Interpretation und Rationalität
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Interpretation und Rationalität

Billigkeitsprinzipien in der philologischen Hermeneutik

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Interpretation und Rationalität

Billigkeitsprinzipien in der philologischen Hermeneutik

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Die Studie bezieht das gleichermaßen für die allgemeine Hermeneutik und die Sprachphilosophie zentrale Interpretationsprinzip der hermeneutischen Billigkeit auf den Bereich der Interpretation fiktionaler literarischer Texte. Zu diesem Zweck werden formaler Zuschnitt und inhaltliche Ausdifferenzierung eines spezifisch philologischen Billigkeitsprinzips ebenso rekonstruiert wie die Bedingungen, unter denen auf eine nachsichtige Interpretation bestimmter Interpretanda verzichtet werden sollte. Die philologische Kontextualisierung des Prinzips hermeneutischer Billigkeit erweist, dass es sowohl den im Fall der Literaturinterpretation typischerweise enorm hohen Aufwand hermeneutischer Ressourcen grundlegend rechtfertigt, als auch als heuristische Hypothese konkrete Interpretationsprozesse anleitet und damit als methodisches Fundament der Literaturinterpretation zu verstehen ist.

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Information

1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“ – NachsichtigeInterpretation in Hermeneutik und Sprachphilosophie

