Die 3., vollstÀndig aktualisierte und erweiterte Auflage des praxisorientierten Lehrbuchs Public Health bietet Studierenden einen leicht verstÀndlichen Einstieg in die verschiedenen Aspekte des Fachs Public Health.
Neben den grundlegenden Begriffen und Konzepten im Fach Public Health wird das Basiswissen aus den Bereichen Epidemiologie, Biostatistik, PrĂ€vention und Gesundheitsförderung sowie Gesundheitswesen vermittelt. DarĂŒber hinaus werden aktuelle Themen wie Umweltmedizin, internationale Aspekte von Gesundheit (International Health), Gesundheit im Verlauf des Lebens (Life Course Approach to Health) und Versicherungsmedizin erörtert. Zahlreiche Abbildungen und Tabellen dienen der Verdeutlichung und Visualisierung komplizierter ZusammenhĂ€nge.
Das am Swiss Catalogue of Learning Objectives for Undergraduate Medical Training orientierte Lehrbuch - das aber auch den deutschen GK berĂŒcksichtigt - vermittelt Studenten der Humanmedizin und der Gesundheitswissenschaften in kurzer, prĂ€gnanter Form das prĂŒfungsrelevante Wissen im Bereich Public Health. Des Weiteren bietet es Studierenden der Bereiche Pflege-, Gesundheits-, Versorgungs-, Bevölkerungswissenschaften und Gesundheitsökonomie einen Ăberblick ĂŒber Public Health relevante Inhalte ihrer LehrgĂ€nge.
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1Public Health: Konzepte, Disziplinen und Handlungsfelder
Matthias Egger, Oliver Razum, Anita Rieder
In diesem einfĂŒhrenden Kapitel lernen wir die zentralen Begriffe, Konzepte, Disziplinen und Handlungsfelder von Public Health kennen. Ein Blick in das 19. Jh. zeigt, dass Public Health zu Beginn ĂŒberraschenderweise weniger mit der Medizin als mit dem Ingenieurwesen zu tun hatte. Die Geschichte macht auch verstĂ€ndlich, warum heute der englische Begriff âPublic Healthâ auch im Deutschen gebrĂ€uchlich ist. Public Health und Medizin unterscheiden sich in ihrer Sicht auf Krankheit und Gesundheit. Anders als im medizinischen Denken steht in Public Health die Entstehung von Gesundheit (Salutogenese) und nicht die Entstehung von Krankheit (Pathogenese) im Mittelpunkt. Zu den Kernthemen von Public Health gehört u. a. die gesundheitliche Ungleichheit zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, z. B. die Ungleichheit im Zusammenhang mit der sozialen Schichtzugehörigkeit und dem Geschlecht. Bei vielen Public-Health-Fragen spielen auch ethische Aspekte eine Rolle. WĂ€hrend in der Medizinethik die Arzt-Patient-Beziehung im Mittelpunkt steht, ist es in der Public-Health-Ethik das VerhĂ€ltnis zwischen den Institutionen und den BĂŒrgerInnen. Wir schlieĂen das Kapitel mit einem kritischen Blick auf die Public Health Genomics und ihrem Versprechen einer individualisierten PrĂ€vention.
Schweizerische Lernziele: CPH 1â3, CPH 28â34
1.1Definition
Unter Public Health verstehen wir eine von der Gesellschaft organisierte, gemeinsame Anstrengung, mit dem Ziel der
âErhaltung und Förderung der Gesundheit der gesamten Bevölkerung oder von Teilen der Bevölkerung,
âVermeidung von Krankheit und InvaliditĂ€t,
âVersorgung der Bevölkerung mit prĂ€ventiven, kurativen und rehabilitativen Diensten.
Im deutschsprachigen Raum wird synonym auch etwas umstĂ€ndlich von der öffentlichen Gesundheitspflege gesprochen. Der Begriff der Volksgesundheit ist durch den Nationalsozialismus belastet (s. Kap. 1.2) und wird deshalb nicht verwendet. Aus den genannten GrĂŒnden ist der englische Begriff âPublic Healthâ auch im Deutschen gebrĂ€uchlich. Im Gegensatz zur kurativen Individualmedizin richtet Public Health den Blick auf die gesamte Bevölkerung oder auf Bevölkerungsgruppen und beschĂ€ftigt sich hier mit ethisch (s. Kap. 1.6) und ökonomisch (s. Kap. 2.5.1) vertretbaren MaĂnahmen der Gesundheitsförderung, der KrankheitsprĂ€vention und der Versorgung.
Handlungsfelder von Public Health sind
âdie wissenschaftliche Forschung an universitĂ€ren Instituten: In der Schweiz geschieht das z. B. an Instituten fĂŒr Sozial- und PrĂ€ventivmedizin und dem Schweizerischen Tropen- und Public Health-Institut (Swiss TPH). In Ăsterreich findet Public-Health-Forschung vor allem an den medizinischen UniversitĂ€ten statt. Zentren fĂŒr Public Health kooperieren dabei oftmals mit Institutionen des Ăffentlichen Gesundheitswesens oder umgekehrt. In Deutschland forschen Public-Health-Wissenschaftler v. a. an gesundheitswissenschaftlichen Instituten sowie an medizinischen Instituten mit Public-Health-Ausrichtung.
