Tagwache
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Tagwache

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Im Herbst 2003, während der Vorbereitungen auf den Assistenzeinsatz des österreichischen Bundesheeres an der ungarischen Grenze, leistet sich der schüchterne und ungeschickteRekrut Thomas Lampl mehrere unverzeihliche Ausrutscher. Durch Wachtmeister Hütters Kollektivstrafen wird Lampl in der Kaserne immer öfter das Ziel von Beleidigungen und Schikanen. Dabei will Hütter, ein korrekter und respektvoller Mensch, doch bloß die Disziplin aufrechterhalten. Damit nicht wieder etwas passiert, so wie im Jahr zuvor …Das Militär ist eine Institution, die jeder kennt und die viele durchlaufen, über die aber entweder ehrerbietig und dankbar für die Hilfeleistungen bei Katastrophen berichtet oder in satirischen Anekdoten gewitzelt wird. Jakob Pretterhofer erzählt in seinem Debütroman Tagwache nüchtern vom ambivalenten Zustand des Erwachsenwerdens in hierarchischer und zerstörerischer Gemeinschaft. Vom Zurichten und Zugerichtetwerden, vom Haltfinden in Arbeit und Struktur und dem Widerstand dagegen.

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Information

Teil IV

23

Robert Hütter hatte sich am Freitagnachmittag in Zivil in sein Auto gesetzt. Bis sechzehnfünfzehn war er Wachtmeister Hütter gewesen, bis Montag nullsechshunderfünf- undfünfzig, bis zum Wiederbetreten der Kaserne, war er Robert Hütter.
Robert parkte vor dem Supermarkt. Er rollte den Einkaufswagen über den frisch polierten Boden, in der Feuchtigkeit reflektierte das Neonlicht, und holte die von Antonia geschriebene Einkaufsliste hervor. Er arbeitete die Liste ab, sammelte Milch, Toastbrot, gefrorene Erbsen, Sardellen, Salzgurken und Tortellini ein. Er legte auch Brokkoli, den er nicht mochte, und Balsamicoessig, den er nicht haben musste, in den Wagen. An der Fleischtheke besorgte er bereits marinierte Schweinekoteletts, Käsekrainer und Cevapcici für die Grillerei am nächsten Tag. Die Schwiegereltern kamen zu Mittag, wie jeden Samstag, außer Hütter hatte samstags Dienst, dann kamen sie sonntags.
Antonia lag zusammengerollt auf der neuen Ledergarnitur und hörte Brahms. Mittlerweile erkannte Robert die Komponisten. Er räumte, begleitet von der vierten Sinfonie in e-Moll, die Einkäufe in den Kühlschrank und die Speisekammer, dann küsste er Antonia. Sie hatte sich ihre rotbraunen Haare wieder zu einem Bob schneiden lassen, der ihren hellen Teint hervorhob und ihr rundliches Gesicht einfasste.
„Schön“, sagte Robert.
Antonia erzählte Robert beim Abendessen von dem Kind in ihrer Gruppe, welches mit seinen Eltern das Schlafzimmer teilte und deswegen den anderen Kindern beim Spielen diverse Sexpositionen vorzeigte und dazu grunzte, ohne zu wissen, was es da eigentlich tat. Danach schauten sie sich im Fernsehen Männerpension an. Robert ahmte Til Schweigers näselnde Stimme nach, obwohl er ihn mochte, aber er wusste, dass es Antonia ärgerte. Sie schliefen miteinander, und später, in der Dunkelheit des Schlafzimmers, dachte Robert, wie gut es ihm gehe, so zufrieden und angenehm müde, alles unter Kontrolle.
Nach dem Frühstück zogen sie sich ihr Sportgewand an und rannten im Morgennebel zwischen zwei brachliegenden Maisfeldern auf den am Bach entlangführenden Feldweg zu. Er drosselte für sie sein Tempo. Sie sagte ihm, er solle nicht auf sie Rücksicht nehmen, er begann sie zu umkreisen, bis sie ihn genervt wegschickte. Er startete davon, mit jedem Schritt entfernte er sich, und als er ihr am Rückweg entgegenkam, war ihr Gesicht beinahe so rot wie ihr Laufdress.
Vor einem Bildstock hielten sie an, um zu dehnen. Spaßeshalber gab er ihr Befehle, welche Übung der Goldenen 5 und der Täglichen 12 als nächstes auszuführen war, und zählte laut die Zeit mit, die jeder Muskel gedehnt werden sollte, bis sie ihm lachend gegen die Schulter boxte.