In einem Vorwort, das er dem etwa 1534 veröffentlichten ersten Abschnitt seiner fünfteiligen Chronik über Leben und Taten der Riesenkönige Gargantua und Pantagruel voranstellt, richtet sich François Rabelais direkt an seine Leser. Er erläutert kurz, wie Alkibiades in Platons Symposion seinen Lehrer Sokrates mit Silenen vergleicht, kleinen nach dem Abbild von Satyrn geformten Statuen, in denen, wie Rabelais schreibt, wertvolle Substanzen und „köstliche Drogen“1 aufbewahrt wurden. Sokrates nun sei dem äußeren Anschein nach ebenso unscheinbar und bäurisch wie diese antiken Figuren, dahinter versteckten sich aber die ebenso köstlichen Drogen eines bewundernswürdigen Verstandes, unbesiegbaren Muts und unvergleichlicher Tugend.2
„Nun, werdet ihr denken, wozu dieses Vorspiel und Präambulum?“, fragt Rabelais im Anschluss an seine einleitende Analogie, und gibt die Antwort, die zu dem zentralen Thema der folgenden Überlegungen führen wird, auch gleich selbst:
Dazu, meine lieben Schüler, daß, wenn ihr oder andere müßige Narren die lustigen Titel lest, die wir den einzelnen Büchern unserer Erfindung vorgesetzt haben, […] daß ihr, sage ich, nicht leichtfertig den Schluß zieht, es sei darin nichts enthalten als Spötterei, Narrheit und muntere Lügen. […] Aber so leichtfertig soll man über anderer Tun nicht urteilen. […] Deshalb müßt ihr das Buch aufschlagen und nachdenklich erwägen, was darin abgehandelt ist. Alsbald werdet ihr erfahren, daß die darin enthaltene Droge viel wertvoller ist, als die Büchse es versprach, daß die darin behandelten Dinge in Wahrheit gar nicht so närrisch sind, wie der Titel es vermuten ließ. Und gesetzt, ihr stießet, wenn ihr alles wörtlich nähmet auf gar drollige Dinge, die wohl zum Titel paßten, so dürft ihr euch davon doch nicht festhalten lassen wie von Sirenengesang, sondern ihr müßt, was nur so zufällig in lustiger Weise geredet ist, in höherem Sinne deuten. […] Darum müßt ihr alles, was ich tu’ und sage, immer auf das beste auslegen.3
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Dieses wohlwollende „immer auf das beste“-Auslegen, das Rabelais speziell für seine oft derb spottende, in zotigen Witzeleien schwelgende Erzählung – Kapitel 13 etwa erzählt, „Wie Grandgousier die bewunderungswürdigen Anlagen Gargantuas an der Erfindung eines Arschwisches erkannte“4 – einfordern zu müssen glaubt, schneidet einen die Grundlagen des interpretativen Umgangs mit Texten überhaupt betreffenden Problemkontext an und deutet damit auf eine Diskussion voraus, die grob 100 Jahre später in einer allgemeineren und theoretisch weit grundlegenderen Form geführt werden wird.5
Mit dem Beginn der Entwicklung einer allgemeinen Hermeneutik als eigenständiger Disziplin – verstanden als Wissenschaft des Verstehens und Auslegens –wird immer wieder versucht, systematisch eine Art Prinzip zu entwickeln, das ein nachsichtiges Vorgehen bei der Interpretation zur Grundregel erklärt. Schon Johannes Clauberg erklärt dahingehend, dass die „allgemeinsten und höchsten Regeln der Interpretation sind: in Zweifelsfällen die gütigeren wählen; alle Auslegungsgründe berücksichtigen; mehrere Bedeutungen gelten lassen, wenn sie gleich wahrscheinlich sind; nicht ohne triftigen Grund verurteilen und nicht den geringfügigen Irrtum durch eine überscharfe Zurückweisung ahnden.“6 Noch spezifischer und geradezu frappierend aktuell ist die Formulierung Christian Weises aus dessen Werk Curieuse Fragen über die Logica von 1696:
Der Hauptschlüssel zu allen zweiffelhafften und zweydeutigen Reden besteht in dieser Regel: Verba accipienda sunt cum effectu. Das heißt: wenn jemand etwas redet oder schreibet, so ist die Praesumption vorhanden, daß er unter solchen Worten was rechtes will verstanden haben, und daß er mit Wissen und Willen nichts setzen wird, daß einer öffentlichen Absurdität oder auch nur einer absurden Consequentz ähnlich scheinen möchte.7
