§ 1. Einleitung
Unser geltendes Strafgesetzbuch unterscheidet unter mehreren an einer Straftat Beteiligten zwischen Tätern, Anstiftern und Gehilfen (§§ 47ff StGB), und auch im kommenden Strafrecht soll diese Dreiteilung aufrechterhalten werden (vgl. §§ 29ff Entwurf 1962). Trotz einer umfangreichen Judikatur und einer bis weit in das verflossene Jahrhundert zurückgehenden unübersehbaren Literatur, trotz reichen praktischen Anschauungsmaterials und zahlreicher scharfsinniger Theorien ist es jedoch bis heute nicht gelungen, diese Beteiligungsformen in befriedigender Weise voneinander abzugrenzen. „Die Teilnahmelehre1 ist das dunkelste und verworrenste Kapitel der deutschen Strafrechtswissenschaft“, klagte Kantorowicz2 schon im Jahre 1910, Binding3 nahm dieses Wort bald danach auf, und noch in der Sitzung der Großen Strafrechtskommission vom 3. Februar 1955 berief sich Richard Lange4 auf den Ausspruch, um die in der Debatte zutagegetretenen durchaus widerstreitenden Ansichten zu erklären.
Unversöhnt standen sich lange Jahrzehnte die Meinungen gegenüber. Das Reichsgericht hielt an der von ihm schon in den ersten Entscheidungen entwickelten sog. subjektiven Teilnahmetheorie5 bis zuletzt unbeirrt fest und forderte damit das Schrifttum zu ungewohnt heftiger Kritik heraus. Obwohl beispielsweise Max Ernst Mayer6 diese Lehre „eine nicht zu überbietende sophistische Verdrehung des Gesetzes“ nannte und Beling7 sie als „ein das Gesetz ausschaltendes und im Ergebnis oft kraß vergewaltigendes reines Phantasieprodukt“ bezeichnete, obwohl Rosenfeld8 sie im Jahre 1930 für der Widerlegung gar nicht mehr bedürftig hielt, nahm die Rechtsprechung von den vielfältigen Argumenten ihrer Gegner nicht einmal Notiz. Andererseits konnte sich aber auch in der Wissenschaft keine der zahlreichen unterschiedlichen Ansichten auf die Dauer durchsetzen9.
In die beinahe erstarrten Fronten ist erst in den letzten 25 Jahren wieder lebendige Bewegung gekommen. Die von Lange10 vorbereitete, bald darauf von Welzel in seinen „Studien zum System des Strafrechts“11 zum erstenmal umfassend entwickelte und später besonders von Gallas12 ausgebaute Theorie der „finalen Tatherrschaft“ steht seither im Mittelpunkt der Diskussion. Sie hat in der Wissenschaft bald zahlreiche Anhänger gefunden und kann heute beinahe schon als herrschend bezeichnet werden13. Auch der Bundesgerichtshof hat den terminus „Tatherrschaft“ in mehreren Entscheidungen übernommen14 und sogar schon der Erwägung Raum gegeben, ob nicht diese Lehre gegenüber der die Rechtsprechung seit eh und je beherrschenden subjektiven Theorie vorzuziehen sei15. Selbst die Begründungen der neuesten Strafgesetzentwürfe arbeiten mit dem Kriterium der Tatherrschaft16, ohne freilich diese Lehre gesetzlich festlegen zu wollen.
Es fehlt aber auch nicht an skeptischen Stimmen. So meint etwa Engisch17, der Begriff der Tatherrschaft führe nicht wesentlich über ältere, verwandte Vorstellungen hinaus; Baumann18 sagt, „daß in der Tatherrschaft ein neuartiges und selbständiges Kriterium … nicht gefunden“ sei; Hardwig19 ist der Auffassung, der Begriff der Tatherrschaft sei nicht der „Endpunkt der theoretischen Durchdringung“, und Schwalm20 hält die Ersetzung des „Täterwillens“ durch die „Tatherrschaft“ für eine bloße Vertauschung gleich inhaltloser Begriffe. Gerade bei den jüngsten Beratungen der Strafrechtskommission hat die resignierende Meinung, daß eine brauchbare Abgrenzung der Teilnahmeformen niemals gefunden werden könne, wieder zur Forderung nach dem Einheitstäterbegriff geführt21.
Dieser Stand der Dinge rechtfertigt es, den ganzen Problembereich noch einmal aufzugreifen und unter Einbeziehung der in den letzten Jahrzehnten gewonnenen Erkenntnisse neu zu durchdenken. Es entspricht der Bedeutung, zu der die Tatherrschaftslehre gelangt ist und dem Umstand, daß sie noch niemals eine eingehende monographische Würdigung erfahren hat, daß diese Theorie – ihre Stellung in der Entwicklung der Täterlehre und die Tragweite ihrer Ansätze – dabei den größten Raum einnehmen muß. Allerdings kann sich die Arbeit keineswegs auf sie beschränken. Denn da es uns um die Begriffe von Täterschaft und Teilnahme schlechthin geht, verdienen auch alle anderen Lehren Berücksichtigung, soweit sie heute noch von Belang sind.