Während Robert die Kohle im Kugelgriller verteilte, klagte die Schwiegermutter über diverse von der EU verschwiegenen Gifte in diversen Lebensmitteln, und während Robert die Koteletts vom Rost nahm und der Käse aus den Krainern zischend auf die Kohlen tropfte, erzählte der Schwiegervater ein weiteres Mal, dass eigentlich er allein das Immobilienmaklerbüro betreibe, die anderen hätten überhaupt keine Ahnung. Dann fragte er Robert, wie es seinen Eltern gehe. Robert zuckte mit den Schultern, er telefonierte bloß zu Weihnachten und zu Ostern mit ihnen, das musste reichen. Sie stießen mit den Bierflaschen an, wie jedes Mal amüsierte sich der Schwiegervater über Roberts Alkoholfreies, da könne man es ja gleich lassen, meinte er und erzählte einen Witz, den er vergangene Woche am Pfarrfest aufgeschnappt hatte.
„Wisst’s ihr, dass das Bundesheer schon in der Bibel erwähnt worden ist?“
Antonia schüttelte den Kopf, Robert nahm die Käsekrainer vom Grill.
„‚Sie hüllten sich in seltsame Gewänder und irrten ziellos umher.‘“
Der Schwiegervater platzte los, die Schwiegermutter schüttelte den Kopf, Antonia schüttelte auch den Kopf, musste aber schmunzeln, Robert servierte die Würste.
Als Jugendlicher hatte er sich nie vorgestellt, einmal beim Heer zu landen. Jetzt war er seit über drei Jahren Berufssoldat. Hütter war ein überdurchschnittlich sportlicher Rekrut mit unterdurchschnittlicher Begeisterung für die Ausbildung zum Maschinengewehrschützen gewesen. Mit seiner Geschicklichkeit und seiner Fitness brauchte er sich nicht anzustrengen, und er strengte sich auch nicht an. Er war im Strom der Menge und der Befehle mitgeschwommen, hatte über die Witze der anderen gelacht, seine Ausbildner imitiert und am Abend mit ihnen getrunken.
Der Tischlereibetrieb, bei dem Robert gelernt hatte, ging drei Monate vor Ende seines Grundwehrdienstes in Konkurs. Er machte sich keine großen Gedanken oder Sorgen. Noch zahlte das Heer die Miete seiner Wohnung. Er war mit siebzehn ausgezogen, nachdem seine Adoptivmutter Gras bei ihm gefunden hatte. Drogen hatten ihn eigentlich nie besonders interessiert, er war zufrieden, wenn er ein paar Bier trinken konnte. In der Berufsschule hatte er zwar meistens mitgekifft und ein paar Mal Speed probiert, aber er hatte es gemacht, weil es die anderen gemacht hatten. Hin und wieder hatte er Gras gekauft, um es auf Feiern mitzunehmen. Aber in den Augen seiner Adoptivmutter machte ihn das zu einem Drogensüchtigen.
Sie habe ihn nicht aus dieser Familie geholt, damit er dann gleich ende wie seine Eltern, erklärte sie ihm. Sein Adoptivvater hatte dazu bloß genickt und gelächelt, so wie er zu allem selig nickte und lächelte.
Seine Adoptivmutter stellte ihn vor die Wahl: entweder er mache einmal im Monat einen Drogentest oder er müsse ausziehen. Sein Adoptivvater versuchte es über die religiösmoralische Schiene, was nur kurz funktionierte, obwohl Robert gläubig war. Aus aufgeschnappten Bibelzitaten hatte er sich sein eigenes katholisches Glaubensbekenntnis zusammengebastelt. Sein Adoptivvater wollte sich mit ihm immer wieder über religiöse Spitzfindigkeiten unterhalten, ihm die Unterschiede in den vier Evangelien nahe bringen und warum für ihn das Johannes-Evangelium das einzig wahre Evangelium war, aber das interessierte Robert nicht. Er ging einfach gern in die Kirche, er mochte den Geruch von Weihrauch und den durchritualisierten Ablauf einer Messe.
Er wollte sich nicht erpressen lassen. Dabei war weniger der Drogentest das Problem als das Bedürfnis seiner Adoptiveltern, ständig Dank dafür erhalten zu wollen, seine Eltern geworden zu sein. Also sagte Hütter „Geh scheißen“, die Mutter schrie, der Vater nickte und Hütter suchte sich eine Wohnung und fand eine, nach dem Grundwehrdienst suchte er Arbeit und fand keine.
