FM4 Wortlaut 16. FALLEN
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About this book

FM4 bot NachwuchsautorInnen und allen, die Lust am Geschichtenschreiben haben, die Chance, sich in kurzer Form literarisch ĂŒber das Thema "FALLEN" auszulassen. Zehn der cirka 1.000 BeitrĂ€ge wurden von einer hochkarĂ€tigen Jury gekĂŒrt und schafften es in die Anthologie Wortlaut 16.Die urteilenden Fallenstellerinnen und Gefallenen: Marcus Fischer (Wortlaut-Gewinner 2015), Hans Platzgumer (Autor und Musiker), Teresa PrĂ€auer (Autorin und KĂŒnstlerin), Monique Schwitter (Autorin), Andreas Spechtl (Musiker).Mit Texten von: Klaus Berger-SchwabFabian BĂŒrkinElisabeth EtzDavid FuchsDavid HassbachDietmar NemethHenrik PohlNoemi SchneiderAndrea WulfertMario Wurmitzer

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Information

PME

Noemi Schneider
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Foto: Peter Hassiepen
geb. 1982 in MĂŒnchen, studierte an der Hochschule fĂŒr Fernsehen und Film MĂŒnchen Regie im Bereich Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik.
Seit 2008 arbeitet sie als Redakteurin und Autorin fĂŒr Deutschlandradio Kultur in Berlin. Nebenbei schreibt sie u.a. fĂŒr die FAZ. Ihre Kurzgeschichten, ErzĂ€hlungen, Reportagen und Essays wurden mehrfach ausgezeichnet. Im FrĂŒhjahr 2017 erscheint ihr DebĂŒtroman Das wissen wir schon im Hanser Verlag Berlin.
Noemi Schneider lebt und arbeitet in MĂŒnchen und dem WestallgĂ€u.
Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit nach innen.
Gehen Sie in Gedanken durch Ihren Körper. SpĂŒren Sie, ob Sie angespannt oder verkrampft sind. Atmen Sie tief ein und dann langsam wieder aus.
Beobachten Sie, wie sich Ihre Bauchdecke beim Einatmen hebt und beim Ausatmen wieder senkt.
Vielleicht können Sie auch spĂŒren, wie die Luft kĂŒhl durch Ihre Nase einströmt und vom Körper erwĂ€rmt wieder hinausfließt.
Wenden Sie nun Ihre Aufmerksamkeit Ihrem rechten Unterarm zu. Ballen Sie Ihre rechte Hand zur Faust.
Jetzt!
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Nachdem du die FormalitÀten erledigt hast, triffst du Mike in der Raucherecke. Mike ist siebzehn und Praktikant. Er siezt dich und fragt, wie alt du bist und schÀtzt mal zwanzig. Dann duzt ihr euch. Er fragt, wo du wohnst und schÀtzt mal 5.
Woher weißt –?
Mike zuckt mit den Schultern. Auf 1 sind die Sprachgestörten, auf 2 die PflegebedĂŒrftigen, auf 3 die UnfĂ€lle und Amputierten, auf 4 die SchlaganfĂ€lle, auf 5 die Normalen, auf 6 die Psychos.
Du bist erleichtert, denn du bist zwanzig und normal.
Beim AufnahmegesprĂ€ch sagt dir der Chefarzt, dass du dreiunddreißig bist und zeigt dir ein Video, in dem eine Gazelle wie blöd durch die Savanne rennt und rennt und rennt und rennt und dann mit voller Wucht gegen einen Baum knallt neben dem drei Löwen liegen und zugucken.
Sie sind die Gazelle, sagt der Chefarzt, aber Sie wollen nicht so enden, deshalb sind Sie hier.
Du hĂ€ltst dem Chefarzt die Beweisbilder unter die Nase, die beweisen, wo und weshalb es dir weh tut, sie zeigen eindeutig, dass da etwas vorgefallen ist in deinem RĂŒcken und auf deinem Einweisungsschein steht OrthopĂ€die Akut.
Der Chefarzt hĂ€lt grundsĂ€tzlich nicht viel von Bildern, die Erfahrung, die Statistik und verschiedene Studien haben gezeigt, dass die Aussagekraft von Bildern ĂŒberschĂ€tzt wird. Der Chefarzt testet den Nerv und sagt, dem Nerv geht’s gut, das kommt dir irgendwie bekannt vor.
Der Chefarzt fragt, was du erreichen willst. Du willst, dass es aufhört, weh zu tun.
Wie viel Prozent?
Hundert.
Er sagt, morgen kriegst du eine Spritze. Mit den Spritzen haben sie gute Erfahrungen gemacht, außerdem kriegst du verschiedene Therapien, VortrĂ€ge, jede Menge Fragebögen zum AusfĂŒllen und ein Tagebuch.
