1 Fragestellung, Ziele, Methoden
1.1 Fragestellung
Ansatzpunkt der Untersuchung sind daher zwei unterschiedliche wissenschaftliche Aussagen: Während, vereinfacht ausgedrückt, die Migrationssoziologie religiös-ethnische Fragestellungen zur Situation von Migranten in Krankenhäusern für letztlich nichts weiter als die sprachlich gewandelte Fortsetzung einer alten, völkisch-rassistischen Betrachtungsweise hält, geht die Religionswissenschaft von religionsspezifischen Heilserwartungen und damit auch Heilungsansprüchen aus, die sich zwangsläufig in einer situationsspezifischen Wahrnehmung von Krankheit und kurativen Maßnahmen einschließlich der zu erwartenden Erfolge niederschlagen müssen.
1.2 Ziele
Damit sind die Ziele der Studie bereits umrissen:
Die Heilungserwartungen der in der Region Hannover lebenden Muslime sollen erfragt und dargestellt werden. Dazu gehört zunächst auf deskriptiver Ebene eine Skizze der muslimischen Gruppierungen, ihres kulturellen Umfeldes, ihrer Herkunft und nicht zuletzt ihrer sozialen Situation. Verbunden mit dieser Form der Darstellung ist die Absicht, Informationen über eine Religion und ihre Anhänger zu vermitteln, die in Deutschland schon lange kein Randphänomen mehr ist, aber immer noch als ein solches wahrgenommen wird. In einer ähnlichen, aber südostasiatische Migranten betreffenden Studie bemerkt der Religionswissenschaftler Martin Baumann dazu treffend: „Wie sich vielfach im Hinblick auf Migrantengruppen gezeigt hat, lassen in der Mehrheitsbevölkerung vorhandene Wissensdefizite über fremde Wertkonzepte und Ritualhandlungen Misstrauen und Ablehnung wachsen.“3 Diese Wissensdefizite abzubauen, setzt sich die Studie zum Ziel. In diesem Zusammenhang muss die Rolle der Religion als Integrationsfaktor ebenso angesprochen werden wie ihre Signifikanz hinsichtlich gesellschaftlich konfliktträchtiger Situationen und die Rolle der Mehrheitsbevölkerung. Im Zentrum der Studie steht jedoch das eigentliche Thema, nämlich die spezifischen und konkreten Heils- und Heilungserwartungen erkrankter Muslime und der sich daraus möglicherweise ergebenden Defizite und Konflikte in der Patientenversorgung und im medizinischen Bereich. In diesem Zusammenhang sollen die Geschichte der muslimischen Medizin, d.h. arabisch-orientalischen, der europäisch-westlichen Medizin gegenübergestellt und ihre Verknüpfungen deutlich gemacht werden.
Da die Durchführung der Studie in den Händen des Seminars für Religionswissenschaft der Universität Hannover lag und die Dr. Buhmann-Stiftung sich zudem dem interreligiösen Dialog und erst in zweiter Linie sozialen oder medizinischen Aspekten verpflichtet sieht, entsprach die Auswahl der zu befragenden Gruppen einem religionswissenschaftlichen Ansatz: Es sollten Muslime in typischen Übergangssituationen bzw. in einer charakteristischen, religiös oder traditionell definierten Rolle erfasst werden. Dies waren:
Geburt und Wochenbett: Befragung von Patientinnen und Angehörigen auf den Wöchnerinnenstationen;
Schwersterkrankung und Sterben: Befragung von Patienten und Angehörigen auf internistischen / onkologischen Stationen;
Männliches Rollenverhalten und Krankheit: Befragung von Patienten und Angehörigen (Urologie, Chirurgie).
