Die Eule der Minerva in Hegels Rechtsphilosophie
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Die Eule der Minerva in Hegels Rechtsphilosophie

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Die Eule der Minerva in Hegels Rechtsphilosophie

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Die Vorrede der Hegelschen Rechtsphilosophie endet mit einem denkwĂŒrdigen Bild: "Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lĂ€sst sie sich nicht verjĂŒngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden DĂ€mmerung ihren Flug." Was ist mit diesem RĂ€tselwort gemeint? Und was bedeutet es fĂŒr die Rechtsphilosophie? WĂ€hrend ĂŒber die erste Frage seit jeher nachgedacht wird, ist kaum je thematisiert worden, warum ein Wort dieser DignitĂ€t gerade in der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts seinen Platz hat.

Mit der Vorrede zur Rechtsphilosophie und ihrem berĂŒhmten Bild der Eule der Minerva hat Hegel freilich nicht nur sein System gekrönt, sondern zugleich dessen sichtbarsten Angriffspunkt geschaffen. Die mit der Vernunft gleichgesetzte Gerechtigkeit, um die es Hegel zu tun ist, gerĂ€t unter dem Systemzwang zu einem nachtrĂ€glichen Konstrukt, das durch die Eule der Minerva zugleich methodisch begrĂŒndet und bildhaft verbrĂ€mt wird. Die Weltgeschichte bietet indes als Weltgericht keine GerechtigkeitsgewĂ€hr. Nietzsche, fĂŒr den "bei Hegel alles nichtswĂŒrdiges Grau ist" und dem die Weltgeschichte nicht das Weltgericht, sondern "ein LĂ€rm um die letzten Neuigkeiten ist", wird Hegels Philosophie der AbenddĂ€mmerung die Morgenröte entgegensetzen.

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Information

Publisher
De Gruyter
Year
2015
eBook ISBN
9783110432961
Edition
2
Topic
Law
Index
Law

§ 1Gestalt des Lebens zu verstehen ist. Was ist mit

Eine fĂŒr die Deutung des Bildes wegweisende Rolle kommt der Frage zu, was unter der genannten „Gestalt des Lebens“ zu verstehen ist. Was ist mit dem gemeint, wovon Hegel sagt, dass „eine Gestalt des Lebens alt geworden ist“, die sich nicht verjĂŒngen, sondern nur erkennen lĂ€sst? So viel ĂŒber das Bild geschrieben worden ist, so selten ist erörtert worden, was es mit dieser Gestalt des Lebens auf sich hat. Kommentare der Grundlinien der Philosophie des Rechts kommen mitunter ohne eine ErklĂ€rung des Bildes der Eule der Minerva aus, geschweige denn dessen, was die dort vorausgesetzte Gestalt des Lebens ist.30 Wenn der Schein nicht trĂŒgt, misst vor allem die englischsprachige Literatur dem Bild besondere Bedeutung bei,31 wĂ€hrend es hierzulande vorzugsweise im ĂŒbertragenden Sinne und in anderem Zusammenhang verdeutlichend zitiert wird.32 Dabei ist gerade die möglichst genaue AufschlĂŒsselung des Bildes und seines Sinnzusammenhanges von Bedeutung. Der poetische Glanz entbindet nicht von der Aufgabe der Auslegung der einzelnen Teile des Bildes im Hinblick auf das Ganze, wie auch Shlomo Avineri verdeutlicht hat, wenn er ein besonders vorsichtiges und sorgsames Lesen dieses Bildes fĂŒr erforderlich hĂ€lt: „one of the most poetic, and now justly famous, passages ever to have been written by a philosopher. It requires very careful reading“.33
Dieser Verantwortung kann man auch nur ansatzweise gerecht werden, wenn man sich vergegenwĂ€rtigt, was es ĂŒberhaupt mit der darin angesprochenen Gestalt des Lebens auf sich haben könnte. In seiner Vielschichtigkeit nicht vollstĂ€ndig zu erörtern ist bereits der bei Hegel an entscheidenden Stellen begegnende Begriff der Gestalt,34 worauf hier nur kursorisch verwiesen werden kann.35 Beispielhaft fĂŒr die KomplexitĂ€t des Gestaltbegriffs ist etwa jener Paragraph der EncyclopĂ€die, welcher der „Gestalt der Schönheit“ gewidmet ist.36 Dort begegnet der Begriff der Gestalt mehrfach und mit nicht immer zweifelsfreiem Bezugspunkt, der Michael Theunissen zu der auch fĂŒr den vorliegenden Zusammenhang weiterfĂŒhrenden These veranlasst hat, dass die TotalitĂ€t einen gemeinsamen Zug der Gestalt darstellt und so „letztlich alle im Text aufgefĂŒhrten Gestalten nur Spiegelbilder der ungenannten Gestalt des absoluten Geistes sind.“37 In diesem Sinne könnte auch die Gestalt des Lebens Abbild der Gestalt des absoluten Geistes sein.38 Bevor dieser Hypothese nachgegangen wird,39 soll aber zunĂ€chst der zweite Teil des Bildes klĂ€rend herangezogen werden.

