Kapitel 1
Grundlagen
1.1 Faszination Aktfotografie â die Königsdisziplin
Aktfotografie ist eines der beliebtesten Genres der Fotografie ĂŒberhaupt. Auf viele Menschen ĂŒbt sie seit ihren AnfĂ€ngen im 19. Jahrhundert eine groĂe Faszination aus. Warum ist das so? Ich denke, dass sich die Motive dafĂŒr im Laufe der letzten 150 Jahre etwas verschoben haben. WĂ€hrend es in frĂŒheren Zeiten noch etwas Besonderes und oft auch SkandaltrĂ€chtiges war, Fotos von nackten Menschen öffentlich zu prĂ€sentieren, ist der Reiz des Verbotenen heutzutage â im Zeitalter des Internets â lĂ€ngst verloren gegangen.
Schauen wir kurz zurĂŒck: Die Darstellung des nackten Körpers in der Malerei war weit verbreitet und gesellschaftlich akzeptiert. Durch die Fotografie wurde vielen Betrachtern jedoch erst klar, dass es sich bei den Abgebildeten um reale Menschen handelt. WĂ€hrend die Aktbilder der Malerei keine Aufregung verursachten, galten Aktfotos oft als Pornografie. Um sich dem moralischen Verbot zu entziehen, gingen viele Fotografen den Weg, Aktaufnahmen unter dem Deckmantel der wissenschaftlichen Forschung anzufertigen. Aber auch die Tatsache, dass viele Maler feststellten, dass die Beschaffung entsprechender Fotografien gĂŒnstiger war, als die Sitzungen fĂŒr das Modellstehen zu bezahlen, war hilfreich fĂŒr die Verbreitung der Akt fotografie. Diese fĂŒr Maler angefertigten Fotografien sind quasi Grundlage und Geburtsstunde der heutigen klassischen Aktfoto grafie. FĂŒr diese kĂŒnstlerischen Aufnahmen wurde stets auf eher einfache und schlichte Kulissen zurĂŒckgegriffen â im Vordergrund stand der abgebildete (nackte) Körper.
Trotz gesellschaftlicher und auch staatlicher Interventionen entwickelte sich aus dieser Aktfotografie im Laufe der Zeit die Fotografie von eindeutig erotischer Natur. Im Gegensatz zur Aktfotografie wurden die Aufnahmen dabei stĂ€rker inszeniert â die Kulissen waren oft aufwĂ€ndiger gestaltet. Als Models fungierten vor allem zu Beginn oft Prostituierte. Die Urheber dieser sogenannten »Cochonnerien« (lt. Duden: Schweinerei, UnflĂ€tigkeit, Zote) sind heute in der Regel unbekannt, da sie von den Fotografen nicht unter ihrem bĂŒrgerlichen Namen veröffentlicht wurden (ein Vorgehen, das auch heutzutage nicht ganz unbekannt ist).
Derart »verboten«, »moralisch verwerflich« oder »schamverletzend« wie noch vor 100 Jahren ist das Thema Nacktheit und die Aktfotografie natĂŒrlich lĂ€ngst nicht mehr (zumindest nicht in unseren westlichen Kulturkreisen, wobei ich die durchaus bigotte Sichtweise der amerikanischen Gesellschaft auf das Thema jetzt einmal bewusst davon ausnehme). Dennoch: Obwohl nackte Inhalte fĂŒr jedermann mit wenigen Klicks im Internet jederzeit verfĂŒgbar sind, ĂŒbt die Abbildung von unbekleideten Menschen als Kunstform in der Fotografie immer noch einen besonderen Reiz aus. Weil wir eben nicht alle stĂ€ndig nackt durch das Leben gehen (Ausnahmen bestĂ€tigen die Regel) und weil es dann irgendwie doch etwas Intimes ist. Etwas, was der Durchschnittsmensch im Normalfall nicht jedem Menschen prĂ€sentiert.
Die inflationĂ€re VerfĂŒgbarkeit »nackter Tatsachen« in den Medien kann durchaus zu einer ĂbersĂ€ttigung fĂŒhren. Und tatsĂ€chlich kenne ich auch in meinem Bekanntenkreis Menschen, die Bilder von nackten schönen Menschen langweilig finden (sie vermitteln mir dies zumindest relativ glaubwĂŒrdig). Es ist daher fĂŒr jeden Aktfotografen unerlĂ€sslich, darauf zu achten, dass er/sie nicht einfach nur »nackte Körper« ablichtet â dass das Thema Nacktheit nicht zum Selbstzweck wird. Denn »yet another nude picture« ist etwas, das die Welt wirklich nicht braucht. Ich werde spĂ€ter noch ausfĂŒhrlich auf dieses Thema eingehen.
1-1 Aktaufnahme von EugĂšne Durieu, 1853
Die Faszination, die die Aktfotografie auf die meisten Betrachter ausĂŒbt, liegt damit weitgehend auf der Hand. Was aber fasziniert den Fotografen, sich mit dem Thema Aktfotografie auseinanderzusetzen? Es gibt da einen offenkundigen Grund, den ich in Abschnitt 1.2 behandeln werde. Hier möchte ich nachfolgend erlĂ€utern, was mich bei diesem Thema reizt, warum ich mich â neben meiner PortrĂ€tfotografie â sehr intensiv auch der Aktfotografie widme. Ich habe bereits in der Einleitung »angedroht«, dass dieses Buch sehr stark subjektiv eingefĂ€rbt sein wird â damit mĂŒssen Sie jetzt leben ;-)
1-2 Urheber unbekannt, ca. 1900
Was Aktfotografie mit PortrÀtfotografie zu tun hat
Viele Menschen sind irritiert, wenn ich sage, dass ich in den Bereichen PortrĂ€t- und Aktfotografie arbeite. Die Kombination dieser beiden Genres stöĂt nicht selten auf UnverstĂ€ndnis. Viele halten diese beiden Aufnahmebereiche innerhalb People-Fotografie fĂŒr viel zu gegensĂ€tzlich â quasi die beiden Extreme auf der Skala.