In der Praxis konnte diese Beschränkung nicht durchgehalten werden. Zwar war es kein Problem, in einem weitgehend vorgegebenen Zeitrahmen eine aussagefähige Anzahl von Wöchnerinnen zu befragen; schwieriger gestaltete sich dagegen bereits die Untersuchung des Themenkomplexes „männliches Rollenverhalten“ sowie „Schwersterkrankung und Sterben“ aus dem Grunde, da kaum geeignete Patienten zur Verfügung standen. Dies mag zum Teil an der nicht immer vorbildlichen Kooperation der in die Studie eingebundenen Krankenhäuser gelegen haben, ist aber zum anderen sicherlich auch auf abweichendes Verhalten und Krankheitsverständnis muslimischer Migranten zurückzuführen, die nur bei drückenden Beschwerden ein Krankenhaus aufzusuchen scheinen und im Alter ihren Lebensmittelpunkt in die ehemalige Heimat zurückverlegen. Ergänzend zu den Patientenbefragungen wurden Interviews in Moscheegemeinden bzw. Vereinigungen durchgeführt, die zur Abrundung des Bildes beitragen. Auch dies ist Thema eines eigenen Abschnittes.
Ebenfalls parallel durchgeführte Befragungen in Arztpraxen bzw. unter Hebammen / Pflegepersonal zeigten deutlicher als die eigentlichen Patientenbefragungen die in der Praxis auftretenden Schwierigkeiten im Umgang mit muslimischen Migranten im Gesundheitswesen, aber auch die Informationsdefizite und, als Resultat, konkret geäußerte Fortbildungswünsche.
1.3 Methode
Wie der renommierte Sozialforscher Roland Girtler schreibt, sind es „oft persönliche Erlebnisse und tiefer gehende Kontakte, die einem Sozial- bzw. Kulturwissenschaftler ein bestimmtes Thema als interessant erscheinen lassen.“4 Aus persönlicher Betroffenheit oder Sympathie entsteht ein bestimmtes Forschungsinteresse, der Wunsch, einen Bereich gesellschaftlichen Lebens „von innen her kennenzulernen und seine Wirklichkeit zu erforschen“.5 Daraus folgt der Verzicht auf eine Standardisierung von Fragen oder gar die Präsentation von Mittelwerten zu Gunsten von Beschreibungen spezifischer Situationen, von Hoffnungen und Erwartungen, von Ängsten und Enttäuschungen. Die Studie arbeitet also nach dem Prinzip der qualitativen Sozialforschung, indem sie mit Hilfe freier Interviews nach dem Beispiel von Alltagsgesprächen die subjektive Perspektive des Befragten erkundet, ohne dass durch ein festgelegtes Frageraster das Spektrum der möglichen Antworten bereits vorher beeinflusst oder gar festgelegt wird.6 Im Unterschied zu quantitativen Methoden bieten sich qualitative Methoden an, wenn es um die „Deskription empirischer Sachverhalte und sozialer Prozesse, Aufstellung von Klassifikationen und Typologien, Gewinnung von Hypothesen am empirischen Material, Prüfung von Forschungshypothesen“ geht.7 Dies bedeutet, dass im Unterschied zur quantitativen Sozialforschungen mit einer wesentlich geringeren Anzahl von Personen gearbeitet werden kann und wird, wobei dann aber der Auswahl möglichst repräsentativer Probanden eine erhöhte Relevanz zukommt. Qualitative Interviews lassen ihre Interviewpartner ausführlich zu Wort kommen, um so möglicherweise auch neue und unbekannte Fragestellungen zu erschließen. In technischer Hinsicht wird an Alltagsgespräche angeknüpft, um in einer möglichst wenig künstlichen und entspannten Atmosphäre Hemmschwellen abzubauen und damit zu intimen Kenntnissen sozialer Sachverhalte zu gelangen. Problematisch ist hier gelegentlich, einen guten Zugang zu den Probanden zu finden, denn, wie Girtler betont, hat jede Gemeinschaft ihre Erfahrungen mit und daher Ressentiments gegen Außenstehende. Voraussetzung für eine gelungene und wirklichkeitsnahe Studie in gesellschaftlichen Sondergruppen ist daher der gute, besser freundschaftliche Kontakt zu Mitgliedern dieser Gruppe, die weitere Kontakte vermitteln können. Diese Voraussetzungen waren in fast optimaler Weise gegeben, denn die Offenheit und positive Grundeinstellung Muslimen gegenüber, für die die Hannoversche Religionswissenschaft und die Buhmannstiftung gleichermaßen stehen, half, Ängste bei den Interviewten abzubauen. Als besonders günstig erwies sich in diesem Zusammenhang, dass einige der befragenden studentischen Mitarbeiter auf einen eigenen Migrationshintergrund verweisen bzw. sich mit den Interviewten in ihrer Muttersprache verständigen konnten. Diese Interviews unterscheiden sich in nicht unbedeutenden Details von den von deutschstämmigen Mitarbeitern durchgeführten Interviews: Sie sind kritischer; mehr dazu im Interpretationsteil.
