1.1 Wahl des Themas
Über Vertreter der vielgestaltigen Intellektuellenszene der so bewegten jüngeren Geschichte, einschliesslich Geistesgeschichte, des Iran ist schon viel geschrieben worden – sowohl im Iran als auch ausserhalb. Dabei bildet gerade die Auseinandersetzung iranischer Intellektueller mit dem Westen einen der Schwerpunkte der einschlägigen Arbeiten. Das kommt sicher nicht von ungefähr, denn nicht nur stellt die Auseinandersetzung mit dem Westen ihrerseits einen der Schwerpunkte des Denkens und Wirkens vieler iranischer Intellektueller dar, welcher geistigen, fachlichen, weltanschaulichen und politischen Ausrichtung sie auch immer angehören mögen; die Wahrnehmung einer Herausforderung durch den Westen in praktischen und geistigen Belangen, die dieser Auseinandersetzung zugrunde liegt, hat selbst Entscheidendes zur Entstehung einer zeitgenössischen Intellektuellenszene im Iran – und zur Vielgestaltigkeit derselben – beigetragen. Unter den vielen Gelehrten in Ost und West, die sich mit iranischen Intellektuellen der jüngeren Geistesgeschichte ihres Landes befassen, wäre etwa Farzin Vahdat zu nennen, der in God and Juggernaut: Iran’s Intellectual Encounter with Modernity und Metaphysical Foundations of Islamic Revolutionary Discourse in Iran: Vacillations on Human Subjectivity die Westwahrnehmung einer Reihe iranischer Intellektueller vorwiegend aus einer soziologischen Perspektive betrachtet, wobei er besonders eingehend die Auseinandersetzung mit dem Begriff des Ich bei einigen unter ihnen untersucht. Ebenso stellt Mehrzad Boroujerdi in Iranian Intellectuals and the West: The Tormented Triumph of Nativism einige iranische Intellektuelle und ihr Werk im Zusammenhang mit der politischen Zeitgeschichte des Landes und aus der Perspektive der Orientalismusdebatte sowie verschiedener Gegendebatten zu dieser dar. Der Geschichtswissenschaftler, Kulturphilosoph und Literaturwissenschaftler Hamid Dabashi behandelt in seinem Werk Theology of Discontent. The Ideological Foundations of the Islamic Revolution in Iran das Denken einer Reihe wichtiger religiös ausgerichteter Intellektueller der jüngeren Geistesgeschichte des Iran im Lichte von dessen Wirkmächtigkeit und Bedeutung als geistige Vorbereitung und Grundlegung der Islamischen Revolution. Reza Hajatpour in Iranische Geistlichkeit zwischen Utopie und Realismus: Zum Diskurs über Herrschafts- und Staatsdenken im 20. Jahrhundert beschäftigt sich, wie der Untertitel seines Werkes verrät, mit dem Staatsdenken verschiedener iranischer Intellektueller vorwiegend mit religiösem Ausbildungshintergrund aus der Perspektive der Politikwissenschaft und der politischen Philosophie. Auch Ali Gheissari in Iranian Intellectuals in the 20th Century beschreibt das theoretische und praktische Wirken der zahlreichen iranischen Intellektuellen, die er behandelt, im Zusammenhang mit der politischen Geschichte des Iran und des Mittleren Ostens. Die Islamwissenschaftlerin und Politologin Katajun Amirpur befasst sich in Die Entpolitisierung des Islam. ‘Abdolkarīm Sorūšs Denken und Wirken in der Islamischen Republik Iran mit einem vor allem für den nachrevolutionären Iran bedeutenden, oft als Reformdenker bezeichneten Gelehrten.