IDie Farbe der Philosophie

Da die Gestalt des Lebens mit dem vorangehenden Bild des „Grau in Grau“ im Sinne einer scheinbaren „Wenn-dann-Implikation“ verbunden ist („Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann 
“), die freilich nicht konditionaler, sondern temporaler Natur ist, empfiehlt es sich zunĂ€chst, die angesprochene Farbe der Philosophie in den Blick zu nehmen. Denn es ist nicht zuletzt die poetische Umstellung, welche die Deutung erschwert. Immerhin erscheint es zunĂ€chst sinnvoll, das Bild aufzuschlĂŒsseln, um das Nacheinander zu betonen, das in der von Hegel gewĂ€hlten Anordnung eher konditional klingt: ,Wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, dann malt die Philosophie ihr Grau in Grau.‘ Hegels VerschrĂ€nkung hebt dieses klare Nacheinander zwar auf, entwickelt dadurch aber zugleich einen neuen Bedeutungszusammenhang, der die Gestalt des Lebens bewusst in den Mittelpunkt rĂŒckt.
Trist und lebensfremd erscheint die Farbe, in der die Philosophie malt: grau in grau, und damit einerseits der DĂ€mmerung entsprechend, andererseits nach Goethes Mephisto,40 den Hegel in seiner Vorrede in anderem Zusammenhang ausdrĂŒcklich zitiert,41 der Inbegriff der Theorie im Gegensatz zum Leben.42 Wenn man das Mephisto-Wort zu Ende denkt („und grĂŒn des Lebens goldner Baum“), entsteht ein eigentĂŒmliches SpannungsverhĂ€ltnis, das die Gestalt des Lebens noch rĂ€tselhafter erscheinen lĂ€sst. Auch die so genannte „Lebensphilosophie“ Ă€ußert sich zur „Gestalt des Lebens“, freilich ohne ausdrĂŒcklichen Bezug auf die HegelStelle, eher undeutlich43 und bestĂ€tigt Adornos Skepsis gegenĂŒber „jenem lebensphilosophischen Fließen, zu welchem etwa die Diltheysche Methode ihn (sc. Hegel) aufweicht.“44 Der Bezug zum Bild der Eule der Minerva scheint immerhin dort auf, wo in Anlehnung an den vorgeblich konservativen oder gar reaktionĂ€ren Grundzug der Vorrede der Grundlinien die regressive Tendenz reiner Theorie beschworen wird.45

1Die Eule der Minerva als Bild des „Nach-denkens“

Hegel selbst hat an anderer Stelle diese Farblosigkeit aufgegriffen: „Die Philosophie fĂ€ngt an mit dem Untergange einer reellen Welt; wenn sie auftritt (
), Grau in Grau malend, so ist die Frische der Jugend, der Lebendigkeit schon fort; und es ist ihre Versöhnung eine Versöhnung nicht in der Wirklichkeit, sondern in der ideellen Welt.“i46 Vittorio Hösle versteht „das Grau in Grau der Theorien“ als „ein Höheres als die bunte FĂŒlle der Natur, die nicht um sich selbst weiß.“47 Eine andere Deutung meint, dass „sie die Gestalten des Lebens in denselben farblosen Farben des Grau in Grau malt, die die Welt im Prozess ihrer Alterung angenommen hat.“48
Entsprechend der weithin anerkannten Deutung des Bildes kann die Geschichte erst im Nachhinein,49 ausschließlich retrospektiv,50 also im Wortsinne am Ende des Tages, gleichsam in der AbenddĂ€mmerung, begriffen werden.51 Eine modifizierende Sicht, welche die SelbstbeschrĂ€nkung des Bildes betont und „den Anteil des Philosophen an der politischen Welt zu einem Post-festum“ macht, geht nach Ernst Blochs Oxymoron einher „mit einer Art ruhmrediger Bescheidenheit“.52 Ein Teil der rechtsphilosophischen Forschung53 gibt unter Hinweis auf eine spĂ€tere Stelle der Grundlinien54 zu bedenken, dass „die Philosophie der realen Entwicklung auch einmal vorangehen und eine verjĂŒngte Gestalt der Welt verkĂŒnden kann.“55
Es ist interessant, dass ein nicht deutschsprachiger Autor in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht hat, wie die zeitlich nachgeordnete und rĂŒckschauende Bestimmung der Philosophie im Deutschen sprachlich zum Ausdruck kommt: „This ist the meaning of philosophy as Nach-denken, afterthought.“56 Wenn man dieses Nach-denken mit dem Grau in Grau zusammen bringt, so gelangt man zu einer reflektierenden Abschattierung dessen, was gewesen ist. Das entspricht der an Heidegger erinnernden Interpretation Ernst Blochs, wonach „Wesen Gewesenheit“ ist:57 „Dieser Bann reicht noch bis Hegel, ja kulminiert in ihm, wenigstens in seiner abenddĂ€mmerigen Minerva, in der Zuordnung des Wissens einzig zur Gewordenheit des Inhalts.“ Entsprechend dem Titel seiner Abhandlung erblickt er darin die „Ablehnung des noch offenen Noch-Nicht.“58

