Wie soll man sich der vielschichtigen Persönlichkeit des Apostels Paulus nĂ€hern? Ist es ĂŒberhaupt möglich, das Leben und Denken des Paulus hinreichend zu erfassen? Wie muss eine Darstellung des Lebens und Denkens des Paulus aufgebaut sein? Um diese Fragen zu beantworten, sind hermeneutische und methodologische Ăberlegungen auf zwei Ebenen erforderlich: 1) Unter welchen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen vollzieht sich Geschichtsschreibung? 2) Welche besonderen Probleme zeigen sich bei Paulus?
Das Entstehen von Geschichte
Im Zentrum der neueren geschichtstheoretischen Diskussion steht die Frage, wie sich historische Nachrichten und ihre Einordnung in den gegenwĂ€rtigen Verstehenszusammenhang des Historikers/Exegeten zueinander verhalten. Das klassische Ideal des Historismus, nur zu âzeigen, wie es eigentlich gewesenâ ist, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als ideologisches Postulat. Die Gegenwart verliert mit ihrem Ăbergang in die Vergangenheit unwiderruflich ihren RealitĂ€tscharakter. Schon deshalb ist es nicht möglich, das Vergangene ungebrochen gegenwĂ€rtig zu machen. Der Zeitabstand bedeutet AbstĂ€ndigkeit in jeder Hinsicht, er verwehrt historisches Erkennen im Sinne einer umfassenden Wiederherstellung dessen, was geschehen ist. Vielmehr kann man nur seine eigene Auffassung von der Vergangenheit in der Gegenwart kundtun. Vergangenheit begegnet uns ausschlieĂlich im Modus der Gegenwart, hier wiederum in interpretierter und selektierter Form. Relevant von der Vergangenheit ist nur das, was nicht mehr Vergangenheit ist, sondern in die gegenwĂ€rtige Weltgestaltung und Weltdeutung einflieĂt. Die eigentliche Zeitstufe des Historikers/Exegeten ist immer die Gegenwart , in die er unentrinnbar verwoben ist und deren kulturelle Standards das Verstehen des gegenwĂ€rtig Vergangenen entscheidend prĂ€gen. Die Sozialisation des Historikers/Exegeten, seine Traditionen, seine politischen und religiösen Werteinstellungen prĂ€gen notwendig das, was er in der Gegenwart ĂŒber die Vergangenheit sagt. Zudem sind auch die Verstehensbedingungen selbst, speziell die Vernunft und der jeweilige Kontext, einem Wandlungsprozess unterworfen, insofern die jeweilige geistesgeschichtliche Epoche und die sich notwendigerweise stĂ€ndig wandelnden erkenntnisleitenden Absichten das historische Erkennen bestimmen. Jede wissenschaftliche Disziplin fĂŒhrt apriorische Axiome mit sich, die historisch entstanden sind. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjektes fordert eine Reflexion ĂŒber seine Rolle im Erkenntnisprozess, denn das Subjekt steht nicht ĂŒber der Geschichte, sondern ist ganz und gar in sie verwickelt. Deshalb ist âObjektivitĂ€tâ als Gegenbegriff zu âSubjektivitĂ€tâ völlig ungeeignet, um historisches Verstehen zu beschreiben. Dieser Begriff dient vielmehr als literarische Strategie nur dazu, die eigene Position als positiv und wertneutral zu deklarieren, um so andere Auffassungen als subjektiv und ideologisch zu diskreditieren. Das Erkenntnisobjekt kann nicht vom erkennenden Subjekt getrennt werden, denn das Erkennen verĂ€ndert immer auch das Objekt. Das im Erkenntnisvorgang gewonnene Bewusstsein von RealitĂ€t und die vergangene RealitĂ€t verhalten sich nicht wie Original und Abdruck. Deshalb sollte nicht von âObjektivitĂ€tâ, sondern von âAngemessenheitâ oder âPlausibilitĂ€tâ historischer Argumente gesprochen werden. SchlieĂlich sind jene Nachrichten, die als historische âFaktenâ in jede historische Argumentation einflieĂen, in der Regel auch schon Deutungen vergangenen Geschehens. Nicht das wirklich vollzogene Geschehen âan sichâ ist uns zugĂ€nglich, sondern nur die je nach Standort der Interpreten verschiedenen Deutungen vergangener Ereignisse. Jeder Wirklichkeitszugang des Menschen hat prinzipiell deutenden Charakter, er ist nicht einfach Wirklichkeitsabbildung, sondern Interpretationsleistung des erkennenden Subjekts, das seine eigene Lebensgeschichte immer mit- und einbringt. Deshalb ist Deuten unausweichlich ein subjektiver, aber nicht subjektivistischer, willkĂŒrlicher Vorgang, sondern immer an allgemeine RealitĂ€tsvorgaben, an Kommunizierbarkeit (Logik, Sprache, Kritik) und die kulturellen Standards einer Gesellschaft gebunden. Das Leben muss in seinen mannigfaltigen BezĂŒgen gedeutet werden. Die gesamte Wirklichkeit des Menschen ist ein Auslegungsgeschehen, ein Interpretieren und ein Verstehen der Wirklichkeit. Daraus folgt: Geschichte wird nicht rekonstruiert, sondern unausweichlich und notwendigerweise konstruiert. Das verbreitete Bewusstsein, die Dinge nur ânachzuzeichnenâ oder zu âre-konstruierenâ suggeriert eine Kenntnis des UrsprĂŒnglichen, die es in der vorausgesetzten Art und Weise nicht gibt. Geschichte ist auch nicht identisch mit Vergangenheit, vielmehr immer nur eine gegenwĂ€rtige Stellungnahme, wie man Vergangenes sehen könnte. Deshalb gibt es keine âFaktenâ im âobjektivenâ Sinn, sondern innerhalb historischer Konstruktionen bauen Deutungen auf Deutungen auf. Es gilt: âes wird Geschichte, aber es ist nicht Geschichte.â