âdie Praxis in den Public-Health-Institutionen: In der Schweiz sind hierfĂŒr z. B. die kantonalen GesundheitsĂ€mter und das Bundesamt fĂŒr Gesundheit (BAG) zustĂ€ndig. In Ăsterreich ist das Bundesministerium fĂŒr Gesundheit und Frauen (BMGF) fĂŒr die gesundheitliche Rahmengesetzgebung verantwortlich. Die Gesundheit Ăsterreich GmbH ist mit der Strukturplanung, Gesundheitsförderung und QualitĂ€tssicherung im Gesundheitswesen beauftragt. In Deutschland ist das Robert Koch-Institut die zentrale Einrichtung auf dem Gebiet der KrankheitsĂŒberwachung und -prĂ€vention.
âdie Gesundheits- und Sozialpolitik, die durch Verordnungen und Gesetze das Gesundheitswesen steuert und gesundheitsfördernde Arbeits- und Lebensbedingungen schafft.
Zu den Aufgaben von Public-Health-Institutionen gehört es, die Gesundheit der Bevölkerung zu schĂŒtzen und zu ĂŒberwachen (Surveillance), etwa im Zusammenhang mit Infektionskrankheiten (s. Kap. 9.2.2), der Lebensmittelsicherheit (s. Kap. 6.2.4), der Sicherheit am Arbeitsplatz (s. Kap. 7.2.1) oder der Luftverschmutzung (s. Kap. 6.4.3). DarĂŒber hinaus sind sie u. a. fĂŒr die Erarbeitung und DurchfĂŒhrung von Impfprogrammen (s. Kap. 9.4.1), Screening-Programmen (s. Kap. 4.5.4) und AufklĂ€rungskampagnen (s. Kap. 4.1.2) zustĂ€ndig. Hierbei arbeiten Fachleute verschiedenster Disziplinen aktiv zusammen (s. Kap. 1.4). Beispiele fĂŒr gesundheitspolitische MaĂnahmen sind Rauchverbote in öffentlichen RĂ€umen (s. a. Kap. 4.2.2) und die laufenden Bestrebungen, Gesundheitsförderung und PrĂ€vention zu stĂ€rken, so in Deutschland z. B. durch das 2015 in Kraft getretene PrĂ€ventionsgesetz (PrĂ€vG, s. Kap. 4.1.3). In Ăsterreich wurde die Gesundheitsförderung durch das 1998 verabschiedete Gesundheitsförderungsgesetz maĂgeblich beeinflusst.
Der Master of Public Health (MPH) ist ein international anerkannter akademischer Grad, der im angelsĂ€chsischen Raum (z. B. an der geschichtstrĂ€chtigen London School of Hygiene & Tropical Medicine oder an den Schools of Public Health nordamerikanischer UniversitĂ€ten), aber auch an verschiedenen Hochschulen in Deutschland, Ăsterreich und der Schweiz erworben werden kann. Ein MPH-Studium ist in der Schweiz Teil der Weiterbildung zum Facharzt in PrĂ€vention und Gesundheitswesen. In Deutschland kann der Facharzt fĂŒr Ăffentliches Gesundheitswesen und der Facharzt fĂŒr Hygiene und Umweltmedizin erworben werden. In Ăsterreich wurde der Facharzt fĂŒr Sozialmedizin im Jahr 2016 durch eine Facharztausbildung Public Health abgelöst. In allen drei LĂ€ndern gibt es darĂŒber hinaus einen Facharzttitel im Bereich der Arbeitsmedizin, in Deutschland noch die Zusatzbezeichnung Betriebsmedizin.
1.2Geschichtliche Notizen
Matthias Egger, Lukas Fenner
Die soziale Frage
Die Entwicklung der modernen Public Health ist eng mit der sozialen Reformbewegung im 19. Jahrhundert verbunden, die darauf abzielte, die soziale Lage der Arbeiter und ihrer Familien zu verbessern. Abb. 1.1 illustriert die LebensumstĂ€nde der damaligen Arbeiterschaft am Beispiel einer Behausung in London. Angesichts dieser ZustĂ€nde ĂŒberrascht es nicht, dass London und andere europĂ€ische StĂ€dte zu jener Zeit immer wieder von Choleraepidemien heimgesucht wurden (s. a. Abb. 1.2) und dass dort auch die Tuberkulose grassierte. Im Zentrum der angestrebten Reformen standen die Verbesserung der sanitĂ€ren Bedingungen in den StĂ€dten und der VerhĂ€ltnisse am Arbeitsplatz. In England förderte der Public Health Act von 1848 den Bau von Wasserleitungen und Kanalisationsanlagen (s. a. Kap. 6.2.1). In Berlin trieb der Pathologe und Sozialreformer Rudolf Virchow (1821â1902, s. a. Kap. 2.1.1) den Bau von zentraler Wasserversorgung und Kanalisation voran, wĂ€hrend in MĂŒnchen Max von Pettenkofer (1818â1901) hierbei die treibende Kraft war.