2Poetische Kraft des Bildes

Immer wieder ist im Zusammenhang mit dem Bild der Eule der Minerva bemerkt worden, dass es „fast poetisch“ sei,59 ja dass es – wiederum, wenngleich in anderem Zusammenhang, mit den Worten Ernst Blochs – „eines der ganz großen der Literatur ist, eines, das Shakespeare wĂŒrdig wĂ€re.“60 Man deutete es als „ErklĂ€rung fĂŒr den Vorrang der historischen, der aufarbeitenden Literatur.“61 Im Schrifttum ist es Hölderlins Gedichten an die Seite gestellt worden.62 In der Tat verwundert es, dass Hegel die Eule als Symbol der Wahrheit und Minerva als Göttin der Weisheit in dieser Weise verbindet und die Philosophie damit metaphorisch umschreibt. In seinen Vorlesungen zur Naturphilosophie verweist Hegel auf den mythischen Ursprung, woran vor allem der Bezug zum Lebendigen aufschlussreich ist, der bereits in der Critik des Fichteschen Naturrechts aufleuchtet („Aber die Gerechtigkeit muss selbst ein Lebendiges sein und die Person achten“)63und auch in der Gestalt des Lebens Anklang findet:64 „Wenn man auch geschichtlich sagen will, es ist ein Zustand der Erde gewesen, wo noch kein Lebendiges vorhanden war, so ist doch das Lebendige, wie es hervortritt, unmittelbar ein Bestimmtes; wie die Minerva fertig aus Jupiters Haupt gesprungen ist, so springt das Lebendige in das Dasein als ein Ganzes, VollstĂ€ndiges, eben weil es Subjekt ist.“65 Interessanterweise wĂ€hlt Hegel statt des griechischen Namens Athene den lateinischen Minerva, ebenso wie Hölderlin im Hyperion: „Die Dichtung, sagt‘ ich, meiner Sache gewiss, ist der Anfang und das Ende dieser Wissenschaft (sc. der Philosophie). Wie Minerva aus Jupiters Haupt, entspringt sie aus der Dichtung eines unendlichen göttlichen Seyns.“66
a)Flug der Eule und „Eulenflucht“
Einiges spricht dafĂŒr, dass Hegels Bild seinerseits auch die Dichtung beeinflusst hat.67 In Paul Celans Gedicht „EngfĂŒhrung“ heißt es:68 „In der Eulenflucht, beim versteinerten Aussatz“. Das eigentĂŒmliche Wort „Eulenflucht“ wird in der CelanForschung mit Hegels Wort von der Eule der Minerva in Verbindung gebracht, die ihren Flug in der DĂ€mmerung beginnt. „Eulenflucht“ zieht demnach „Eule“ und „Flug“ poetisch verfremdend zusammen.69 Sogar das folgende „Ho, ho-/sianna“ wird als Anspielung auf den Laut der Eule verstanden und fĂŒr diese Deutung fruchtbar gemacht.70 Im Sinne dieser Interpretation lĂ€sst sich noch ein weiteres wichtiges Wort des Gedichts ins Feld fĂŒhren, in dem es sogar in auffallendem Zusammenhang mit der eben behandelten Wortschöpfung Celans heißt:71 „In der Eulenflucht, hier die GesprĂ€che, taggrau, der Grundwasserspuren.“72 In einem a...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Einleitung
  6. § 1 Gestalt des Lebens
  7. § 2 Objektiver Geist und philosophische Rechtswissenschaft
  8. § 3 Verwirklichung der Freiheit
  9. § 4 Nietzsches Morgenröte versus Hegels DÀmmerung
  10. § 5 Der beendete Flug der Eule?
  11. § 6 Eule der Minerva und absoluter Geist
  12. § 7 RĂŒckblick
  13. Fußnoten
  14. Literaturverzeichnis
  15. Personenverzeichnis