1 Auffassungen von Lernen und inhaltliche Schwerpunkte dieses Buches
Das Lernen im Vorschul- und frĂŒhen Schulalter ist Ă€uĂerst vielfĂ€ltig. Es reicht vom Erlernen des Fahrradfahrens, dem Aneignen einer Sprache und dem Erwerb des Lesens und Schreibens ĂŒber die Herausbildung von Vorlieben bzw. Abneigungen (z. B. fĂŒr Pferde oder Dinosaurier) und die Ăbernahme möglicher Vorurteile (z. B. »Jungen können besser Rechnen«) sowie die AusprĂ€gung von Angewohnheiten (z. B. FingernĂ€gelkauen) bis hin zur Erkenntnis, dass man manches lieber nicht wiederholen sollte (z. B. eine heiĂe Herdplatte berĂŒhren). Allein die AufzĂ€hlung dieser Beispiele macht deutlich, dass Lernen ganz unterschiedliche Bereiche betrifft (z. B. den motorischen oder den sprachlichen Bereich), auf ganz unterschiedliche Weise zustande kommt (z. B. bewusst vs. beilĂ€ufig) und dass Lernprozesse von unterschiedlicher Dauer sein können (einmalige Erfahrung vs. langwieriger Prozess).
Kinder unterscheiden sich in ihrer LernaktivitĂ€t und in ihrem Lernerfolg. Es zeigen sich also sog. interindividuelle Differenzen zwischen gleichaltrigen Kindern. Bei einem einzelnen Kind lĂ€sst sich zudem beobachten, dass es nicht immer gleich erfolgreich in seinen LernbemĂŒhungen ist und ihm das Lernen in manchen Bereichen leichter, in anderen hingegen schwerer fĂ€llt. Hier spricht man von sog. intraindividuellen Schwankungen oder Unterschieden. Hinzu kommen solche intraindividuellen VerĂ€nderungen, die zur Folge haben, dass sich das Lernen bzw. Lernmöglichkeiten mit zunehmenden Alter auch qualitativ verĂ€ndert. Warum sich Kinder in ihrer LernaktivitĂ€t und im Lernerfolg unterschieden, warum ihnen das Lernen in manchen Bereichen leichter fĂ€llt als in anderen und wie sich ganz allgemein die Lernmöglichkeiten zwischen vier und acht Jahren verĂ€ndern, soll im Verlauf dieses Buches immer wieder thematisiert werden. Doch zunĂ€chst wollen wir uns der Frage widmen, was Lernen ĂŒberhaupt ist. Wann sprechen wir davon, dass jemand etwas gelernt hat? HierĂŒber gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Dennoch lĂ€sst sich auf einer allgemeinen Ebene eine einheitliche Vorstellung, d. h. ein definitorischer Kern von Lernen, identifizieren.
Definition
Lernen ist ein Prozess, bei dem es zu ĂŒberdauernden Ănderungen im Verhaltenspotenzial einer Person als Folge von Erfahrungen kommt.
Warum ist hierbei jedoch nicht von Verhalten, sondern von Verhaltenspotenzial die Rede? Von Potenzial wird gesprochen, weil sich das Produkt des Lernens, also das Lernergebnis, nicht notwendigerweise unmittelbar in einem konkret beobachtbaren Verhalten niederschlagen muss. So werden z. B. englische Vokabeln vielleicht nicht direkt im Unterricht, sondern erst bei einem SchĂŒleraustausch ein erstes Mal verwendet. Das Gelernte kann sich also auch erst in zukĂŒnftigen Handlungen oder Verhaltensweisen zeigen.
Aber ist Lernen tatsĂ€chlich nur die Folge von Erfahrungen? Wie sieht es mit Erkenntnissen aus, die durch Nachdenken erlangt werden? NatĂŒrlich kann eine Erkenntnis auch ohne eine unmittelbar vorausgehende Erfahrung entstehen. Ohne jegliche Erfahrungen ist dies jedoch nicht möglich. Damit unterscheidet sich der Prozess des Lernens auch von anderen Mechanismen menschlicher VerhaltensĂ€nderungen, wie z. B. Reifungsprozessen, die nicht an Erfahrungen gebunden sind.