Noch ein Wort zu den Interviews, die oben zunächst als freie Interviews im Unterschied zu Fragebogeninterviews charakterisiert wurden. Auch bei den freien Interviews gibt es Unterschiede. Hier ist zunächst das narrative Interview zu erwähnen, das in Erzählform Auskunft über biographische Daten, Erlebnisse Berufsverlauf etc. gibt und in den hier vorliegenden konkreten Fällen oft lange Passagen über den Islam, Inhalte des Koran, Feste und Vorschriften enthielt. Vorgegeben wurde von uns lediglich das Thema in Form einer einleitenden Frage: „Wie geht es Ihnen?“ oder „Fühlen Sie sich hier wohl?“ Meist reichten diese kurzen Sätze und die offenkundige Bereitschaft des Fragenden zuzuhören, um lange Erzählungen oder Berichte zu provozieren, die die Situation der Erkrankten in wünschenswerte Tiefe ausleuchteten. Gelegentlich nahmen diese Gespräche – vor allem unter Frauen – den Charakter einer freundschaftlichen Plauderei an, in deren Verlauf auch die Zielperson Einblick in das Leben der Fragenden gewann und in dem es zuletzt um den Austausch von Positionen und Bekenntnissen ging. So wurde ich nach meinen persönlichen Glaubensüberzeugungen gefragt, ob ich Freundschaften zu Muslimen unterhielte, wie ich meine Kinder erziehe usw.
Nicht immer führten die einleitenden, allgemeinen Fragen zu den erwünschten Ergebnissen. So wurde zwar meist gern über die Krankengeschichte berichtet, über die Pflege, Ärzte usw., der kulturelle Hintergrund einschließlich der religiösen Bindungen kam jedoch gelegentlich zu kurz, so dass hier eine Reihe von Zusatzfragen gestellt wurde, die zur Abrundung des Bildes beitragen sollten. Zu diesem Zweck wurde von uns, der Arbeitsgruppe, zuvor ein Interviewleitfaden erarbeitet8, der zunächst lediglich für die Interviewer einen Rahmen vorgeben sollte, der unsere Interessen absteckte. Dieser Interviewleitfaden sollte keinesfalls dazu dienen, bestimmte Problemstellungen abzufragen; vielmehr sollte es der jeweiligen Situation überlassen bleiben, wann welche Fragen zu stellen seien. Diese so genannten problemzentrierten Interviews wurden immer dann angewendet, wenn der Patient nicht in der Lage war, in freier Erzählung die gewünschten Auskünfte zu geben,9 oder wenn das Gespräch zu sehr in Bereiche abglitt, die für unseren Themenschwerpunkt nicht relevant waren, für die Interviewten aber von Interesse. Ein Beispiel: So erzählten einige ältere Frauen ausführlich über ihre Kinder, deren berufliche Erfolge oder geglückte Ehen. Hier wurde dann mit Zusatzfragen das Gespräch auf die eigentliche Problematik zurückgelenkt.