Abb. 1.1: Eine Londoner Behausung an der Field Lane im 19. Jahrhundert. Die Notdurft wurde am Kanal verrichtet (Quelle: Wellcome Images. https://wellcomeimages.org/).
Abb. 1.2: Karte der Cholera-TodesfĂ€lle im Rahmen der Epidemie von 1854, die rund um die Broad-Street-Wasserpumpe auftraten. Der Epidemiologe John Snow (1813â1858, s. a. Kap. 2.1.1) folgerte hieraus, dass die Cholera durch verschmutztes Trinkwasser ĂŒbertragen wird und entfernte den Pumpengriff, um weitere Ansteckungen zu verhindern. (Rekonstruktion der Karte nach Snows Angaben durch den medizinischen Geografen E.W. Gilbert, 1958) (Quelle: Gilbert E.W. Pioneer map and health and disease in England. Geographical Journal 1958; 124(2): 172â183).
Hygiene und Sozialhygiene
Pettenkofer hatte ab 1865 den ersten Lehrstuhl fĂŒr Hygiene in Deutschland inne. Zentrale Themen dieses neuen medizinischen Fachgebietes waren die VerhĂŒtung von Krankheiten und die Förderung der Gesundheit der Bevölkerung. Pettenkofers besonderes Interesse galt dabei der physikalischen und chemischen Umwelt. Er gilt deshalb als Wegbereiter der Umweltepidemiologie und Umweltmedizin (s. Kap. 5). Mit der Entdeckung der Bakterien und dem im Jahr 1882 durch Robert Koch (1843â1910) erfolgten Nachweis von Mycobacterium tuberculosis als einzigen, eindeutig identifizierbaren Krankheitserreger der Tuberkulose wurde die Bakteriologie zur fĂŒhrenden Gesundheitswissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Damit war die Debatte um die Frage, wodurch Krankheiten verursacht werden, jedoch noch nicht abgeschlossen. Die von Alfred Grotjahn (1869â1931) begrĂŒndete Sozialhygiene stellte die monokausale ErklĂ€rung der Entstehung von Infektionskrankheiten in Frage und betonte die Wichtigkeit von gesellschaftlichen EinflĂŒssen, wie z. B. von engen und unhygienischen WohnverhĂ€ltnissen, schlechter ErnĂ€hrung oder niedrigem Einkommen auf die Krankheitsentstehung (s. Abb. 1.3, mit einem Beispiel einer Studie aus dieser Zeit). Grotjahn vertrat allerdings als Mitglied der Gesellschaft fĂŒr Rassenhygiene auch eugenische Vorstellungen (s. u.). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Deutschland auf dem Gebiet der Hygiene fĂŒhrend, was sich u. a. daran zeigte, dass die erste Internationale Hygiene-Ausstellung 1911 in Dresden von mehr als fĂŒnf Mio. Menschen (!) besucht wurde. Die Schaffung von kommunalen GesundheitsĂ€mtern in Deutschland (heute oft als Fachdienst Gesundheit bezeichnet) ist ein bleibender Verdienst jener Zeit.
Aber auch in der Schweizer Hauptstadt Bern gelang es beispielsweise, die Zahl der Tuberkulose-Toten zu senken, schon bevor ab Mitte des 20. Jahrhunderts eine wirksame medizinische Behandlung zur VerfĂŒgung stand. Zum frĂŒhen Erfolg in der TuberkulosebekĂ€mpfung fĂŒhrten neben dem medizinischen Fortschritt auch andere Faktoren, wie die allgemeinen Verbesserungen der LebensumstĂ€nde und Public-Health-MaĂnahmen, die auf KrankheitsprĂ€vention und Gesundheitsförderung zielten (s. Box 1.2.1). So wurden in Bern öffentliche Sanatorien fĂŒr Tuberkulose-Erkrankte und Freiluftschulen fĂŒr gefĂ€hrdete Kinder errichtet, etwas spĂ€ter kamen Screening-Untersuchungen (s. Kap. 4.5) mit Hilfe von Röntgen-Apparaten und Tuberkulin-Hauttest hinzu.
Abb. 1.3: Beispiel einer sozialhygienischen Studie, die zu Beginn des 20. Jh. in Deutschland durchgefĂŒhrt wurde. Die Grafik zeigt das Einkommen (in Mark) und d...
Table of contents
Cover
Titelseite
Impressum
Geleitwort Prof. Dr. Lothar H. Wieler
Geleitwort Pascal Strupler
Vorwort zur dritten Auflage
Vorwort zur zweiten Auflage
Vorwort zur ersten Auflage
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
1 Public Health: Konzepte, Disziplinen und Handlungsfelder
2 Public-Health-Methoden
3 Gesundheitssysteme
4 Gesundheitsförderung und PrÀvention
5 Gesundheit im Verlauf des Lebens â Life Course Approach to Health