1Das PhÀnomen des Hoffens
1.1Dum spiro, spero
Hoffen ist ein ausgesprochen menschliches PhĂ€nomen.1 Nur Menschen hoffen, soweit wir wissen. Aber was tun sie, wenn sie das tun? Und mit welchem Recht tun sie es â ĂŒberhaupt oder in bestimmten Situationen? Ist es gut, dass sie hoffen, oder wĂ€re es besser, wenn sie nicht hoffen wĂŒrden? Können sie leben, ohne zu hoffen, oder mĂŒssen sie hoffen, weil sie nicht anders können, solange sie leben? Ist ein Leben ohne Hoffnung noch ein menschliches Leben oder wird es erst dadurch wirklich menschlich, dass man lernt zu leben, ohne zu hoffen? âIch hoffe nichts. Ich fĂŒrchte nichts. Ich bin freiâ, wie auf dem Grabstein von Nikos Kazantzakis in Heraklion auf Kreta zu lesen ist.2 Was wĂ€re denn anders, wenn Menschen nicht hoffen wĂŒrden? Und was wird anders, wenn Menschen, die das Hoffen verlernt zu haben scheinen, wieder zu hoffen beginnen?
Die Fragen umspielen ein PhĂ€nomen, das sich nicht leicht fassen lĂ€sst. Zu unterschiedlich sind die Auffassungen, zu widersprĂŒchlich die Ansichten ĂŒber die Hoffnung. Das ist nicht neu, sondern lĂ€sst sich bis in die AnfĂ€nge der mythischen Denkgeschichte Europas verfolgen. Die Geschichte von der BĂŒchse bzw. â wie Nietzsche schreibt â vom Fass der Pandora ist bekannt:
Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öffnete es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes verfĂŒhrerisches Geschenk und âGlĂŒcksfassâ zubenannt. Da flogen all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlĂŒpft: da schlug Pandora nach Zeusâ Willen den Deckel zu und so blieb es darin. FĂŒr immer hat der Mensch nun das GlĂŒcksfass im Hause und meint Wunder was fĂŒr einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift darnach: wenn es ihn gelĂŒstet; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel war, und hĂ€lt das zurĂŒckgebliebene Uebel fĂŒr das grösste GlĂŒcksgut, â es ist die Hoffnung. â Zeus wollte nĂ€mlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequĂ€lt, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quĂ€len zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das ĂŒbelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlĂ€ngert.3
Die Geschichte beschreibt die Ambivalenz der Hoffnung, von der die Menschen angesichts der Ăbel des Lebens Hilfe und Gutes erwarten, aber mit der sie doch nur ein weiteres und schlimmstes Ăbel erhalten. Hoffnung erscheint den Menschen als ein Gut, aber der Schein trĂŒgt. Besser wĂ€re es, nicht zu hoffen. Dann wĂ€re das Leben zwar immer noch voller Ăbel, aber man wĂ€re nicht in der Illusion verfangen, das könnte sich irgendwann einmal Ă€ndern. Wie die Ăbel zum menschlichen Leben gehören, so gehört auch die Hoffnung dazu: Dum spiro, spero, wie von Cicero ĂŒberliefert wird, es geht nicht zu leben, ohne zu hoffen.4 Aber die Menschen irren sich, wenn sie die Hoffnung fĂŒr das Gegengift gegen das Leiden der Ăbel halten. Sie ist das gröĂte aller Ăbel. Wer auf ein Leben ohne Leiden hofft, muss daher zuerst und vor allem auf die Hoffnung verzichten. Dum spero, patior, solange ich hoffe, leide ich.
