1 Beziehungskapital und Wertschöpfung
VerĂ€nderung als Kontinuum. »Nichts ist so bestĂ€ndig wie der Wandel« â dieser Satz ist mehr als eine vermeintliche Managementweisheit. Seine Urheberschaft, die gleichermaĂen dem griechischen Philosophen Heraklit wie dem britischen Naturforscher und Evolutionstheoretiker Charles Darwin zugeschrieben wird, liegt vermutlich im Dunkeln, denn dieser Satz gilt universell. Dass er schon vor zweieinhalb Jahrtausenden im alten Griechenland als wesentliche Erkenntnis galt und sich bei Darwin wiederfindet, unterstreicht, dass nie StabilitĂ€t, sondern immer VerĂ€nderung das Kontinuum ist, mit dem sich Wissenschaft und Praxis zu allen Zeiten und in allen Bereichen auseinandersetzen mussten. Dass sich dieser Satz immer wieder im Managementkontext findet, hat eine einfache Ursache: Management strebt nach StabilitĂ€t und Sicherheit und muss doch permanent mit Wandel, Unsicherheit und VerĂ€nderung leben und umgehen. Dadurch entsteht Bedarf nach Konzepten und Beratung zu einem sicheren Umgang mit VerĂ€nderung. Genau an dieser Stelle setzt der hier vorgestellte Beziehungskapital-Ansatz. Er rĂŒckt das Beziehungsnetzwerk von Unternehmen und Organisationen1, die Ermittlung und das Verstehen der Beziehungs- und Einflussbedingungen und -strukturen mit deren Risiken und Chancen sowie deren Einfluss auf Unternehmenserfolg in den Blick. Im Mittelpunkt steht dabei die Bedeutung des Einflusses immaterieller Vermögenswerte eines Unternehmens auf dessen Wertschöpfungspotenziale.
1.1 Turbulenzen und Unsicherheit
Umgang mit KomplexitĂ€t. VerĂ€nderung und Herausforderung dĂŒrften zu den meist gebrauchten Vokabeln gehören, um Interesse zu wecken und neue AnsĂ€tze zu begrĂŒnden, mit deren Hilfe Managementprobleme gelöst werden sollen. Wir ersetzten das in seiner Allgemeinheit und verbindlichen Unverbindlichkeit abgegriffene Begriffspaar hier durch ein Trio: Turbulenz, Resilienz und AgilitĂ€t. Auch diese Begriffe sind nicht neu, erscheinen uns heute aber treffender, prĂ€ziser und aktueller. Schon am Beginn des Internetzeitalters Anfang der 1990er-Jahre sprach der bekannte Managementwissenschaftler und -berater Fredmund Malik von »Turbulenzen« (1993, S. 15): Er bezog sich damit auf den schon seinerzeit weltweit eingetretenen Wandel und die damit verbundenen VerĂ€nderungen der »KomplexitĂ€t von Steuerungs-, Lenkungs- und Gestaltungsproblemen« des Managements von Organisationen, denen er eine bereits vorprogrammierte, weitere KomplexitĂ€tszunahme attestierte. Heute, knapp zweieinhalb Jahrzehnte spĂ€ter, ist dieser Wandel und sind mit ihm die angekĂŒndigten Turbulenzen lĂ€ngst RealitĂ€t geworden. Malik (1993, S. 22-23) problematisierte schon damals die limitierte FĂ€higkeit der »EntscheidungstrĂ€ger, Management-Systeme und Management-Strukturen, KomplexitĂ€t zu beherrschen«, verwies aber auch auf einen bis heute wenig beachteten Lösungsansatz: Ashbys sogenanntes Gesetz der erforderlichen VarietĂ€t, wonach nur VarietĂ€t erfolgversprechend mit VarietĂ€t umgehen kann: Je gröĂer die eigene VarietĂ€t ist, desto gröĂer wird die Wahrscheinlichkeit, mit anderer VarietĂ€t umgehen zu können. Man könnte auch von Offenheit fĂŒr VerĂ€nderung sprechen. Der Soziologe Dirk Baecker (1999, S. 14-26) griff wenig spĂ€ter das Problem mit der zugespitzten Frage auf, wie viel Organisation die Organisation eigentlich brauche. Malik schloss seinen Beitrag seinerzeit mit der Feststellung:
Entscheidend wird nicht mehr die ökonomische Gewinnmaximierung sein, sondern die Entwicklung der LebensfĂ€higkeit und Robustheit einer Unternehmung, nicht das Herausquetschen der letzten Renditeprozente, sondern die FĂ€higkeit, auch UmsatzeinbrĂŒche und massiven Preisdruck durchzustehen. Nicht das GeschĂ€fte-Machen wird im Vordergrund stehen, sondern die Kunst, im GeschĂ€ft zu bleiben, und es werden nicht so sehr Fragen des FĂŒhrungsstils wesentlich sein, als vielmehr die FĂ€higkeit und Bereitschaft, Verantwortung zu ĂŒbernehmen und wenn notwendig auch einzulösen (Malik, 1993, S. 47).
