Selbst wenn wir unsere Betrachtung zunächst auf die Bedeutung von Wörtern und Sätzen einschränken, müssen wir den Bedeutungsbegriff weiter differenzieren, denn Wörter und Sätze werden auf verschiedenen Ebenen interpretiert.
1.1.1 Ausdrucksbedeutung
Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel, um eine erste Vorstellung davon zu bekommen, worum es in der Semantik geht:
- (1) Ich brauche dein Fahrrad nicht.
Dies ist ein normaler deutscher Satz. Ohne es überhaupt zu merken, haben Sie ihn schon als solchen erkannt; Sie haben ihn interpretiert und stellen sich wahrscheinlich eine Situation vor, in der Sie diesen Satz sagen würden oder jemand anders ihn zu Ihnen sagen könnte. Da Sie diesen Satz verstehen, wissen Sie auch, was er bedeutet. Aber zu wissen, was ein Satz bedeutet, heißt nicht, dass man auch in der Lage ist, seine Bedeutung zu beschreiben. So ist es mit sehr großen Anteilen unseres Wissens. Wir können genau wissen, wie wir von A nach B kommen, aber unfähig sein, jemand anderem eine Wegbeschreibung zu geben. Wir kennen ein Lied auswendig, können aber nicht seine Melodie beschreiben. Wir sind in der Lage, zehntausende Wörter zu erkennen, wenn wir sie hören; aber das Wissen, das uns dazu befähigt, ist unbewusst. Das eigentliche Ziel der Semantik besteht darin, unser Wissen über die Bedeutung von Wörtern und Sätzen aufzudecken und zu beschreiben, worin dieses Wissen eigentlich besteht.
Versuchen wir also, die Bedeutung von Satz (1) genauer zu bestimmen. Dazu setzen wir bei der Bedeutung der einzelnen Wörter an. Das finite Verb in einem Satz hat eine Schlüsselposition für die Bedeutung. In unserem Beispiel ist es das Verb brauchen. Was also ist die Bedeutung von brauchen? Zunächst einmal müssen wir zwei Verben brauchen unterscheiden: ein Modalverb (wie in das brauchst du mir nicht zu sagen) und ein Vollverb. In (1) ist es das Vollverb. Es hat ein Akkusativobjekt (dein Fahrrad) und bedeutet in etwa ›benötigen‹. Man „braucht“ etwas, wenn es für einen notwendig oder wichtig ist. In unserem Beispiel wird das Gebrauchte als „dein Fahrrad” beschrieben, durch einen Ausdruck, der aus dem Possessivpronomen dein und dem Nomen Fahrrad zusammengesetzt ist. Das Nomen bezeichnet eine bestimmte Sorte von Fahrzeug, normalerweise mit zwei Rädern und ohne Motor – wir können es uns an dieser Stelle sparen, die Bedeutung präzise zu beschreiben. Die beiden Wörter brauchen und Fahrrad tragen die Hauptinformation in dem Satz; sie sind sogenannte Inhaltswörter. Die meisten Inhaltswörter haben sehr differenzierte Bedeutungen, weil es Tausende von Konkurrenten gibt.
Die anderen Elemente des Satzes sind alle nicht von dieser Art: Sie stellen jeweils eine Möglichkeit aus einer sehr begrenzten Auswahl von gleichartigen Elementen dar. Solche Wörter nennt man Funktionswörter; dazu zählen Artikel, Pronomen, Präpositionen, Konjunktionen und andere „kleine“ Wörter. Das Subjekt ich ist eines von acht Personalpronomen (ich, du, sieSG F, er, es, wir, ihr, siePL). Die Form ich steht im Nominativ, was grammatisch erforderlich ist, wenn das Pronomen wie in (1) als Subjekt dient. Was ist nun die Bedeutung von ich? Wenn Angelika Satz (1) sagt, ist Angelika diejenige, von der gesagt wird, dass sie das Fahrrad nicht braucht; wenn Thomas Satz (1) sagt, ist es Thomas. Mit andern Worten: Das Wort ich wird immer für die Person benutzt, die „ich“ sagt. Der Fachausdruck dafür, einen Ausdruck „für” etwas zu gebrauchen, ist Referenz. Anders ausgedrückt: Der Referent eines Vorkommens von ich ist immer der, der es erzeugt hat. Analog zeigt das Pronomen du an, dass auf die angesprochene Person (den „Adressaten“) referiert wird.