1.1 Auffassungen von Lernen
DarĂŒber, was genau Lernprozesse ausmacht, wie eine ĂŒberdauernde Ănderung von Verhaltenspotenzialen charakterisiert ist und welche Art von Erfahrungen geeignet ist, um einen Lernprozess auszulösen, gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Mit anderen Worten: Es gibt unterschiedliche Lerntheorien. Diese haben sich ĂŒber die Zeit hinweg deutlich geĂ€ndert. Die Psychologie des Lernens hat sozusagen in den vergangenen Jahrzehnten selbst einen Lern- und Entwicklungsprozess durchlaufen (Oberauer, 2007; Siegler, 2005). Bis in die 1960er Jahre hinein waren behavioristische Lerntheorien vorherrschend. Im Behaviorismus wurde das Verhalten (behavior) in AbhĂ€ngigkeit von erfahrenen oder zu erwartenden Konsequenzen untersucht, geistige VorgĂ€nge wurden nicht betrachtet. Im Zuge der sog. kognitiven Wende gerieten daraufhin die inneren (kognitiven) Prozesse, die an Lernprozessen beteiligt sind, stĂ€rker in den Fokus der Aufmerksamkeit. So ist das Lernen nach den sozial-kognitiven Theorien abhĂ€ngig von individuellen kognitiven Voraussetzungen und individuell erfahrenen Umweltgegebenheiten. Beispielsweise beruht das Modelllernen auf der Annahme, dass Kinder auch durch Beobachtung anderer lernen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn das Gesehene aufmerksam verarbeitet und im GedĂ€chtnis gespeichert werden kann. Informationsverarbeitungstheorien konzentrierten sich in der Folge vor allem auf die dem Lernen zugrunde liegenden Mechanismen und die dafĂŒr notwendigen kognitiven Voraussetzungen und KapazitĂ€ten, wie z. B. Aufmerksamkeit und GedĂ€chtnis. SchlieĂlich stellten konstruktivistische Lerntheorien die Lernenden selbst in das Zentrum ihrer Betrachtungen, betonten die Zusammenarbeit mehrerer Individuen und beschrieben Lernen als aktiv zu erbringende Leistung, die gemeinsam innerhalb oder auĂerhalb pĂ€dagogischer Kontexte durch Individuen erbracht wird.
Aber warum sollte man sich mit den unterschiedlichen Theorien nĂ€her beschĂ€ftigen? Sind sie nicht recht abstrakt und haben damit, wie Lernen wirklich ablĂ€uft, nichts zu tun? Dies scheint nur auf den ersten Blick so. Denn betrachtet man die unterschiedlichen Auffassungen des Lernens, so hilft dies, Lernprozesse besser zu verstehen und schlieĂlich einschĂ€tzen zu können, welche Faktoren beim Lernen besonders bedeutsam sind. Lerntheorien bilden demnach so etwas wie die Basis fĂŒr das VerstĂ€ndnis von Lernprozessen. Dabei hat jede Lerntheorie ihren besonderen Fokus und auch (historischen) Verdienst. Daher skizzieren wir im Folgenden die Kernannahmen der wichtigsten Lerntheorien.
Behaviorismus
Die Theorie des Behaviorismus kam zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf. In Reaktion auf die psychoanalytische Schule mit ihren empirisch kaum prĂŒfbaren Annahmen legte der Behaviorismus den Fokus darauf, Verhalten mit rein naturwissenschaftlichen Methoden zu erklĂ€ren. So wurden nur direkt beobachtbare Ereignisse zur ErklĂ€rung von Verhalten und VerhaltensĂ€nderungen herangezogen. Als Metapher fĂŒr sĂ€mtliche psychische/kognitive Prozesse, die sich (noch) nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden objektiv messen, beschreiben und reproduzieren lieĂen, diente die sog. Black-Box. Also ein schwarzer Kasten, der zwar Eingang und Ausgang besitzt und in dem psychische Prozesse ablaufen, dessen Innenleben fĂŒr Behavioristen jedoch als nicht beobachtbar galt und daher als uninteressant eingestuft wurde.