Die europĂ€ische Denkgeschichte hat mit dem zweideutigen PhĂ€nomen der Hoffnung daher schon immer Schwierigkeiten gehabt.5 Es gibt kein menschliches Leben ohne Hoffnung, aber diese macht das Leben nicht besser, sondern schlimmer. Erst das Christentum hat von der Hoffnung nachdrĂŒcklich positiv gesprochen. Nicht nur H. Schlier zufolge kann man nach dem Neuen Testament âdas Leben der Christen schlechthin als ein Leben der Hoffnung beschreiben.â6 Besonders in den paulinischen Schriften des Neuen Testaments wird Hoffnung zu einem theologischen Zentralbegriff. Christen sind nicht so sehr Glaubende als vielmehr Hoffende: âwir sind zwar gerettet, aber auf Hoffnungâ (Röm 8,24). Glaube, Hoffnung, Liebe â die spĂ€ter so genannten theologischen Tugenden â sind das, was bleiben wird (1 Kor 13,13). Im Glauben ist die Wirklichkeit gegenwĂ€rtig, auf die Christen hoffen, deshalb wird die Hoffnung im HebrĂ€erbrief als Kern des Glaubens bestimmt: âEs ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht siehtâ (Hebr. 11,1). Und im 1. Petrusbrief werden die Christen aufgefordert, jedem Fragenden gegenĂŒber Rechenschaft ĂŒber ihre Hoffnung abzulegen: âSeid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert uÌber die Hoffnung, die in euch istâ (1. Petr. 3,15). UneingeschrĂ€nkt positiv wird die Hoffnung beschrieben, weil sie wesentlich mit der Gottesthematik verknĂŒpft und als Hoffnung auf Gott bestimmt wird.7 Gott ist âder Gott der Hoffnungâ (Röm 15,13), wie Paulus schreibt, und weil Gott der ist, der die ihn ignorierenden Menschen ohne Vorleistungen gut und recht macht, ist die Hoffnung auf Gott die Hoffnung auf uneingeschrĂ€nkt Gutes fĂŒr die Geschöpfe. Luther kann mit dieser Formel daher die ganze christliche Lehre zusammenfassen: âIn den Worten âIch hoffe auf den Herrnâ ist die Summe der ganzen christlichen Lehre enthalten, welche nicht im Augenschein, sondern im Hoffen beruhtâ.8
Die europÀische Denkgeschichte ist damit von der Spannung geprÀgt zwischen einer philosophischen Tradition, die immer wieder die Ambivalenz der Hoffnung betont, und einer theologischen Tradition, in der die Hoffnung ganz und gar positiv verstanden wird, weil der Bezug auf Gott die Hoffnung disambiguiert und eindeutig macht. So mehrdeutig das Hoffen im menschlichen Leben sein mag, so eindeutig ist das Hoffen auf Gott im christlichen Leben. Beide Denktraditionen sind sich einig, dass Hoffen ein zentrales PhÀnomen des menschlichen Lebens ist und als solches verstanden werden muss. Wer das Hoffen (als Vollzug) bzw. die Hoffnung (als Thema) verstehen will, der muss sich an das menschliche Leben halten.
1.2Strittige Hoffnung
Damit ist der Ort benannt, an dem das PhĂ€nomen in Erscheinung tritt, aber noch nichts ĂŒber den Charakter des Hoffens oder seine Bedeutung im menschlichen Leben gesagt: Ist es möglich zu leben, aber nicht zu hoffen? Und falls es möglich ist, ist es dann besser zu hoffen oder nicht zu hoffen? Kann ein menschliches Leben gut sein, solange noch gehofft wird, oder ist es erst gut, wenn nicht mehr gehofft zu werden braucht?
Die Meinungen gehen weit auseinander. âIch glaube, Hoffnung ist nur ein anderes Wort fĂŒr Feigheitâ, schreibt GĂŒnter Anders, âHoffnung hat man nicht zu machen, Hoffnung hat man zu verhindern. Denn durch Hoffnung wird niemand agieren. Jeder Hoffende ĂŒberlĂ€Ăt das Besserwerden einer anderen Instanz.â9 Wer Gutes will, muss dafĂŒr etwas tun und nicht nur darauf hoffen. Solange man hofft, tut man selbst nichts fĂŒr die Besserung des Lebens, sondern ĂŒberlĂ€sst es anderen, dafĂŒr zu sorgen. Das ist Quietismus und Feigheit. Ein Leben, in dem noch gehofft wird, kann daher nicht wirklich gut sein.