Zu jedem Personalpronomen gibt es ein Possessivpronomen: ich – mein, du – dein usw. Dein in Satz (1) zeigt an, dass die Sprecherin bzw. der Sprecher auf ein Fahrrad referiert, das dadurch bestimmt ist, dass es sich dem Adressaten zuordnet. Die Beziehung, die das Fahrrad mit dem Adressaten verbindet, kann ganz unterschiedlich sein. Dass das Fahrrad dem Adressaten gehört, ist nur eine von vielen Möglichkeiten. Dein Fahrrad kann sich auch auf das Fahrrad beziehen, auf dem der Adressat gerade sitzt, das er gerade putzt oder repariert; es kann auch das Fahrrad sein, von dem er gerade die ganze Zeit geredet hat. Possessivpronomen und andere Possessivkonstruktionen zeigen eine Beziehung an, die es ermöglicht, das „Besitztum“ („Possessum”) dadurch zu bestimmen, dass es sich dem „Besitzer“ („Possessor”) zuordnet. Die Bedeutung des Possessivpronomens dein kann also in etwa als ›zum Adressaten gehörig‹ beschrieben werden.
Das Wort nicht bezieht sich in (1) auf das Verb und kehrt dessen Bedeutung ›benötigen ‹ in sein Gegenteil um: ›es besteht kein Bedarf‹. Der Satz enthält noch ein weiteres, sehr unscheinbares, aber dennoch Bedeutung tragendes Element, nämlich die Tempusform des Verbs. Brauche ist die Präsensform, werde brauchen wäre Futur, brauchte Präteritum. Das Tempus eines Verbs zeigt an, in welche Zeit die Situation fällt, die der Satz ausdrückt. Auch diese Art von Bezug wird unter den Begriff ,Referenz‘ gefasst. Auf welche Zeit genau referiert wird, hängt davon ab, wann der Satz geäußert wird. Aufgrund des Präsens in (1) werden wir die beschriebene Situation auf die „Gegenwart“ beziehen, das heißt auf die Zeit, zu der der Satz gesagt wird.
Wir haben bis jetzt versucht, die Bedeutungen jedes einzelnen Wortes in dem Satz Ich brauche dein Fahrrad nicht näher zu bestimmen. Das sind typisch semantische Überlegungen. Wie Sie sehen, sind sie nicht trivial. Für Inhaltswörter muss die semantische Beschreibung einerseits spezifisch genug sein, um ihre Bedeutung von der aller Wörter mit anderer, insbesondere mit ähnlicher Bedeutung zu unterscheiden. Es würde zum Beispiel nicht ausreichen, die Bedeutung von Fahrrad einfach als ›Fahrzeug mit zwei Rädern‹ anzugeben. Manche Fahrzeuge mit zwei Rädern sind keine Fahrräder, zum Beispiel Tretroller, Laufrädchen oder Motorräder, und manche Fahrräder haben nur ein Rad oder mehr als zwei. Auf der anderen Seite muss die Beschreibung allgemein genug sein, um wirklich alle Fälle zu erfassen, in denen das Wort verwendet werden könnte. Wenn man versucht sich die Bedeutung eines Wortes zu überlegen, stellt man sich normalerweise einen bestimmten Kontext vor. Daher tendiert man dazu, die Bedeutung zu eng zu fassen und andersartige Fälle außer Acht zu lassen, in denen das Wort auch gebraucht werden könnte. Bei Funktionswörtern wie Pronomen und Artikeln oder grammatischen Formen wie Tempus scheint die Bedeutung auf den ersten Blick schwer zu fassen. Aber auch sie kann man semantisch beschreiben, wie diese kurze Überlegung vielleicht gezeigt hat.
Wenn wir die bisherigen Ergebnisse zusammenfügen, können wir die Bedeutung des Satzes etwas genauer formulieren: ›zu der Zeit, als diese Äußerung erfolgt, benötigt die Person, die diese Äußerung macht, das Zweiradfahrzeug der angesprochenen Person nicht‹.
Der Satz als solcher lässt offen, wer konkret die Sprecherin und der Adressat sind, auf welche konkrete Zeit der Satz sich bezieht und auf welches Fahrrad. Das alles ist nicht in der Satzbedeutung fixiert. Diese Fragen können erst beantwortet werden, wenn der Satz tatsächlich zu einer bestimmten Gelegenheit geäußert wird. Wir werden im nächsten Abschnitt eine konk...