich Greving für das gemeinsame Schreiben des siebten Kapitels danken und Michael Katzer für die vielen konstruktiven und kontroversen Diskussionen über verschiedene Buchinhalte.
Den Kollegen/innen des Projektes ReWiKs und der BzgA nochmals herzlichen Dank für die Möglichkeit der Veröffentlichung bisheriger Arbeitsergebnisse sowie die gute Projektarbeit!
Und schließlich möchte ich mit noch bei Sigrid Stegemann bedanken für die kritische Durchsicht des Manuskriptes aus der Perspektive der Praktikerin sowie bei meinem Bruder Dr. Christoph Ortland, der sowohl die Befragung durch seine hohe Forschungskompetenz als auch das Buch durch seine konstruktiv kritische Korrektur, die wertvollen Rückmeldungen und die Diskussion verschiedener inhaltlicher Aspekte sehr bereichert hat.
Schließen möchte ich die Einleitung mit den Worten eines Mannes, der als Bewohner einen Praxis-Austausch-Tag im Forschungsprojekt ReWiKs bereichert hat. Im Fokus stand an dem Tag die Diskussion des Entwurfs der Fortbildungsmodule mit Bewohner/innen und Mitarbeitenden. Die Vorstellung der Diskussionsergebnisse aus den homogen angelegten Arbeitsgruppen beendete er, gewandt an die Mitarbeitenden, mit dem Satz: »Ihr müsst keine Angst haben, mit uns über Sexualität zu reden.«
In diesem Sinne hoffe ich, dass die Inhalte des Buches Sie und Ihre Kollegen/innen dazu ermutigen.
 
Münster, im Juli 2016
Barbara Ortland

2 Sexuelle Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderung

Menschen mit (geistiger) Behinderung sind im Erleben und Ausleben ihrer Sexualität oft auf die Unterstützung von anderen Menschen angewiesen. Dabei sind verschiedene Aspekte auf beiden Seiten bedeutsam. Von Seiten der Menschen ohne Behinderung können als relevant benannt werden:
• Das Wissen über mögliche Veränderungen der sexuellen Entwicklung durch das Leben mit einer Behinderung, aber auch das Wissen über sexuelle Entwicklung und Sexualität allgemein,
• die Bereitschaft, sich auf das Gegenüber in vielen Facetten seines/ihres Lebens offen einzulassen,
• die eigenen diesbezüglichen Kompetenzen, die durch berufliche Kompetenzen, aber auch die eigene (sexuelle) Lerngeschichte bestimmt sind,
• sowie die individuellen Norm...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. 1 Einleitung
  6. 2 Sexuelle Selbstbestimmung für erwachsene Menschen mit Behinderung
  7. 3 Befragung von Mitarbeitenden in Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe
  8. 4 Ergebnisse der Befragung
  9. 5 Diskussion der Ergebnisse
  10. 6 Konsequenzen für sexualpädagogische/-andragogische Gesamtkonzeptionen
  11. 7 Konzepte sexueller Selbstbestimmung in Organisationen
  12. 8 Fazit
  13. Anhang