Kern des Behaviorismus sind zwei Lernprinzipien: das klassische Konditionieren und das operante Konditionieren (auch: instrumentelles Konditionieren bzw. Lernen durch Konsequenzen). Beide basieren auf dem Prinzip des Lernens durch Assoziationsbildung. Hiernach kann ein Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen dann gelernt werden, wenn diese miteinander assoziiert werden. Die Assoziationen bilden sich jedoch bei der klassischen und operanten Konditionierung auf ganz unterschiedliche Weise.
Klassische Konditionierung
Bahnbrechend fĂŒr die klassische Konditionierung war eine zufĂ€llige Beobachtung des russischen Physiologen Iwan Pawlow (1849â1936). Dieser hatte im Rahmen seiner Untersuchungen zu Verdauungsprozessen bei Hunden die Feststellung gemacht, dass Hunde bereits ohne die direkte Darbietung von Futter mit Speichelfluss reagierten. Genauer: Sie zeigten bereits dann Speichelfluss, sobald sie einen Glockenton hörten, der die FĂŒtterung ankĂŒndigte. Mit dem Glockenton assoziierten Hunde also das Futter, was zu einer Reaktion, dem Speichelfluss fĂŒhrte. Diese Reaktion stellt somit eine gelernte â konditionierte â Reaktion dar. Beim klassischen Konditionieren wird also eine bereits im Verhaltensrepertoire vorhandene Reaktion auf bestimmte Reize auf einen anderen, neuartigen Reiz transferiert. Dabei werden drei Phasen unterschieden: Vor der Konditionierung fĂŒhrt ein unkonditionierter, physiologischer Stimulus (hier das Futter), zu einer unkonditionierten Reaktion (Speichelfluss). In der Konditionierungsphase wird durch das HinzufĂŒgen eines neutralen Stimulus (Glockenton) direkt vor der PrĂ€sentation des unkonditionierten Stimulus (Futter) der zuvor neutrale Stimulus durch Assoziation zu einem konditionierten Stimulus (Glockenton), auf den eine Reaktion erfolgt. Nach der Konditionierung reicht die alleinige PrĂ€sentation des konditionierten Stimulus (Glockenton) aus, um die konditionierte Reaktion (Speichelfluss) hervorzurufen.
Eine Assoziation zwischen zwei Reizen bildet sich leichter, wenn die Reize zeitlich und rĂ€umlich nah beieinander liegen, also KontiguitĂ€t vorhanden ist. In manchen FĂ€llen kommt es jedoch auch zu einer Konditionierung, wenn mehrere Stunden zwischen den beiden Reizen liegen (z. B. die Assoziation einer Ăbelkeitsreaktion mit dem Essen des Vorabends). Neben der KontiguitĂ€t ist vor allem die Kontingenz zwischen zwei Reizen entscheidend fĂŒr die Konditionierung: Eine konditionierte Reaktion (z. B. Speichelfluss) auf einen neutralen Stimulus (z. B. Glockenton) wird nur dann ausgebildet, wenn der neutrale Stimulus das Auftreten des unkonditionierten Stimulus (z. B. Futter) zuverlĂ€ssig vorhersagt, also signalisiert.
Reizgeneralisierung und -diskrimination. Eine einmal gelernte Verbindung kann auch auf Ă€hnliche Reize ĂŒbertragen werden. So zeigte sich bei konsequenter Paarung von Glockenton und Futter, dass Hunde in der Folge auch auf andere GerĂ€usche, wie z. B. Pfeifen, mit Speichelfluss reagierten. Ein ethisch sehr bedenklicher Nachweis dieser Reizgeneralisierung gelang John B. Watson um 1920. Er kombinierte beim kleinen Albert das BerĂŒhren einer weiĂen Ratte mit dem Ertönen eines lauten und angsteinflöĂenden Tons. Daraufhin zeigte Albert nicht nur beim Anblick der Ratte, sondern auch bei Ă€hnlichen Reizen, wie beispielsweise dem Fell eines Hasen, BaumwollbĂŒscheln oder weiĂen BĂ€rten, Angstreaktionen. Bei der Reizgeneralisierung fallen die Reaktionen umso stĂ€rker aus, je Ă€hnlicher sich die Reize sind. Das konzeptuelle GegenstĂŒck zur Reizgeneralisierung ist die Diskrimination (Unterscheidung). Beispielsweise sind Hunde in der Lage zu lernen, nur auf spezifische akustische Reize, aber nicht auf andere GerĂ€usche mit Speichelfluss zu reagieren.
