Die griechische Agora gilt als Prototyp europĂ€ischer Platzanlagen. Aus Sicht der Alten Geschichte und der Klassischen ArchĂ€ologie ist der öffentliche Platz der Agora der zentrale Ort, an dem sich das Gemeinwesen einer griechischen Stadt konstituierte. Sie bildete den gesellschaftlichen Mittelpunkt der Polis, wie sie sich seit dem 8. Jh. v. Chr. im antiken Griechenland herausgebildet hatte. Die Agorai der geometrischen und archaischen Epoche waren zunĂ€chst einmal freie PlĂ€tze, die Versammlungen und Festen dienten und nicht zwingend architektonisch gestaltet waren. Seit dem 7. Jh. v. Chr. wurden diese FreiflĂ€chen an ihrer Peripherie nach und nach mit öffentlichen GebĂ€uden ausgestattet, sodass Agorai bis zum 4. Jh. v. Chr. zu eindeutig definierten innerstĂ€dtischen Zentren wurden. Ihr Charakteristikum war die unbebaute, von GebĂ€uden gerahmte und zentral gelegene FlĂ€che, die sowohl merkantile, politisch-administrative als auch sakrale Funktionen auf sich vereinte. Im Gegensatz zu den hellenistischen Agorai erscheinen die Agorai des 8. bis 5. Jh. v. Chr. nicht als baulich und Ă€sthetisch durchstrukturierte Einheiten, sondern als sukzessiv und additiv entstandene GebĂ€udekonglomerate. Ihre Charakteristika waren locker am Rand der PlatzflĂ€che verteilte öffentliche GebĂ€ude, eine offene Platzgestaltung im VerhĂ€ltnis zum urbanen GefĂŒge sowie eine freie PlatzflĂ€che. Dies Ă€nderte sich erst in der Epoche des Hellenismus, als zum ersten Mal regelmĂ€Ăig an allen Seiten mit GebĂ€uden gerahmte und nach innen orientierte Platzanlagen ĂŒberliefert sind. Agorai brachten fortan ihre soziale, politische und religiöse Bedeutung durch ihre monumentale Ausstattung nachhaltig zum Ausdruck. Die dauerhafte Gestaltung der PlĂ€tze machte sie zu politischen und architektonischen Zentren hellenistischer Poleis und zu ReprĂ€sentationsorten der dort lebenden Gesellschaften.
1.1 Thema und Fragestellung
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind die Agorai in der Epoche des Hellenismus, einer von groĂen politischen und gesellschaftlichen UmbrĂŒchen gekennzeichneten Zeit. Im Zentrum der Platzanalysen steht die Frage, nach welchen gestalterischen Prinzipien sie errichtet und ausgestattet worden sind und welche Aussagen die materiellen Hinterlassenschaften auf Agorai ĂŒber die sie prĂ€gende und von ihnen geprĂ€gte Gesellschaft ermöglichen.
Ausgehend von der These, dass sich hellenistische Agorai in ihrer architektonischen Ausgestaltung von denen der Archaik und Klassik deutlich unterscheiden, stellen sich folgende Fragen: Wie kam es zu einem solchen Bedeutungszuwachs des gestalteten öffentlichen Raumes, der sich anhand der zunehmenden Ausgestaltung der PlĂ€tze feststellen lĂ€sst? ErfĂŒllten Agorai im Hellenismus andere gesellschaftliche Funktionen als in den Epochen zuvor? In welchem VerhĂ€ltnis steht dies zur neuartigen Gestaltung und Wahrnehmung der PlĂ€tze durch den antiken Betrachter? Können daraus epochenspezifische Gestaltungsprinzipien fĂŒr hellenistische Agorai abgeleitet werden â und wenn ja, wie sehen diese aus? Und: Wie wurde der Raum der Agora durch die dort agierende Gesellschaft geprĂ€gt und wie wirkte er auf sie zurĂŒck?
Der Beantwortung derartiger Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Ihr Ziel ist es, die Beziehung zwischen materieller Gestaltung, Wahrnehmung und Semantik jenes Platzes genauer zu erforschen, der fĂŒr die antike Stadt von so herausragender Bedeutung ist. Im Zuge der Analyse und Interpretation werden unterschiedliche Theorien aus dem Bereich der Raum- und GedĂ€chtnistheorie, der Kultursemiotik, der RezeptionsĂ€sthetik sowie der Architektursoziologie angewandt, die einen synthesegerichteten Blick auf grundsĂ€tzliche Gestaltungstendenzen dieses Platztypus ermöglichen.