Resilienz und AgilitĂ€t. Der Begriff Turbulenzen stammt aus dem physikalischen Bereich und steht dort fĂŒr Verwirbelungen der Luft zu einer ungeordneten, schwer vorhersehbaren Struktur: Im Motorrennsport ist die »dirty air«, verwirbelte Luft, die vom hinterherfahrenden Konkurrenten aerodynamisch schwer zu beherrschen ist. Auf Wirtschaft und Gesellschaft bezogen bedeutet dies, dass sich derart viele Prozesse gleichzeitig ereignen und fĂŒr Verwirbelung sorgen, dass sich ihre wechselseitigen EinflĂŒsse und Folgen vielfach nur schwer vorhersehen lassen und Management Möglichkeiten, Verfahren und ausreichende SensibilitĂ€t benötigt, um mit dieser Unberechenbarkeit umgehen zu können. Der aus der Psychologie stammende Begriff der Resilienz bezeichnet demgegenĂŒber gerade jene Robustheit und LebensfĂ€higkeit, die Unternehmen Malik zufolge besitzen mĂŒssen, um zukunftsfĂ€hig zu sein und sich dazu immer wieder politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen anpassen zu können. AgilitĂ€t schlieĂlich meint diese FlexibilitĂ€t und FĂ€higkeit eines Unternehmens, zur Selbsterhaltung und Entwicklung mit Unsicherheit, Wandel und VerĂ€nderung umzugehen.
Ganzheitlicher Ansatz. Auch agile Unternehmen können Zukunft nicht vorwegnehmen und Wandel und VerĂ€nderung nur in einem absehbaren MaĂ einschĂ€tzen. Sie sind von ihrer Managementstruktur her aber so aufgestellt, dass sie vermeintlich wesentliche einflussreiche Faktoren beobachten und so Wandel und VerĂ€nderung antizipieren können. Resiliente Unternehmen zeichnen sich durch »Wachsamkeit und FlexibilitĂ€t« aus, können VerĂ€nderung und RĂŒckschlĂ€ge verkraften und ihre Strukturen und Prozesse anpassen, »ohne ihre organisatorische Einheit und kulturelle IdentitĂ€t zu verlieren« (Klappentext zu Buchholz & Knorre, 2012). Oder anders ausgedrĂŒckt: Ein resilientes und agiles Unternehmen muss zum Umgang mit Bedingungen und Rahmenbedingungen des eigenen Wirtschaftens nicht nur ĂŒber ein finanzielles, sondern auch ĂŒber ein soziales Risikomanagement verfĂŒgen. Und genau darum geht es im vorliegenden Band: NĂ€mlich um die Frage, auf welche Managementinformationen und -verfahren sich Unternehmen stĂŒtzen können, wenn sie Resilienz und AgilitĂ€t als ganzheitliche Managementprobleme ernstnehmen.
Unsicherheit als Herausforderung. Wandel und VerĂ€nderung beschreiben die unternehmenspolitischen Herausforderungen nur unzureichend, denn erhöhte KomplexitĂ€t, beschleunigte Dynamik und entsprechender Bearbeitungsbedarf sind nur Indikatoren. TatsĂ€chlich geht es um die zentrale Folge dieser Entwicklung: Es geht um eine deutlich erhöhte Unsicherheit in Entscheidungs- und Bearbeitungsprozessen. Dies ist besonders prekĂ€r, weil sich mit KomplexitĂ€t und Dynamik der fĂŒr eine Bearbeitung notwendige Zeitbedarf erhöht, die real verfĂŒgbare Reaktionszeit aber verkĂŒrzt hat. Ob adĂ€quate Bearbeitungsressourcen zur VerfĂŒgung stehen, ist ein drittes Problem. Damit kommen zu Unsicherheit noch Zeitdruck und KapazitĂ€tsprobleme. Deshalb ist es richtig, wenn Lintemeier & Rademacher (2013, S. 6) attestieren: »Kaum etwas verĂ€ndert sich so grundlegend wie die unternehmenspolitische Landkarte. Das Management in Unternehmen und Institutionen agiert in einem immer stĂ€rkeren MaĂe in einer vernetzten Welt von Interessen und Einflussmöglichkeiten«. Dabei geht es um nichts anderes als die Stakeholder eines Unternehmens, die als Publikums- und Anspruchsgruppen das Unternehmensumfeld bilden, Rahmenbedingungen setzen und verĂ€ndern, sich artikulieren und Gehör finden können, oder kurz: die unternehmenspolitischen HandlungsspielrĂ€ume bestimmen.