Wenn wir unter all den vielen iranischen Denkern nun gerade Muḥammad Ḥusayn Ṭabāṭabā’ī (1903–1981) und Murtażā Muṭahharī (1920–1979), zwei Intellektuelle, die gemeinhin zu den sogenannten religiösen Gelehrten gezählt werden, zum Gegenstand einer Forschungsarbeit machen, die sich ebenfalls mit deren Westsicht befasst, so behandeln wir diese beiden Gelehrten wohl als Vertreter, nicht aber als Stellvertreter für die iranische Geistesgeschichte ihrer Zeit. Für das Denken ihrer Zeit als solches in seiner Vielfalt und Gesamtheit könnte sowieso kein einzelner Denker – auch keine zwei Denker – stellvertretend stehen, aber auch allein schon die Denkrichtungen, die iranische Intellektuelle in der geistigen Auseinandersetzung mit dem Westen entwickelt und verfolgt haben, sind zu mannigfaltig, als dass sich dieser oder jener unter ihnen als der einzig massgebliche hervorheben liesse. In welchem Masse und auf welche Weise sich ihr Denken im allgemeinen und ihre Westwahrnehmung im besonderen daher auch immer von denen anderer Intellektueller unterscheiden mögen, so bestehen diese doch nicht beziehungslos neben der geistigen Umgebung der beiden Gelehrten her. So werden wir denn auch das Gedankengut derselben, soweit dieses in einer Untersuchung der geistigen Auseinandersetzung der beiden mit dem Westen von Belang ist, zum einen im Lichte der geistigen Auseinandersetzung der beiden mit den inneren Verhältnissen der Gemeinschaft, in der sie als religiöse Gelehrte eine Rolle beanspruchten, betrachten. Zum anderen beleuchten wir ihre Westwahrnehmung vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund und im Lichte der geistigen Tradition, als deren Träger sich diese beiden Denker sehen und von denen aus sie sowohl dem Westen als auch dem intellektuellen Umfeld des Iran ihrer Zeit begegnen. Diese eigene geistige Tradition – oder genauer vielleicht: die Vollendung derselben – nun besteht für Ṭabāṭabā’ī und Muṭahharī in einer philosophischen Lehre, deren Bedeutung und intellektuelle Überlegenheit diese Denker selbst sowie iranische Betrachter der Philosophiegeschichte unter anderem darin sehen, dass sie die religiösen Einzelwissenschaften sowie Mystik und die früheren philosophischen Hauptrichtungen in einem einzigen intellektuellen System vereint habe. Die Rede ist von der sogenannten Lehre von der Eigentlichkeit des Seins, die im 17. Jahrhundert von dem aus Šīrāz stammenden Gelehrten Mullā Ṣadrā (st. 1640) entwickelt wurde. Auf die Inhalte dieser Philosophie wird an anderer Stelle noch einzugehen sein. Was ihre Wirkungsgeschichte betrifft, so begründete Mullā Ṣadrās Gedankengut im Iran – und fast nur dort – eine eigene philosophische Schule, die sich seit dem 19. Jahrhundert als tonangebende philosophische Richtung unter den iranischen Religionsgelehrten durchsetzte. Ihr gehören in neuerer Zeit ausser Ṭabāṭabā’ī und Muṭahharī so bedeutende und einflussreiche Zeitgenossen derselben wie Mīrzā Abū al-Ḥasan Rafī‘ī Qazwīnī, Mīrzā Mehdī Āštiyānī, Āqā Seyyed Moḥammad Kāẓem ‘Aṣṣār, Āqā Moḥammad Reżā Qomše’ī und eben auch der spätere Vordenker der Islamischen Republik und Revolutionsführer Khomeini an. Weil einige der massgeblichen früheren Gelehrten dieser Schule in Isfahan wirkten, ist sie auch unter dem Namen „Schule von Isfahan“ bekannt geworden. In der Hinsicht, dass diese Schule ausserhalb des Iran vergleichsweise wenig wahrgenommen wurde und dort auch keine philosophische Bewegung mit ähnlicher Ausstrahlung entstand, dürfen wir sie vielleicht als eine Besonderheit der iranischen Geistesgeschichte und, sofern sie sich in der Westwahrnehmung ihrer Vertreter niederschlägt, auch als eine Besonderheit der Auseinandersetzung ihrer beiden Anhänger Ṭabāṭabā’ī und Muṭahharī mit dem Westen gegenüber anderen Strömungen der Westwahrnehmung sowohl innerhalb als auch ausserhalb des Iran betrachten.