Bei hellenistischen Agorai handelt es sich um innerstĂ€dtische, öffentliche Platzanlagen, die aufgrund ihrer Funktionen und ihrer Ausstattung den sozialen, politischen und wirtschaftlichen Mittelpunkt einer Polis bildeten. In der Forschung kann jedoch nicht immer zweifelsfrei zwischen primĂ€r politisch oder merkantil genutzten PlĂ€tzen unterschieden werden, was im Fall der Existenz von zwei Agorai in einer Stadt zu Bezeichnungen wie Handels- oder Marktplatz gefĂŒhrt hat. Das entscheidende Kriterium bei der Definition von Agorai ist daher nicht ihre Funktion. Damit ein öffentlicher Platz als Agora bezeichnet werden kann, mĂŒssen mehrere Kriterien erfĂŒllt sein, die gemeinsam den Status des Platzes als Agora rechtfertigen. Zu diesen Kriterien gehören die MultifunktionalitĂ€t, das Vorhandensein politisch-administrativer GebĂ€ude, die Lage innerhalb einer urbanen Umgebung, die Anbindung an die Infrastruktur, die Rahmung mittels Stoai und die Ausstattung mit Statuen. Ein Platz fand Eingang in die vorliegende Analyse, wenn er mindestens drei der genannten Kriterien erfĂŒllte. Ein absoluter Anspruch auf die Notwendigkeit oder HinlĂ€nglichkeit jedes einzelnen Kriteriums wird damit nicht erhoben.
Der zeitliche Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung liegt im Hellenismus, der nach geltenden Epochengrenzen den Zeitraum von 336 bis 31 v. Chr. umfasst. Der hier untersuchte Zeitraum beginnt jedoch etwas frĂŒher (um 400 v. Chr.) und endet etwas spĂ€ter (um 50 n. Chr.). UnabhĂ€ngig von der RelativitĂ€t jeglicher Epochenkonstruktion hat dies den Zweck, die fĂŒr den Hellenismus spezifischen Entwicklungen besser ermitteln zu können. Eine etwas weiter gefasste Zeitspanne ermöglicht einen Vergleich mit dem Zustand der PlĂ€tze in den Phasen unmittelbar davor und danach und lĂ€sst VerĂ€nderungen deutlicher hervortreten. So kam es bereits in der 1. HĂ€lfte des 4. Jh. v. Chr. zu wesentlichen Einschnitten in der Architektur und Platzgestaltung, die fĂŒr den Hellenismus nicht folgenlos blieben. Ebenso begann mit der Ausbildung des Prinzipats und dem Bau römischer Fora in augusteischer Zeit eine neue politische und urbanistische Entwicklung, die noch von der vorhergehenden hellenistischen Epoche beeinflusst worden ist.
Grundlage der Untersuchung bilden die archĂ€ologischen Befunde der untersuchten Agorai, die ggf. von literarischen und epigrafischen Quellen ergĂ€nzt werden. Im Fokus des Interesses stehen alle zur VerfĂŒgung stehenden materiellen Hinterlassenschaften, die Hinweise auf die Form der PlĂ€tze mit ihren GebĂ€uden, Monumenten und Wegen geben. Auf diese Weise soll der Funktion, der Ăsthetik und der Semantik der PlatzrĂ€ume nachgegangen und das Zusammenspiel der einzelnen Elemente auf der jeweiligen Agora nĂ€her untersucht werden. Dabei richtet sich die Analyse nicht nur auf formale und funktionale Aspekte, sondern explizit auch auf rezeptionsĂ€sthetische PhĂ€nomene. Hinweise darauf liefern die durch Stoai und andere Architekturen gestalteten PlĂ€tze und ihre Ausstattung in Form von Bildwerken, AltĂ€ren, Temene usw. Dieser rezeptionsĂ€sthetische Ansatz wurde aus der Literaturwissenschaft auf die Kunstgeschichte ĂŒbertragen und fand bislang im Bereich der Klassischen ArchĂ€ologie verhĂ€ltnismĂ€Ăig wenig Beachtung. Dies ist umso erstaunlicher, als gerade dort eine auf die Wahrnehmung durch einen imaginĂ€ren Betrachter gerichtete Analyse materieller Hinterlassenschaften zu neuen Ergebnissen fĂŒhren kann. Eine Rekonstruktion von Agorai im Hinblick