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Beim Mittagessen lernst du die Anderen kennen. Die Anderen sind die Hölle zwischen achtzehn und achtundachtzig. Sie sagen: Moin, Moin, Hei, Hei, Mahlzeit und Tschaui.
Sie heißen: Steffi, Susi, Melli, Martina, Alois, Diana, Katja, Nadine, Claudia, Ralf, Fanny, Angela, Bernd, Andi, Renate, Petra, Moritz, Felix, Reiner, Doris und Michael.
Sie haben alles und nehmen alles. Sie spielen Skip-Bo, Phase Zehn, Kniffel und UNO.
Sie gucken GZSZ, Dschungelcamp, den Bachelor und den Bergdoktor und gehen abends in die Cafeteria oder in die Kneipe um die Ecke.
Die Anderen sind am Arsch. Du nicht, du hast seit drei Monaten nicht geschlafen, weil dir was weh tut, das ist alles. Du kriegst ein paar Spritzen und in zehn Tagen gehst du nach Hause, auch wenn du nicht mehr weißt, wo das ist.
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Du fĂŒllst die Fragebögen aus, wo genau und wie und wann unter Belastung und in Ruhe es weh tut. Es fĂ€llt dir schwer, diese Fragen prĂ€zise zu beantworten.
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Auf der Station gibt es nur Zweibettzimmer. Deine Zimmernachbarin heißt Doris. Doris tut es ĂŒberall weh. Doris ist einundfĂŒnfzig, in zweiter Ehe verheiratet und hat einen fĂŒnfunddreißigjĂ€hrigen Sohn. Doris war schon viermal hier. Ihr Nachttisch ist voll mit Blumen, GlĂ€sern, Flaschen und Kekspackungen. Doris guckt entweder Fernsehen, telefoniert, strickt oder liest die Freizeit Revue, Bild der Frau, das Fernsehprogramm und einen dubiosen Spiegel-Bestseller. Doris erzĂ€hlt dir als Erstes, dass die, die vorher in deinem Bett lag, die Hölle war, dann fragt sie, was du fĂŒr ein Sternzeichen bist.
Nachts lĂ€sst Doris die BalkontĂŒr gekippt, weil sie so schwitzt und mindestens dreimal raus muss.
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Du malst miese Stimmungs-Smilies in dein Tagebuch, trinkst Innere-Ruhe-Tee, bis dir schlecht wird und fÀngst an, SchÀfchen zu zÀhlen.
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Dein Physiotherapeut ist verheiratet, hat blaue Augen und bringt dich zum Lachen. Dann stellt er dir unangenehme Fragen. Du beantwortest sie wahrheitsgemĂ€ĂŸ, obwohl du dir sicher bist, dass er dich dann in eine Schublade steckt. Du willst Widerspruch einlegen und sagst, dass er sich die KĂŒchenpsychologie sparen kann, und dass du keine von denen bist. Es tut dir was weh und dafĂŒr gibt es Beweise und –
Wo genau?
Da und da und da und deshalb stehst du schief und kannst nicht schlafen und –
Er will wissen, wieso du nicht schlafen kannst, weil’s weh tut oder weil die Gedanken kreisen?
Beides.
Der Physiotherapeut sagt, du sollst dich mit gestreckten Beinen bĂŒcken, so weit es geht. Es tut weh, aber du berĂŒhrst mit deinen HĂ€nden den Boden. Der Physiotherapeut fragt, wann deine HĂ€nde das letzte Mal den Boden berĂŒhrt haben. Du kannst dich nicht daran erinnern.
Der Physiotherapeut will wissen, wie lange du sitzen, stehen, gehen kannst.
Du kannst, so lange du musst, sagst du.
Wann fÀngt es an, weh zu tun, wann genau?
Du hast keine Ahnung und saugst dir irgendwas aus den Fingern.
Vor dem Fenster taucht plötzlich ein Reh auf. Es fĂ€ngt an zu schneien, das Reh rennt weg. Du wĂŒrdest mitrennen, wenn du nicht auf der Flucht wĂ€rst.
Verbal könntest du den Physiotherapeuten innerhalb von drei Minuten schachmatt ...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Fallen – viel Gefallen
  6. Hineinfallen
  7. Fingerfallen
  8. PME
  9. Nach vorn
  10. Krampusjagd
  11. Turmspringen
  12. #scheissjahr
  13. Wie wir in Ohnmacht fielen
  14. Im Gebiet einzig neu: Talib
  15. Es fÀllt kein Spatz vom Himmel
  16. Hier und dort
  17. Zita Bereuter, Claudia Czesch