Die Massgeblichkeit der philosophischen Lehre von der Eigentlichkeit des Seins als geistiger Bezugspunkt für die beiden Denker zeigt sich besonders deutlich in ihrem Werk Die Prinzipien der Philosophie und die Methode des Realismus : Gemeinhin erwähnt als eine Widerlegung des dialektischen Materialismus, geht es vor allem in dem mitlaufenden Kommentar, den Mutahharī dem Buch auf Ṭabāṭabā’īs Ersuchen beigab, auch alle anderen philosophischen Systeme des Westens durch, welche in der Darstellung der Verfasser dessen geistige Grundlagen ausmachen, wobei eben das Denken der Schule von Isfahan für Ṭabāṭabā’ī und Muṭahharī der philosophische Massstab ist, mit dessen Hilfe sie die geistigen Grundlagen der westlichen Kultur auf deren intellektuelle – und das heisst in diesem Fall: philosophische – Qualität hin zu untersuchen und zu beurteilen beanspruchen. Wir werden uns daher, was das Verständnis dieser beiden Gelehrten vom Westen angeht, eingehend mit Inhalt und Absicht dieses Werkes befassen. Dabei gilt es in Rechnung zu stellen, dass Ṭabāṭabā’ī und Muṭahharī Philosophie schlechthin als Universalwissenschaft auffassen. Dies unterscheidet sie von späteren iranischen Denkern, die sich mit abendländischer Philosophie beschäftigten und daraus zum Teil ebenfalls eine bestimmte Westsicht ableiteten. Zu diesen gehören etwa Mehdī Ḥā’erī Yazdī (st. 2000), einer von Muṭahharīs Mitschülern bei Khomeini am theologischen Seminar, der Philosophie in Europa, den Vereinigten Staaten und Kanada studierte, was es ihm ermöglichte, sich aufgrund eingehender Kenntnis sowohl der islamischen als auch der abendländischen Philosophie mit dem Gedankengut beider kritisch auseinanderzusetzen. Weiter zu nennen ist Dāryūš Šāyegān (geb. 1935), der in Genf und an der Sorbonne –dort bei Henry Corbin – unter anderem Philosophie und vergleichende Philosophie studierte und sich durch vergleichende Betrachtung der östlichen und der abendländischen Geistes- und Kulturgeschichte einen Namen gemacht hat. Dabei zeigt er sich beeinflusst von Martin Heidegger, mit dessen Denken er durch Henry Corbin, den Übersetzer von Heideggers Werk ins Französische, bekannt geworden ist. Auch gilt es ‘Abd ol-Karīm Sorūš (geb.1945) zu erwähnen, der an der Universität Teheran in Pharmazie und in London in Chemie und Philosophie ausgebildet wurde und in der Intellektuellenszene des Iran seit den 90er Jahren durch seine Beschäftigung mit neopositivistischem Gedankengut des Philosophen Karl Raimund Popper (st. 1994) hervorgetreten ist, sowie Rāmīn Ğahānbaglū (geb. 1957), der an der Sorbonne in Philosophie promoviert wurde und sich in seinem Werk, zu dem Publikationen in abendländischen Sprachen genauso wie in Persisch gehören, mit westlicher Philosophie sowie mit iranischer –und indischer – Geistesgeschichte befasst.
Die Auffassung von Philosophie als Universalwissenschaft ist ein Punkt, in dem sich Ṭabāṭabā’īs und Muṭahharīs Westwahrnehmung zudem von der Westwahrnehmung iranischer Intellektueller mit einzelwissenschaftlicher Betrachtungsgrundlage unterscheidet wie etwa einer soziologischen im Falle von ‘Alī Šarī‘atī und Ehsan Naraqi, einer politologischen wie bei Hamid Enayat oder einer historischen wie bei Seyyed Fakhroddin Shadman. Aber nicht nur, dass diese Intellektuellen bei ihrer Westwahrnehmung von einer Perspektive ausgehen, die auf Einzelwissenschaft beruht: Im Falle einiger von ihnen wie Šarī‘atī oder Enayat handelt es sich dabei erst noch um eine Einzelwissenschaft, deren Ursprung nicht in der Geistesgeschichte des Iran oder überhaupt der islamischen Gemeinde, sondern in der des Abendlandes liegt. Durch ihren Bezug auf die iranische Geistesgeschichte wiederum unterscheidet sich die Westwahrnehmung von Ṭabāṭabā’ī und Muṭahharī auch von derjenigen anderer iranischer Intellektueller, deren Betrachtungsgrundlage zwar auch Philosophie, aber eben abendländische Philosophie, bildet wie etwa der Neopositivismus im Falle von ‘Abd ol-Karīm Sorūš.
Dass wir die Westbetrachtung dieser beiden Denker vor diesem zweifachen Hintergrund ihres geistigen Umfeldes auf der einen und der geistesgeschichtlichen Tradition, auf die sie sich beziehen, auf der anderen Seite behandeln, empfiehlt sich auch deshalb, weil Ṭabāṭabā’īs und Muṭahharīs Westsicht sich nicht nur durch ihren philosophischen Anspruch und ihren besonderen geistesgeschichtlichen Hintergrund von anderen Strömungen der Westwahrnehmungen unterscheidet, sondern sich auch als ausserordentlich wirkmächtig in theoretischer und praktischer Hinsicht erweisen lässt. Im Zuge der zunehmenden Verschmelzung zwischen den Kreisen iranischer Intellektueller mit religiösem und solcher mit akademischem Ausbildungshintergrund seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts beeinflusste ihr Denken mehr und mehr die geistige Grundlage und Ausrichtung weiterer, auch nicht-religiöser Vertreter der Intellektuellen...