Zu diesen erkenntnistheoretischen Einsichten kommen sprachphilosophische Ăberlegungen. Geschichte ist immer sprachlich gestaltete Vermittlung; Geschichte existiert nur, insofern sie zur Sprache gebracht wird. Historische Nachrichten werden erst durch die semantisch organisierte Konstruktion des Historikers/Exegeten zu Geschichte. Dabei fungiert die Sprache nicht nur zur Bezeichnung des Gedachten und dadurch zur Wirklichkeit Erhobenen, sondern die Sprache bestimmt und prĂ€gt jene Wahrnehmungen, die zu Geschichte organisiert werden. Es gibt fĂŒr Menschen keinen Weg von der Sprache zu einer unabhĂ€ngigen auĂersprachlichen Wirklichkeit, denn Wirklichkeit ist fĂŒr uns allein in und durch Sprache prĂ€sent. Geschichte ist somit nur als sprachlich vermittelte und gestaltete Erinnerung zugĂ€nglich. Sprache wiederum ist kulturell bedingt und unterliegt einem stĂ€ndigen gesellschaftlichen Wandel, so dass es nicht verwundert, wenn historische Ereignisse zu verschiedenen Zeiten und in unterschiedlichen Kultur- und Wertekreisen abweichend konstruiert und bewertet werden. Die Sprache ist weitaus mehr als bloĂe Abbildung der Wirklichkeit, denn sie reguliert und prĂ€gt den Zugang zur Wirklichkeit und damit auch unser Bild von ihr. Zugleich ist Sprache aber auch nicht die Wirklichkeit, denn sie bildet sich wie im Verlauf der Menschheitsgeschichte insgesamt bei jedem Menschen im Rahmen seiner biologischen und kulturgeschichtlichen Entwicklung erst heraus und wird von diesem Prozess entscheidend und jeweils unterschiedlich beeinflusst. Die stĂ€ndige VerĂ€nderung der Sprache ist ohne die sie bedingenden verschiedenen sozialen Kontexte nicht erklĂ€rbar, d. h., der Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem muss beibehalten werden, wenn man die RealitĂ€t nicht aufgeben will.
Geschichte als Sinnbildung
Geschichte ist somit immer ein selektives System, mit dem die Interpretierenden nicht einfach Vergangenes, sondern vor allem ihre eigene Welt ordnen und deuten. Sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem GegenwĂ€rtigen Sinn, d.h. Deutungskraft zur Orientierung innerhalb der LebenszusammenhĂ€nge verleihen soll. Historische Interpretation heiĂt, einen kohĂ€renten Sinnzusammenhang zu schaffen; erst durch die Herstellung historischer ErzĂ€hlzusammenhĂ€nge werden die Fakten das, was sie fĂŒr uns sind. Dabei mĂŒssen historische Nachrichten in der Gegenwart erschlossen und zur Sprache gebracht werden, so dass sich in der Darstellung/ErzĂ€hlung von Geschichte notwendigerweise âFaktenâ und âFiktionâ, Vorgegebenes und schriftstellerisch-fiktive Arbeit miteinander verbinden. Indem historische Nachrichten kombiniert, historische Leerstellen ausgefĂŒllt werden mĂŒssen, flieĂen Nachrichten aus der Vergangenheit und ihre Interpretation in der Gegenwart zu etwas Neuem zusammen. Durch die Interpretation wird dem Geschehen eine neue Struktur eingezogen, die es zuvor nicht hatte. Es gibt nur potentielle Fakten, denn es bedarf der Erfahrung und der Deutung, um das Sinnpotential eines Geschehens zu erfassen. Fakten muss eine Bedeutung beigemessen werden und die Struktur dieses Interpretationsprozesses konstituiert das VerstĂ€ndnis der Fakten. Erst das fiktionale Element eröffnet einen Zugang zur Vergangenheit, denn es ermöglicht die unumgĂ€ngliche Neuschreibung der vorausgesetzten Ereignisse. Die figurative Ebene ist fĂŒr die historische Arbeit unerlĂ€sslich, denn sie entfaltet den prĂ€figurierenden Plan der Interpretation, der die gegenwĂ€rtige Auffassung von der Vergangenheit bestimmt. GrundsĂ€tzlich gilt: Geschichte entsteht erst, nachdem das ihr zugrundeliegende Geschehen erfolgt ist und in den Status gegenwartsrelevanter Vergangenheit erhoben wurde, so dass notwendigerweise Geschichte nicht denselben RealitĂ€tsanspruch erheben kann wie die ihr zugrundeliegenden Ereignisse. Deshalb kann auch ein Entwurf der Geschichte des Lebens und Denkens des Apostels Paulus immer nur ein AnnĂ€herungsakt an das vergangene Geschehen sein, der sich seiner geschichtstheoretischen Voraussetzungen, seines konstruktiven Charakters und der Probleme seiner DurchfĂŒhrung bewusst sein muss.