Das ist eine verbreitete Auffassung, aber sie ist falsch. Sie verwechselt Hoffnung mit etwas anderem, und sie unterschĂ€tzt, welche Bedeutung die Hoffnung auch fĂŒr das Handeln im menschlichen Leben hat.10 Ich gehe im Folgenden davon aus, dass ein Leben ohne Hoffnung nicht nur kein gutes, sondern kein wirklich menschliches Leben ist. Hoffnung ist eine fundamentale menschliche Lebensressource. Oder wie Platons Sokrates sagt: Wir sind das ganze Leben immer voller Hoffnungen.11 Wir sind es, weil wir nur so als Menschen auf menschliche Weise leben können. Wer hofft, sieht auch unter widrigen UmstĂ€nden einen Sinn im Leben, und ohne Sinn können Menschen nicht leben. Nicht dass wahrscheinlich ist, was man erhofft, ist dabei entscheidend, oder dass sich einstellt, was erhofft wird, sondern dass und wie darauf gehofft wird. âHoffnung ist nicht die Ăberzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.â (VĂĄclav Havel12) Wer Menschen die Hoffnung nimmt, schĂ€digt oder zerstört deshalb ihr Leben â das gilt im privaten wie im politischen Bereich. Ohne Hoffnung verliert das Leben seine Farbe, seine Lebendigkeit, sein Ziel, seinen Sinn, seine Orientierung. Man mag noch leben, aber man lebt nicht mehr auf menschliche Weise. Menschlich lebt, wer mitmenschlich lebt, und dazu gehört, nicht nur fĂŒr sich, sondern auch fĂŒr andere ein Leben und Sterben zu erhoffen, das trotz allem, was dagegen spricht, gut genannt zu werden verdient, und fĂŒr das man sich deshalb mit den Mitteln, die einem zur VerfĂŒgung stehen, einsetzt. Wer nicht hofft, hat nichts (mehr), wofĂŒr es sich einzusetzen lohnt. Das Leben wird schal und wie es gelebt wird egal.
Um dem entgegenzuwirken, wird das Hoffen in den vergangenen Jahrzehnten verstĂ€rkt psychologisch und medizinisch als âenhancement strategyâ verstanden, pĂ€dagogisch zu einem Erziehungsziel gemacht, ökonomisch als Strategie konzipiert, um Wettbewerbsvorteile zu erzielen, und politisch als zivilgesellschaftliches Instrument fĂŒr demokratische VerĂ€nderungen entdeckt. Dazu gehören die FriedenspĂ€dagogik Paolo Freires aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts13 und die Psychologie der Hoffnung von Arnold Hutschnecker, Charles Snyder oder Shane Lopez.14 Dazu gehören die Erforschung der Rolle der Hoffnung in medizinischen Kontexten, im Krankenhaus, bei Krebspatienten15, in der âend of lifeâ Forschung16, im Aufgabenfeld von Schwestern und Pflegern17, aber auch in der Umweltethik18, in der Wirtschaftstheorie19 und in der politischen Ethik20. Dass in vielen dieser AnsĂ€tze Hoffen und âpositive expectationâ kaum unterschieden und die Differenzen âfrom a sense of successful agency, optimism, trust, and faithâ heruntergespielt werden, wird zu Recht kritisiert.21 Das Problem besteht hĂ€ufig darin, dass Hoffnung unzulĂ€nglich von anderen positiven Verhaltens- und HaltungsphĂ€nomenen abgegrenzt und zu einseitig auf ein âaktives Hoffenâ reduziert wird, das die Bedeutung âpassiver Hoffnungâ unterschĂ€tzt. Hoffnung wird dadurch zu einem vagen Konzept, das zwar eine emotionale Einstellung oder ein positives Zukunftsengagement anzeigt, aber keine prĂ€zise Orientierung bietet.