3 Vgl. Martin Baumann 2000, 13.
4 Roland Girtler 1985, 9.
5 Ebd. 14.
6 Der Wert qualitativer Methoden in der Sozialforschung wird bis heute kontrovers diskutiert. Vgl. dazu Andreas Diekmann 2004, 443–455.
7 Ebd. 444.
8 Der Interviewleitfaden findet sich im Anhang.
9 Vgl. Andreas Diekmann 2004, 450–451.
2 Migration und Religion
(unter Mitarbeit von Asiye Berge-Traoré)
2.1 Der Islam in Niedersachsen
Kaum eine einschlägige Publikation kommt ohne den Hinweis auf eine bisher nicht gekannte religiöse Vielfalt in der deutschen bzw. niedersächsischen Kulturlandschaft aus,10 und tatsächlich ist hier ein deutlicher Wandel nicht zu übersehen. Wie Baumann in seiner Untersuchung über die Religiosität / religiöse Organisation asiatischer Migranten zusammenfassend ausführt, ist religiöser Pluralismus zumindest in Niedersachsen ein Phänomen der jüngsten Geschichte. Noch bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war die Bevölkerung weiter Teile des heutigen Niedersachsens durchgängig protestantisch; lediglich in bestimmten Regionen wie Osnabrück, Emsland oder Südoldenburg dominierte der Katholizismus. Erst durch die Gründung des Bundeslandes Niedersachsen 1946 entstand ein in konfessioneller Hinsicht bunteres Landschaftsbild, das durch den Zustrom von Flüchtlingen, Vertriebenen und Evakuierten zusätzlich an Heterogenität gewann. Diese durch die politischen und demographischen Veränderungen während der Nachkriegszeit hervorgerufenen Verschiebungen innerhalb der konfessionellen Zusammensetzung der einzelnen Regionen gingen nicht ohne Probleme vonstatten, da die anderskonfessionellen Zuwanderer Konkurrenten in einer weitgehend noch durch Mangel (Wohnung, hochwertige Nahrung, Arbeit) geprägten sozialen Umwelt darstellten. „Erst langsam,“ so stellt Baumann fest, wuchs „das politisch als auch demographisch neue niedersächsische Volk ... zusammen, die einstige regionale monokonfessionelle Prägung wich vielerorts einer Bikonfessionalität.“11
Eine Sonderstellung nahmen die jüdischen Gemeinden ein, die sich seit jeher in einer Diasporasituation befunden hatten, als Fremdlinge angesehen und stigmatisiert wurden. Erst 1870 konnten die Hannoveraner Juden nach knapp zweihundert Jahren der Hinterhofexistenz eine repräsentative Synagoge an zentraler Stelle errichten, die jedoch 1938 zerstört wurde. Heute befindet sich an dieser Stelle das Parkdeck der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers; lediglich eine unauffällige Gedenktafel erinnert an die Synagoge und die kurze Zeit der erfolgreichen jüdischen Emanzipation.12
Festzuhalten bleibt bei diesem begrenzten Ausflug in die niedersächsische Religionsgeschichte, dass religiöse Vielfalt auch auf kleinstem und anscheinend altgewohntem Level keineswegs zum gelebten Alltag in der jüngeren niedersächsischen Geschichte gehört, sondern dass vielmehr bloße konfessionelle Unterschiede in Zeiten politischer oder wirtschaftlicher Unsicherheit zur Verstärkung von Ressentiments führen konnten und führten. Entschärft wurden diese durchaus nicht immer nur marginalen Konflikte in den folgenden Jahren durch erhebliche Fortschritte auf dem Gebiet der Ökumene einerseits, andererseits aber vor allem durch die allgemein fortschreitende Säkularisierung, die zwar nicht zu einer Entchristlichung, aber doch zu einer fortschreitenden Entkirchlichung führte und damit di...