Daraus entsteht für die Darstellung eine Schwierigkeit. Denn da das einschlägige Schrifttum seit Beginn des 19. Jahrhunderts fast unübersehbar groß ist, ist es weder möglich noch sinnvoll, alles, was zu diesem Thema je gesagt worden ist, in gleicher Breite zu referieren und einer so ermüdend umfangreichen und verschlungenen Dogmengeschichte erst nachträglich die eigene Meinung anzuhängen. Vollständigkeit der Belege ist nur bei Behandlung der Tatherrschaft erstrebt worden. Im übrigen muß das gesamte historische Material von vornherein durchgefiltert werden im Hinblick darauf, was für die Täterlehre heute noch verwertbare Ansätze bietet und zum Verständnis ihrer Entwicklung wesentlich ist. Es ist daher erforderlich, schon zu Beginn der Abhandlung einige methodische Gesichtspunkte herauszuarbeiten, die für die Bestimmung des Täterbegriffs leitend sein und einen Maßstab für die Ordnung und kritische Sichtung der verwirrend vielfältigen Auffassungen bieten können. Auf diese Weise sind in der gesamten Arbeit die dogmengeschichtliche Darstellung, die Kritik anhand übergeordneter Maßstäbe und die daraus abgeleitete Entwicklung eines sachgerechten Täterbegriffes nicht getrennt, sondern ineinander verwoben worden, so daß jeder Abschnitt allen drei Zwecken zugleich dient und die vorgeschlagene Lösung sich im Laufe der Darstellung im Fortschreiten des Gedankenganges schrittweise enthüllt. Ob ein solches Verfahren fruchtbar ist, möge die folgende Abhandlung zeigen.
Zwei sachliche Hinweise seien noch vorangestellt: Die Behandlung des kriminologischen Täterbegriffes gehört nicht zum Thema dieser Arbeit. – Und auf selbständige rechtsvergleichende Untersuchungen ist verzichtet worden, weil auf diesem Gebiet aus jüngerer Zeit mehrere sorgfältige Darstellungen vorliegen22.
Erstes Kapitel
Methodische Ansatzpunkte
Wenn man den Begriff der Täterschaft bestimmen und von den übrigen gesetzlichen Beteiligungsformen abgrenzen will, so kann man dabei verschiedene Denkwege einschlagen, die das Ergebnis in einem gewissen, noch näher zu bestimmenden Grade beeinflussen. Man tut also, um nicht unkritischer Einseitigkeit zu verfallen und einzelne Lösungen von vornherein auszuschließen, gut, sich zunächst auf die Methode seines Vorgehens zu besinnen.
Das Problem der Täterschaft hat nie im Mittelpunkt der strafrechtsmethodologischen Erörterungen gestanden. Doch lassen sich die Wandlungen, denen das strafrechtliche Denken unter dem Einfluß geistesgeschichtlicher Strömungen in den letzten hundert Jahren unterworfen gewesen ist, auch auf diesem Teilgebiet der Dogmatik deutlich verfolgen.
§ 2. Kausale Täterlehren
Die ersten Jahrzehnte der Geltung unseres Strafgesetzbuches standen im Banne des naturalistischen Positivismus, der die Geisteswissenschaften dem naturwissenschaftlichen Denken unterwerfen und auch die rechtlichen Phänomene auf bloße Kausalabläufe und verschieden geartete Kausalverknüpfungen reduzieren wollte23. Auf die Lehre von Täterschaft und Teilnahme übertragen, bedeutet das: Die verschiedenen an einem Delikt beteiligten Personen beschäftigen das Strafrecht in erster Linie unter dem Gesichtspunkt ihrer kausalen Mitwirkung bei der Erfolgsherbeiführung.
Über diesen Punkt bestand bei aller Unterschiedlichkeit der Ergebnisse weithin Einigkeit. v. Bar formulierte nur die damalige Grundanschauung, wenn er schrieb24: „Die Lehre von der Teilnahme … kann als besondere Anwendung der Lehre von der Kausalität betrachtet werden.“ Die Hauptvertreter der einander heftig bekämpfenden subjektiven und objektiven Theorie, v. Buri und Birkmeyer, waren sich einig darüber, daß allein der Kausalbegriff zur Lösung der Problematik von Täterschaft und Teilnahme führen könne. „Die Lehre von der Kausalität ist für die Teilnahme von der entschiedensten Bedeutung“ schrieb v. Buri25, und Birkmeyer ging in seiner umfangreichen Monographie26 ohne weiteres davon aus, daß „die Lehre von der Teilnahme die Lehre von der Kausalität zu ihrer wissenschaftlichen Basis hat.“
Freilich läßt dieser methodische Ansatzpunkt für recht unterschiedliche Lösungen Raum. Man kann die von ihm aus vertretbaren Auffassungen in zwei große Gruppen teilen, die sich danach unterscheiden, ob man alle logischen Bedingungen eines Erfolges für gleichartig hält oder ob man glaubt, die einzelnen Beteiligungsformen auf eine verschiedene Art der Verursachung zurückführen zu können.
Für die erste Auffassung von der Gleichartigkeit aller Bedingungen liegt es nahe, den Unterschied zwischen Tätern, Gehilfen und Anstiftern überhaupt zu leugnen und vom Begriff des Einheitstäters auszugehen. So lesen wir z. B. bei v. Liszt noch in der letzten von ihm selbst besorgten Auflage27: „Aus dem Begriff der Ursache folgt, daß jeder, der durch Setzen einer Bedingung zu dem eingetretenen Erfolge an dessen Herbeiführung sich beteiligt, den Erfolg verursacht hat; daß, da alle Bedingungen des Erfolges gleichwertig sind, zwischen den einzelnen an der Herbeiführung des Erfolges Beteiligten ein begrifflicher Unterschied nicht besteht …“ Die danach allein folgerichtige Lösung, nämlich der Verzicht auf verschiedene Beteiligungsformen, war aber durch die vom Gesetz vorgenommene Differenzierung ausgeschlossen. Der Einheitstäterbegriff konnte daher nur als Forderung de lege ferenda vertreten werden. Kennzeichnend dafür ist etwa Heimberger28, der unabhängig von den kriminalpolitischen Forderungen der Liszt-Schule das Verlangen nach dem Einheitstäter allein aus der Ka...