Nacktheit ist etwas NatĂŒrliches.
FĂŒr mich ist die Aktfotografie eine logische Fortsetzung bzw. sogar die Vollendung der PortrĂ€tfotografie. Kein anderer Aufnahmebereich ist so eng mit der PortrĂ€tfotografie verwandt wie die Aktfotografie. Ich betrachte sie als »PortrĂ€tfotografie ohne Kleidung«, denn der unbekleidete menschliche Körper ist per se natĂŒrlich und unverstellt, sehr schlicht und sehr reduziert (maximal reduziert, wenn man so will). Und diese Schlichtheit trĂ€gt nicht nur die NatĂŒrlichkeit des Menschen in sich, sondern auch sehr viel Schönheit. Einmal nackt gibt es keine Fassade mehr â kein Verstecken hinter Kleidung. Der Mensch ist dann, wie er ist. Als Betrachter hat man somit im Optimalfall den wahren Menschen als solchen vor sich.
Hier gilt einschrĂ€nkend, dass dies nach meiner EinschĂ€tzung ausschlieĂlich fĂŒr die sinnliche Aktfotografie (»Sensual Nude«) gilt â die Art von Aktfotografie, um die es in diesem Buch gehen soll. Aktfotografie, wie man sie zum Beispiel im »Playboy« findet, hat nichts mit der PortrĂ€tfotografie gemein â und das sage ich hier völlig ohne Wertung. Ăber die Begrifflichkeit von »Sensual Nude« und deren Abgrenzung zu anderen Formen der Aktfotografie habe ich in den nachfolgenden Abschnitten Stellung bezogen. Diese AusfĂŒhrungen sind sehr wichtig fĂŒr das VerstĂ€ndnis meiner hier im Buch beschriebenen Aktfotografie. Daher wĂ€re es schön, wenn Sie diesen vermeintlich theoretischen Abhandlungen Ihre Beachtung schenken.
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Hat die Aktfotografie im heutigen Zeitalter noch eine Relevanz?
Man darf ohne Zweifel feststellen, dass die Aktfotografie auch in der heutigen Zeit nichts von ihrer Faszination verloren hat. Ich gehe sogar so weit, zu behaupten, dass ihr â bei richtiger Auslegung â eine erhebliche Bedeutung in unserer reizĂŒberfluteten Gesellschaft zukommt. Nacktheit ist seit vielen Jahren in hohem MaĂe kommerzialisiert. Zudem ist sie ĂŒberall und stĂ€ndig zugegen: in Werbespots und auf -plakaten, in Filmen, Videoclips und vielem mehr. »Sex Sells!« â im kommerziellen Sinne, aber auch im zwischenmenschlichen Bereich. Selfies, nackt vor dem Spiegel aufgenommen, fĂŒllen die Smartphones vieler Menschen ⊠dass dies zum Teil unerwĂŒnschte Konsequenzen haben kann, ist dabei nur ein kleiner Teil dieser Entwicklung (fragen Sie mal bei dem ein oder anderen Hollywood-Star nach).
Braucht es bei dieser Entwicklung ĂŒberhaupt noch kĂŒnstlerische Aktfotografie?
Diese Frage muss mit einem eindeutigen »Ja« beantwortet werden. Gute Aktfotografie kann eine andere Erfahrung von Nacktheit vermitteln. Sie zeigt im besten Fall einen natĂŒrlichen Umgang mit ihr, sozusagen deren NormalitĂ€t auf. Dieser Aspekt kann nicht hoch genug eingeschĂ€tzt werden. Hat insbesondere der Fotograf dies verinnerlicht, ist das schon die halbe Miete. Es hilft, Ă€sthetische Bilder zu schaffen, und (darauf komme ich in Kapitel 3 noch etwas ausfĂŒhrlicher zurĂŒck) es ist der Wegbereiter fĂŒr eine angemessene Stimmung am Set und den richtigen Umgang mit dem Model.
NatĂŒrlichkeit. Purismus. IntensitĂ€t. Das ist es, was gute (sinnliche) Aktfotografie auszeichnet. Sie zeigt den unverstellten Blick auf den Menschen, ohne Inszenierung, ohne plakativ zu sein. Und damit grenzt sie sich von der »Erotik mit dem Holzhammer« ab, die uns in den Medien, in den sozialen Netzwerken und ĂŒberall sonst entgegenspringt. Sie wird zu etwas Besonderem und hat damit auch im 21. Jahrhundert ihre Daseinsberechtigung.
Warum bezeichne (nicht nur) ich die Aktfotografie als »Königs disziplin« der Menschenfotografie?
Stellen Sie sich bitte folgendes Szenario vor: Sie sollen einen Menschen fotografieren, der sich selbst nicht zu 100 % perfekt findet. Nackt! Sie wissen, dass es ungefÀhr einen Blickwinkel gibt, der eine Àsthetische Aufnahme zu...