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In den bekannteren und durch die Forschung mittlerweile recht gut erschlossenen Schriften der Aufklärungshermeneutik, v. a. bei Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier, wird ein solches Prinzip hermeneutischer Billigkeit8 schließlich sogar zum „obersten hermeneutischen Grundsatz“,9 zu einem „Prinzip aller Auslegungsprinzipien“10 erklärt. Wohlwollendes Interpretieren ist spätestens für Baumgarten und Meier eben nicht mehr nur ein optionales Entgegenkommen von Seiten des Interpreten, um das vom Autor im Stile einer rhetorischen captatio benevolentiae geworben werden muss (so wie es auch Rabelais in seiner oben zitierten Vorrede macht), sondern Grundprinzip jedes Interpretationsaktes. Ohne dem Autor eines Textes eine ganze Reihe von Vollkommenheiten zu unterstellen und ihn in dieser Hinsicht also wohlwollend oder nachsichtig auszulegen, ist es nach diesem Verständnis gar nicht möglich, zur richtigen Interpretation eines Textes zu gelangen.11
Auch die an Martin Heidegger angelehnte „philosophische“ Hermeneutik des 20. Jahrhunderts – so bezeichnet Hans-Georg Gadamer im Untertitel seines Hauptwerks Wahrheit und Methode bekanntlich das eigene hermeneutische Projekt – bezeichnet eine Variante des Prinzips hermeneutischer Billigkeit als Annahme, „die alles Verstehen leitet“.12 Gadamer spricht in diesem Kontext von einem „Vorgriff der Vollkommenheit“,13 der als „Axiom aller Hermeneutik“14 zu denken sei.15
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Von speziellem Interesse für den Kontext dieser Arbeit ist nun, dass das Prinzip hermeneutischer Billigkeit auch auf einem anderen Sektor zu mittlerweile recht großer Prominenz gelangt ist – und zwar in der analytischen Sprachphilosophie. 1959 von Neil Wilson unter dem Titel principle of charity in die in die Debatte eingeführt,16 finden sich in der Folge v. a. bei Willard van Orman Quine und Donald Davidson Bestimmungen des Billigkeitsprinzips, die die aktuelle sprachphilosophische Debatte maßgeblich prägen und durchaus als Aktualisierung der hermeneutischen Überlegungen verstanden werden können.17
Quine erwähnt den Begriff principle of charity in Word and Object eher en passant im Kontext seiner Überlegungen zu einer Übersetzungstheorie. Das principle of charity dient ihm als Maßgabe, die den Übersetzer dazu anhält, seine Übersetzung kritisch zu revidieren, sofern er durch sie dazu veranlasst werden würde, dem zu übersetzenden Sprecher „auffällig falsch[e]“18 Überzeugungen zuzuschreiben. Das Billigkeitsprinzip Quines artikuliert damit die Annahme, dass „die Dummheit des Gesprächspartners über einen bestimmten Punkt hinaus weniger wahrscheinlich ist als eine schlechte Übersetzung“.19
Davidson weitet den Geltungsbereich des principle of charity demgegenüber deutlich aus.20 In seinem paradigmatischen Fall von radikaler Interpretation, in dem ein Interpret versucht, Äußerungen in einer ihm vollkommen unbekannten Sprache zu verstehen, rechtfertigt es die Anwendung des principle of charity, dem Interpretierten eine ziemlich große Menge von geglaubten und geäußerten Wahrheiten zu unterstellen. Wahren Sätzen in der unbekannten Sprache kann der Interpret wahre Sätze in seiner eigenen Sprache gegenüberstellen und auf diese Weise beginnen, ein Verständnis der fremden Sprache zu entwickeln, also zuallererst „in den hermeneutischen Zirkel hineinzukommen“.21 Die Anwendung des principle of charity ist für Davidson damit Möglichkeitsbedingung jeder Art von Verstehen.22 Davidsons transzendentaler Entwurf des Billigkeitsprinzips23 ist in der aktuellen Debatte nach wie vor sowohl Gegenstand von Kritik, als auch Ausgangspunkt für Anschlussforschung, die versucht, das principle of charity durch Ergänzung und Modifikation – z. B. als principle of humanity – zu verteidigen bzw. zu verbessern. 24