Extinktion und Spontanerholung. ErhĂ€lt ein Hund nach dem Ertönen der Glocke fĂŒr lĂ€ngere Zeit kein Futter, dann wird irgendwann der Speichelfluss ausbleiben. Dieses AbschwĂ€chen der konditionierten Reaktion durch wiederholte Abwesenheit des unkonditionierten Reizes (Futter) wird als Extinktion bezeichnet. Der konditionierte Reiz wird dabei wieder zum neutralen Reiz und die Assoziation mit dem Futter geschwĂ€cht, also im gewissen Sinne verlernt. Reiz-Reaktions-Verbindungen können jedoch auch spontan wieder auftreten, wenn auch meist mit geringerer IntensitĂ€t und kĂŒrzerer Dauer. In einem solchen Fall spricht man von Spontanerholung.
Fokus: Statistisches Lernen
Das Prinzip des Lernens durch Assoziationsbildung liegt auch anderen lerntheoretischen AnsĂ€tzen zugrunde, wie z. B. dem sog. statistischen Lernen. Durch die bloĂe Aufnahme von Informationen aus unserer Umwelt sind wir in der Lage einzuschĂ€tzen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ereignis auf ein anderes folgt. Dies wird als statistisches Lernen bezeichnet (siehe z. B. Saffran, Aslin & Newport, 1996). So assoziieren wir Reize, die in einem statistisch vorhersagbaren Muster auftreten. Da viele Ereignisse in unserer Umgebung, z. B. die Abfolge von Sprachlauten oder von motorischen Handlungen, in vorhersehbarer Reihenfolge verlaufen, ermöglicht statistisches Lernen, derartige Abfolgen zu antizipieren und nachzuahmen. Das statistische Lernen wurde in verschiedenen Bereichen untersucht (z. B. Musik oder Motorik) und scheint insbesondere beim Spracherwerb eine wichtige Rolle zu spielen (siehe z. B. Breitenstein & Knecht, 2003, fĂŒr einen Ăberblick). Experimentelle Studien zeigen z. B., dass Kinder im Grundschulalter in der Lage sind, das Regelwerk einer einfachen kĂŒnstlichen Grammatik basierend auf der HĂ€ufigkeit verschiedener Wortfolgen zu erlernen, ohne bewusst Aufmerksamkeit aufzuwenden.
Operante Konditionierung
Gelernte unwillkĂŒrliche Reaktionen (wie z. B. Speichelfluss oder Angst) lassen sich durch die klassische Konditionierung sehr gut erklĂ€ren. Obwohl viele Forschungsarbeiten zum Konditionieren in Tierversuchen durchgefĂŒhrt wurden, gilt auch bei uns Menschen: Unser Verhalten wird hĂ€ufiger als uns bewusst ist, durch einfaches Assoziationslernen gesteuert. Manchmal lösen DĂŒfte wohlige GefĂŒhle ins uns aus, weil wir sie mit schönen Momenten verbinden, andere GerĂŒche hingegen ungute GefĂŒhle, ja bisweilen sogar Ăngste, da wir sie in emotional belastenden Situationen wahrgenommen haben. Wie aber werden Verhaltensweisen erlernt, die nicht auf einer angeborenen, unkonditionierten Reiz-Reaktions-Verbindung basieren, wie beispielsweise die Erledigung der Hausaufgaben oder das hĂ€ufige ZuspĂ€tkommen zu einer Verabredung? Anders gefragt: Was kann man tun, um die A...