Dem wird seitens einer pragmatischen Sicht der Hoffnung22 widersprochen, die Hoffnung von Wunschdenken und naivem Optimismus unterscheidet und sie als das darzulegen sucht, âthat compels us to act thoughtfully and creatively in the present so as to open up yet unimagined possibilities for the futureâa hope that is generative, resourceful, engaged, and communalâ.23 Hoffnung wird also nicht nur als eine private Emotion oder Tugend verstanden, sondern â in der Unterscheidung von âparticular hopes, habits of hopes and hopefulnessâ24 â als âa way of living tied to specific contexts that brings together reflection and intelligent action alongside imagination and gratitude.â25 Diese pragmatische Sicht der Hoffnung verknĂŒpft deren pĂ€dagogische Rolle in Schule, Erziehung und Ausbildung eng mit dem Aufbau von âhabits of community building and social and political activism to challenge unjust systemsâ.26 Analysen der Rolle von Hoffnung in instititutionellen ZusammenhĂ€ngen der Gesellschaft werden so immer wieder zu Teilaspekten politischer und gesellschaftskritischer Konzeptionen, die in deutlicher Spannung zu den individuumsorientierten enhancement- und empowerment-Strategien stehen, die in der populĂ€ren psychologischen Hilfe-Literatur das Feld beherrschen.
1.3Der Sinn fĂŒr die Gabe der Möglichkeit des Guten
Man muss den Wert dieser und Ă€hnlicher Forschungen nicht bestreiten, wenn man kritische Fragen an das Hoffen stellt. Dass Menschen hoffen, ist unbestritten, und dass Hoffende Einstellungsvorteile gegenĂŒber schwierigen Lebenssituationen und persönlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen haben ebensowenig. Aber haben sie ein Recht dazu? Ist es gut und richtig, dass sie es tun? WĂ€ren Hoffnungen bloĂ Illusionen, haltloses Wunschdenken, realitĂ€tsferner Optimismus oder leere Erwartungen, gĂ€be es geradezu eine Pflicht, sich ihrer zu entledigen, wenn man frei und verantwortlich leben will.27 Doch Hoffnung ist etwas anderes als illusionĂ€re RealitĂ€tsverweigerung. Sie ist unser Sinn fĂŒr die Gabe der Möglichkeit des Guten â ein Sinn, weil sie eher rezeptiv ist als aktiv, eher wartend, dass sich ereignet, worauf sie sich richtet, als dass sie dieses selbst schaffen und herbeifĂŒhren wĂŒrde (das unterscheidet das Hoffen vom Tun); ein Sinn fĂŒr eine Gabe, also etwas, das man sich nicht selbst geben oder verschaffen kann, sondern das einem von anderswoher widerfahren oder zufallen muss, so dass es einen auf anderes bzw. auf andere hin öffnet (das unterscheidet das Hoffen vom Wunschdenken oder Sicheinbilden); und ein Sinn nicht fĂŒr die Gabe des Guten, sondern der Möglichkeit des Guten, also ein Möglichkeits- und kein Wirklichkeitssinn, weil er sich auf etwas richtet, was das jeweils Wirkliche auf konkrete Weise ĂŒbersteigt, ohne dass man auf das Eintreten seiner Wirklichkeit setzen oder diese selbst herstellen oder bewerkstelligen könnte (das unterscheidet Hoffen von Wissen und Planen, Erforschen oder Entdecken sowie von jeder Psycho- und Sozialtechnologie). Hoffen ist keine Schwundform des Tuns, aber auch keine Alternative dazu. Es hat seinen Ort nicht nur an der Grenze des eigenen Tuns und Vermögens, sondern es qualifiziert alles Tun und Lassen im Leben der Menschen dadurch, dass es auf die Möglichkeit des Widerfahrnisses von Gutem auch dort setzt, wo es keinen guten Grund (mehr) gibt, damit zu rechnen. Der Möglichkeitssinn des Hoffens ist der lebensnotwendige Protest gegen die vorschnelle Meinung einer naturalistischen Geschlossenheit der WirklichkeitszusammenhĂ€nge des Lebens, die in Freiheit und Gerechtigkeit, Personsein und WĂŒrde, Mitmenschlichkeit und ...