Aus dem Umkreis der
Heidelberger Gedichte
В непринужденности творящего обмена
Суровость Тютчева – с ребячеством Верлена,
Скажите – кто бы мог искусно сочетать,
Соединению придав свою печать?
А русскому стиху так свойственно величье,
Где вешний поцелуй и щебетанье птичье!
1909
In ungezwungenem Austausch schöpferisch und frei
Die Strenge Tjutschews und auch Verlaines Kinderei,
So sagt mir doch, wer könnte kunstvoll sie verweben
Und dieser Mischung seine eigene Prägung geben?
Dem russischen Vers ist so sehr Größe eigen,
Noch wo sich Frühlingskuss und Vogelzwitschern zeigen!
Ein programmatisches Gedicht, das die beiden Vorbilder des jungen Dichters vereint. Fjodor Tjutschew (1803 bis 1873), russischer Dichter philosophischer Nacht- und Naturlyrik unter dem Einfluss der Philosophie Schellings, der deutschen Romantik, war Diplomat und lebte viele Jahre in München, übersetzte Goethe, Schiller, Heinrich Heine, mit dem er befreundet war. Seinen Einfluss bezeugt auch Mandelstams autobiographische Prosa Das Rauschen der Zeit (1925): »Tjutschew, d. h. eine Quelle kosmischer Freude, Künder eines starken und harmonisch-strengen Weltgefühls, ein denkendes Schilfrohr und eine über den Abgrund geworfene Decke.«
Paul Verlaine (1844 bis 1896), dessen Vorbildcharakter auch aus dem Brief an Wjatscheslaw Iwanow vom 30. Dezember 1909 aus Heidelberg deutlich wird (S. 81), war der wichtigste französische Dichter für den jungen Mandelstam, der 1907/1908 mehrere Monate in Paris verbracht und Vorlesungen an der Sorbonne und am Collège de France gehört hatte. In einem Brief an seinen Literaturlehrer Wladimir Gippius vom 27. April 1908 spricht er von der »Begeisterung für die Musik des Lebens«, die er bei französischen Dichtern fand – eine Anspielung auf Verlaines Vers »Musik vor allen Dingen« (De la musique avant toute chose, in Art poétique, 1874) –,und teilt seinem Lehrer mit, er habe einen Text über den französischen Dichter geschrieben.
Verlaines Gedichte wurden von den russischen Symbolisten übersetzt, von Fjodor Sologub (1863 bis 1927) und Walerij Brjussow (1873 bis 1924), der Verlaines Programmgedicht Art poétique in Russland bekannt machte. Laut einem Zeitzeugen habe Mandelstam eine russische Version von Verlaines Kaspar-Hauser-Gedicht geschaffen (der Text gilt als verloren). Der Einfluss Verlaines ist vielfältig und komplex. Verlaines »Kinderei« ist nicht Mandelstams Erfindung, diverse Zeitgenossen bestätigen diese Charakterisierung, etwa Léon Bloy an Abbé Dewez: »Sie können sich keine Vorstellung von der Kinderei dieses großen Unglücklichen machen.« Kindlichkeit als Revolte und Abkehr vom altväterischen, prophetisch-erhabenen russischen Symbolismus ist auch beim jungen Mandelstam ein Thema, etwa im Gedicht »Kinderbücher, nur sie noch zu lieben« (1908).
Es geht jedoch nicht um Nachahmung der beiden gegensätzlichen Modelle Tjutschew und Verlaine, des russischen und des französischen Elements, sondern um eine schöpferische Synthese mit eigenem Charakter. Dem russischen Vers wird die Kraft zur Verwandlung zugeschrieben, die Fähigkeit, noch das Flüchtige und Kurzlebige zur »Größe« zu führen.
Здесь отвратительные жабы
В густую прыгают траву.
Когда б не смерть, так никогда бы
Мне не узнать, что я живу.
Вам до меня какое дело,
Земная жизнь и красота?
А та напомнить мне сумела,
Кто я и кто моя мечта.
1909
Hier springen ekelhafte Kröten
Ins dichte Gras – dorthin, hierhin.
Wär nicht der Tod, wie sonst wohl könnte
Ich wissen, dass ich am Leben bin?
Was geh ich dich bloß an im Heute,
Du Erdenleben, Schönheit, Schaum?
Nur jener konnte mir bedeuten,
Wer ich bin, wer – mein Traum.
Ein philosophisches Gedicht, das die grundlegenden Fragen stellt: Ohne den Tod gibt es kein Bewusstsein vom Leben. Nur der Tod erinnert das Ich daran, wer es als Individuum ist. Direkt angesprochen werden das irdische Leben und die Schönheit, die sich jedoch um das Individuum nicht scheren. Einzig der Tod fördert die Erkenntnis des Seins. Der junge Dichter zeigt hier eine erstaunliche Reife, später, in seinem Essay Über die Natur des Wortes (1922), wird er sich mit dem russischen Philosophen Wassilij Rosanow (1856 bis 1919) über das Skandalon des Todes oder dessen Unerklärlichkeit erregen: »Wie schrecklich, dass der Mensch (der ewige Philologe) dafür ein Wort fand: ›der Tod‹. Kann man das etwa benennen? Hat es einen Namen? Der Name ist bereits Bestimmung, ein ›Etwas, das wir schon wissen‹.« In dem fragmentarisch erhaltenen Essay Puschkin und Skrjabin (1915) beschäftigt sich Mandelstam mit dem Tod des Künstlers: »Mir scheint, man dürfe den Tod eines Künstlers nicht von der Kette seiner schöpferischen Leistungen ausschließen, sondern müsse ihn vielmehr als das letzte, das Schlussglied der Kette betrachten.«
Die ekelerregenden Kröten sind schon in der mittelalterlichen Bildkunst Teufelssymbole, Sinnbilder für Fäulnis, Laster und Tod. Die Assoziation von Kröten und Tod weis...