Er begann, sich jeden Tag zu betrinken. Er zuckerte sich auf, damit er sich morgens zum Amt schleppen konnte, um sein Geld zu bekommen, das mit seinem Lebenswandel immer noch schneller weg war. Drei Mal wachte er zusammengekrümmt in seiner eigenen Kotze auf.
Er sprach in einem Lokal ein Mädel an, dem Freund passte es nicht, Robert gab ihm eins auf die Nase. Die drei Freunde des Freundes zerrten Robert aus dem Lokal, fixierten seine Arme hinter dem Rücken, Robert strampelte mit den Beinen, fluchte und spuckte, der Freund gab ihm eins auf die Nase zurück, dann in die Magengrube, dann noch einen auf die Nase, einen in die Magengrube und zur Verabschiedung einen Tritt gegen die Rippen. Robert lag alleine und zusammengekrümmt am Parkplatz neben dem Lokal. Mit der linken Hand rieb er sich mechanisch die aufgeplatzte Haut in seinem Gesicht, das Adrenalin wurde von Schmerz abgelöst, der sich durch seinen Kopf pumpte. Robert drehte sich auf den Rücken. Er starrte nach oben, bewegte Arme und Beine, als wollte er einen Schneeengel in den Asphalt zeichnen.
Zwei Wochen später sah er den Freund aus dem Lokal am Abend auf der anderen Straßenseite Münzen in einen Zigarettenautomaten werfen. Robert blickte sich um, niemand war zu sehen, auch kein Verkehr. Er spürte wieder die Scham vom Parkplatz, und die befeuerte seine Aggression. Die Schmerzen hatte er vergessen, damit konnte er umgehen, damit konnte er leben, aber nicht mit der Scham, er sah sich selber dabei zu, wie er die Straße überquerte und dem Freund die Faust gegen den Hinterkopf schlug. Der Freund stolperte seitlich und sank am Boden zusammen. Robert blieb vor ihm stehen, als hätte er nichts damit zu tun. Dann hörte er ein Auto näher kommen, Panik stieg in ihm hoch, er rannte davon und lief extra einen Umweg zu seiner Wohnung.
Er hätte gerne darauf gehofft, dass dem Mann nichts Schlimmes passiert war, aber er war viel zu sehr mit der sich über Tage ziehenden Sorge beschäftigt, von der Polizei abgeholt zu werden. Er trank noch mehr. Nach drei Tagen bildete er sich im Bett liegend ein, ein Unbekannter würde auf ihm knien und ihm die Arme hinter dem Rücken fixieren, minutenlang konnte er sich nicht bewegen. Irgendetwas musste sich ändern.
Er brauchte Geld, er brauchte Regelmäßigkeit, er brauchte Bewegung. Er nüchterte sich aus, er joggte, er machte die Goldenen 5 und die Täglichen 12, er versuchte, alles aus sich herauszuschwitzen, die Scham, die Schuldgefühle und die Giftstoffe. Als er hoffte, den Drogentest überstehen zu können, meldete er sich beim Heer.
Die Kaderausbildung war hart, aber Robert war fit und geschickt und er fühlte sich wohl. Er schlug sich nicht mehr und er trank nicht mehr. Er hatte weder besondere Vorstellungen für seine Karriere noch von der Kameraderie. Viele, die mit ihm die Ausbildung machten, strebten einen Auslandseinsatz an. Robert wollte bloß sein Leben in den Griff bekommen.
Später half der Schwiegervater Robert dabei, den Kellerabgang weiter zu verfliesen. Er erklärte Robert mehrmals, wie er die Fliesen zuzuschneiden und den Fliesenkleber aufzuspachteln habe, obwohl er selber ungenau arbeitete und ständig herumtrödelte. Robert und Antonia hatten das Haus erst vor zwei Monaten bezogen, aber der Vater konnte nicht verstehen, dass immer noch nicht alles fix und fertig war, das sei ja so kein Leben. Antonia nervten diese Dinge noch mehr als Robert selber, aber er durfte nichts sagen, als Tochter wollte sie das Vorrecht auf Beschwerden haben.
Am Abend gab es zum Geschnetzelten Brokkoli und Gurkensalat mit Balsamicodressing. Antonia beobachtete ihn beim Essen.
„Danke, schmeckt gut“, sagte er.
Sie wischte sich den Mund mit der Serviette ab. Sie glaubte ihm nicht. Robert servierte ab.
„Es hat mir wirklich geschmeckt.“
Robert verflieste weiter. Als er wieder aus dem Keller kam, schlief sie beim Flimmern einer Castingshow. Robert weckte sie nicht, duschte und...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Teil I
  6. Teil II
  7. Teil III
  8. Teil IV
  9. Teil V