auf ihre Ă€sthetischen und semantischen Aspekte erschlieĂt einen Bereich, der im VerhĂ€ltnis zur Funktion einer Platzanlage eine nicht minder wichtige Rolle gespielt hat und sich im Fall der hier untersuchten PlĂ€tze mindestens ebenso konkret nachweisen lĂ€sst. Dies geschieht unter der PrĂ€misse, dass zwischen den BĂŒrgern einer Polis und der Agora eine Wechselbeziehung besteht. Die Agora ist ein Produkt menschlicher Handlungen und zugleich werden die auf dem Platz agierenden Menschen durch die von ihnen gestaltete Umgebung beeinflusst. Im Folgenden werden daher die materiellen Hinterlassenschaften auf dem Platz zur sozialen und politischen Verfasstheit der damaligen Gesellschaft in Beziehung gesetzt. Hinzu kommt, dass sowohl die auf dem jeweiligen Platz stattfindenden AktivitĂ€ten (als Platzfunktionen) als auch die Ă€sthetische und semantische Wahrnehmung des Platzes durch den Betrachter (als gestaltete materielle Umgebung) Teil der Interaktion und Kommunikation der dort handelnden Gesellschaft sind. Die Artefakte auf einer Agora sind demnach Bestandteile eines symbolischen Raumes, der in seiner besonderen Gestalt zugleich auch Teil des kollektiven GedĂ€chtnisses und der IdentitĂ€t einer Gesellschaft ist. Diesen symbolischen Raum gilt es, mitsamt seiner zeitlichen Dynamik zu rekonstruieren und zu interpretieren.
Die in der Arbeit aufgeworfenen Leitfragen konzentrieren sich auf die Gestalt hellenistischer Agorai, ihre unterschiedlichen Funktionen sowie die Frage, welche Erkenntnisse die Gestaltung hellenistischer Agorai ĂŒber die sie nutzende Gesellschaft liefert. Die Synthese aller Analysekategorien ermöglicht eine EinschĂ€tzung der Bedeutung, die die VerĂ€nderungen gesellschaftlicher Normen und Werte fĂŒr die Gestaltung der PlĂ€tze in hellenistischen StĂ€dten besaĂen. Dazu werden im Folgenden vier Thesen aufgestellt, die die Fragestellung zur Gestaltung von Agorai als soziales PhĂ€nomen konkretisieren und im Zuge der Untersuchung ĂŒberprĂŒft und differenziert werden.
- Hellenistische Agorai bildeten den Rahmen fĂŒr die auf den PlĂ€tzen praktizierte Kommunikation und Interaktion und gestalteten auf diese Weise die auf ihnen stattfindenden Handlungen wesentlich mit.
- Hellenistische Agorai besaĂen primĂ€r reprĂ€sentative Funktionen, die sie in ihrer sozialen Bedeutung vom politischen Versammlungsplatz der Archaik und vom Verwaltungszentrum der Klassik unterscheiden.
- Agorai waren als Orte der politischen ReprÀsentation das Produkt von gesellschaftlichen RivalitÀten der dort aktiven Poliseliten.
- Agorai waren als Orte öffentlicher Performanz primÀr von politischen und weniger von sakralen Faktoren geprÀgt.
Um diese Thesen zu ĂŒberprĂŒfen und Antworten auf die genannten Fragen zu erhalten, ist eine systematische Materialauswahl notwendig. Im Hinblick auf einen zeitlichen Rahmen bildete das Aussehen der PlĂ€tze um 400 v. Chr. bzw. zum Zeitpunkt der jeweiligen StadtgrĂŒndung den Ausgangspunkt der Betrachtungen. Beendet wurde die Analyse nach Möglichkeit in tiberisch-claudischer Zeit (um 50 n. Chr.). Es erfolgte auĂerdem eine topografische Begrenzung auf das griechische Kernland, die Ă€gĂ€ischen Inseln und den Westen Kleinasiens (Abb. 1). Dort fanden wĂ€hrend der römischen Expansion im Laufe des Hellenismus die am weitesten reichenden VerĂ€nderungen in politischer und urbanistischer Hinsicht statt.
Aufgrund der komplexen Fragestellung bieten sich fĂŒr eine detaillierte Analyse nur relativ wenige, besonders gut erforschte Platzanlagen an. Hin...