1.1 Zum Interpretationsbegriff und den Stufen des Verstehens

Diese schlaglichtartige Einführung soll zuallererst die zentrale Wichtigkeit des Billigkeitsprinzips sowohl für Theorieentwürfe der Hermeneutik als auch der philosophischen Interpretationstheorie v. a. analytischer Prägung deutlich machen. Argumentationen aus der philosophischen Interpretationstheorie lassen sich aber dennoch nicht ohne weiteres auf die philologische Hermeneutik übertragen, was zuallererst an der unterschiedlichen Besetzung des Interpretationsbegriffs liegt. Zunächst gilt es grundlegend zwischen einem erkenntnistheoretischen Interpretationsbegriff und einem technischen Interpretationsbegriff zu unterscheiden.25 Interpretation im erkenntnistheoretischen Sinn soll in der Folge verstanden werden als „Merkmal jeder Wahrnehmung und Erkenntnis“,26 der Begriff soll sich beziehen auf den grundlegenden Umgang des Menschen mit der Welt. Fragen in diesem Kontext betreffen z. B. die Möglichkeitsbedingungen von Verstehen überhaupt, die (Un)Möglichkeit „interpretationsfreier“ Erkenntnis oder einen möglicherweise existierenden lebenspraktischen Zwang des Menschen zur Interpretation. Ein solches erkenntnistheoretisches Verständnis von Interpretation liegt Aussagen zugrunde, die erklären, dass der Mensch schon aufgrund seiner Eigenschaft, Mensch zu sein, auf „Interpretieren und Auslegen gar nicht verzichten [kann]. Er existiert interpretierend, und es gibt für ihn keinen anderen Zugang zur Welt und zum Leben.“27 Welche Position in Hinblick auf derartige Fragen auch immer vertreten wird, zur Debatte steht ein Begriff von Interpretation als Bezeichnung für einen grundlegenden epistemischen Vorgang, der oft auch dann gemeint ist, wenn ohne Weiteres von als unproblematisch empfundenem Verstehen die Rede ist.28
Davon zu unterscheiden ist die technische Interpretation, die nach einer Formulierung Klaus Weimars im Weiteren aufgefasst werden kann als ein „Verstehen von Verstandenem, ein Verstehen zweiter Stufe“.29 Technische Interpretation bezeichnet also der erkenntnistheoretischen Interpretation gegenüber einen nachgeordneten, tendenziell reflexiv aufwändigeren und elaborierteren Interpretationsakt, der durch bestimmte Regeln einer wissenschaftlichen Methodologie zu fundieren ist. Implizit wird damit angenommen, dass es möglich ist, einen Text zu verstehen ohne ihn technisch zu interpretieren – das „Verstehen des Textes, das Erfassen des Wortlauts, [ist dann] möglich unabhängig von seiner Interpretation. “30 Üblicherweise findet der technische Interpretationsbegriff Anwendung z. B. in der juristischen Gesetzesauslegung, der theologischen Bibelexegese oder eben in der Geisteswissenschaft, speziell in der Literaturwissenschaft. Philologische Interpretation verstehe ich im Folgenden als eine Unterkategorie technischer Interpretation, die speziell literarische Texte als Interpretanda auszeichnet.31 Deckungsgleich sind die Begriffe technischer und philologischer Interpretation deshalb nicht, da nicht alle Interpretationsobjekte technischer Interpretation literarischer Art sind. Es ist denkbar, dass man auch für die Interpretation eines Gesetzestextes, eines Witzes, eines Kalenderspruchs, einer hintersinnigen Äußerung oder einer ironischen Passage in einem nicht-literarischen Text auf technische Interpretation zurückzugreifen hat, um den Sinn des Interpretandums angemessen erschließen zu können. Derartige Interpretationsprozesse als philologisch zu bezeichnen, scheint mir eine wenig sinnvolle Ausweitung des Philologiebegriffs.
Damit ist eine erste Unterscheidung etabliert, die für die Belange der folgenden Überlegungen allerdings noch nicht genau genug ist. Das zwischen den Begriffen erkenntnistheoretischer und philologischer Interpretation aufgespannte Spektrum umfasst derart viele unterschiedliche Verstehensoperationen, die nicht eindeutig einer der beiden Varianten zugeordnet werden können, dass eine weitere Differenzierung nötig ist, um den jeweiligen Geltungsbereich näher zu bestimmen. Eine solche Präzisierung lässt sich erreichen, indem man die Begriffe erkenntnistheoretischer und philologischer Interpretation innerhalb eines umfassenden Stufenmodells von Verstehen verortet, das die zwischen den Endpunkten liegenden Verstehensoperationen näher charakterisiert. Ein solches Stufenmodell des Verstehens eines Interpretandums I kann folgende Form haben: 32
  • 1) Perzeptuelles Verstehen von I
  • 2) Verstehen von I als Zeichen
  • 3) Verstehen von I als sprachliches Zeichen
  • 4) Verstehen von I als sprachliches Zeichen innerhalb einer Sprache L
  • 5) Verstehen des potentiellen Sinns von I in L
  • 6) Verstehen des konkreten Sinns von I in L im Kontext K
  • 7) Verstehen des propositionalen Gehalts von I
  • 8) Verstehen der Illokution von I
  • 9) Verstehen des pragmatisch implizierten Sinns von I
  • 10) Verstehen von I als sekundäres Zeichen
Zu 1) Perzeptuelles Verstehen von I: Um I angemessen verstehen zu können, ist es nötig, dass der Interpret I zuallererst angemessen wahrnimmt. Wer eine sprachliche Äußerung akustisch nicht verstehen kann oder einen Text aus bestimmten Gründen nicht lesen kann (etwa weil er seine Brille vergessen hat oder weil die Druckqualität zu schlecht ist etc.), hat es mit einer nicht-verstehbaren Äußerung bzw. einem uninterpretierbaren Text zu tun, allerdings in einem hermeneutisch uninteressanten Sinn. Wichtig ist, dass dieses perzeptuelle Verstehen unabhängig von einer semantischen Dimension des Verstehens aufzufassen ist. Perzeptuelles Verstehen wäre bereits dann erfolgreich, wenn ein Interpret eine bestimmte Lautfolge aufgrund seines a...

Table of contents

  1. Interpretation und Rationalität
  2. Historia Hermeneutica Series Studia
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. 1 Einleitung: „Narrheit und muntere Lügen immer auf das beste auslegen“ – NachsichtigeInterpretation in Hermeneutik und Sprachphilosophie
  7. 2 Formale Bestimmung von Billigkeitsprinzipien
  8. 3 Inhaltliche Bestimmung vonBilligkeitsprinzipien
  9. 4 Abbruchkriterien nachsichtiger Interpretation
  10. 5 Ausblick: Rahmenkonzepte der philologischenHermeneutik
  11. 6 Schluss
  12. 7 Literaturverzeichnis
  13. Personenregister
  14. Danksagung