Abbau von Unsicherheit. Unsicherheit lĂ€sst sich deshalb nur auf einem Wege auffangen, eingrenzen und damit die Anpassungszeit verringern: Durch ein ausreichendes Vorwissen um die Befindlichkeit und Kooperationsbereitschaft derjenigen, die Einfluss auf unternehmenspolitische HandlungsspielrĂ€ume nehmen: die jeweils relevanten Stakeholder-Gruppen. Konkret geht es dabei um deren Erwartungen und BeweggrĂŒnde und deren erwartbares oder nicht-erwartbares Verhalten im Kontext getroffener, laufender oder zu treffender unternehmenspolitischer Entscheidungen und Ereignisse. Unter dem Strich geht es um ein Wissen ĂŒber die StabilitĂ€t und Belastbarkeit von Stakeholder-Beziehungen, das es möglich macht, Chancen zu nutzen und Entscheidungsrisiken möglichst weitgehend einzugrenzen. Oder genauer: Es geht um die QualitĂ€t von Beziehungen und Beziehungskapital, das die betreffenden Stakeholder-Gruppen fĂŒr das Unternehmen als Kredit zur VerfĂŒgung stellen, dessen Bedarfsgerechtigkeit und VerfĂŒgbarkeit. Kenntnisse um die QualitĂ€t von Beziehungskapital grenzen Unsicherheit ein und erhöhen damit Prognose- und Entscheidungssicherheit.
1.2 Stakeholder-Beziehungen als ungenutzte Chancen
System-Umwelt-Zusammenhang. Unternehmen und Umwelt â wir werden im Weiteren noch Umfeld als das Beziehungsnetzwerk eines Unternehmens von der Umwelt als dem gesellschaftlichen Rahmen unterscheiden â bilden einen untrennbaren und immerwĂ€hrenden System-Umwelt-Zusammenhang. Dies ist nichts anderes als die systemtheoretische Grundfigur sozialer Systeme, die in diesem Fall aus einem Unternehmen als Organisationssystem und dessen Beziehungsnetzwerk als Umfeld bestehen (vgl. Luhmann, 1984, S. 22-29). Um dies im Managementkontext darzustellen, kann auf Maliks Basissystem des Managements zurĂŒckgegriffen werden:
Es besteht aus den drei konstitutiven Teilen Umwelt, Unternehmen und UnternehmensfĂŒhrung (Management). Die Pfeile stehen fĂŒr die Beziehungen zwischen diesen Subsystemen. Die gestichelten Pfeile bedeuten, dass das Management die Umwelt nur indirekt beeinflusst â durch Gestaltung, Lenkung und Entwicklung des Unternehmens.2
Die Art und Weise, wie ein Unternehmen gefĂŒhrt wird, lĂ€sst eine Unternehmenspersönlichkeit entstehen, die als solche in ihrer Eigenheit in Umfeld und Umwelt wahrgenommen und bewertet wird. In klassischer Literatur wird hier von IdentitĂ€t auf der einen und Images als Deutungsschemata auf der anderen Seite gesprochen (vgl. Buss, 2007).
Abb.1-1: Basissystem des Managements nach Malik3
Unternehmen und Stakeholder. Unternehmen sind nicht ohne ihr gesellschaftliches Umfeld zu denken. Die Medien- und Netzöffentlichkeit mit ihren vielfĂ€ltigen Informations- und Partizipationsmöglichkeiten, die sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten herausgebildet hat, fĂŒhrt uns dies tagtĂ€glich vor Augen. Deutlich werden dabei drei Sachverhalte:
âą Transparente MeinungsmĂ€rkte: Es geht i. d. R. nicht um die Ăffentlichkeit, sondern um Menschen, die einem Unternehmen in verschiedenen Rollen, mit unterschiedlichen Interessen und unterschiedlicher IntensitĂ€t begegnen und ihnen so als Teile von Ăffentlichkeit gegenĂŒbertreten. Diese sogenannten Teilöffentlichkeiten sind MeinungsmĂ€rkte, in denen entlang meinungsmarktrelevanter Themen ein Austausch unter Gleichen oder Ăhnlichen stattfindet, bei dem nicht nur Meinungen gebildet und ausgetauscht, sondern ĂŒber Meinungen auch Positionen dieser Gruppen zu Sachverhalten sichtbar werden.
âą Unterschiedliche...