1. Kapitel: Kants Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
Dieses Kapitel soll eine Einführung in die Thematik der Zurechnung bei Kant geben. Dafür bietet es sich an, mit einer Vorstellung von Kants Definition des Zurechnungsbegriffs in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten zu beginnen. Anhand der Definition der Zurechnung werden zentrale Begriffe der Kantischen praktischen Philosophie vorgestellt, die mit dem Zurechnungsbegriff in engem Zusammenhang stehen und auf die im Laufe der Arbeit immer wieder zurückgegriffen wird, wie z. B. Gesetz, Schuld und Verdienst. Wo ein Begriff eine detaillierte Behandlung erfordert, wie im Fall des Freiheitsbegriffs, wird auf die entsprechenden folgenden Kapitel verwiesen. Der so entstehende Überblick ist gerade für die vorliegende Untersuchung des Zurechnungsbegriffs hilfreich und notwendig: Einerseits fußt ein Verständnis des Zurechnungsbegriffs auf diversen Begriffen der Kantischen praktischen Philosophie – wie Freiheit, Person, Handlung, Gesetz und Pflicht –, und andererseits können diese Begriffe ihrerseits durch die Fokussierung auf die Zurechnungsproblematik aus einer bestimmten Perspektive beleuchtet werden, die für ihr volles Verständnis relevant ist.
1. Stellung der Definition der Zurechnung in der Metaphysik der Sitten
Kant stellt den Zurechnungsbegriff in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten vor. Die Metaphysik der Sitten umfasst zwei Teile: „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ und „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre“. Kant selbst bezeichnet den Kontext der Tugendlehre auch als Ethik (z. B. 6:214, 219 – 220, 379), während der Oberbegriff für Recht und Ethik die Moral ist. Die „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ (6:211– 228) behandelt Themen, die gleichermaßen für Recht und Ethik relevant sind, auch wenn Kant sie offiziell der Rechtslehre zuordnet. Der Zurechnungsbegriff ist einer der „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten“ (6:221), die „der Metaphysik der Sitten in ihren beiden Theilen gemein“ sind (6:222) und die Kant im vierten Abschnitt der Einleitung vorstellt. In diesem Abschnitt möchte Kant die begrifflichen Grundlagen seiner Ethik bzw. Rechtsphilosophie schaffen, wobei die Kürze der Erläuterungen darauf hinweist, dass ein gewisses Verständnis der Begriffe bereits vorausgesetzt wird oder eine genauere Erläuterung später noch erfolgt. Auch wenn es weithin üblich ist, von Kants Zurechnungs definition zu sprechen (z. B. Stockhammer 1958, 139; Joerden 1991; Hruschka 2004, 18), ist zu beachten, dass der Begriff der Definition dabei weniger streng verwendet wird, als Kant ihn in der Kritik der reinen Vernunft (A727/B755-A732 /B760) darstellt. Wie Kant dort erläutert, bedeutet definieren, „den ausführlichen Begriff eines Dinges innerhalb seiner Grenzen ursprünglich darstellen“, wobei sich Ausführlichkeit auf die „Klarheit und Zulänglichkeit der Merkmale“ bezieht, und die „Grenze“ eines Begriffs dann gegeben ist, wenn dessen Merkmale vollständig aufgezählt sind, wobei diese Grenzbestimmung „ursprünglich“, d. h. nicht abgeleitet und damit nicht eines grundlegenderen Beweises fähig sein muss (vgl. A727/B755, Anm.). Die Rolle von Definitionen sieht Kant weniger darin, der philosophischen Untersuchung vorausgeschickt zu werden – dies könne höchstens zum „Versuche“ oder als nützliche „Annäherung[…]“ geschehen (A731/B758). Vielmehr schlägt Kant vor, in der Philosophie auf Definitionen hinzuarbeiten, sodass „die Definition, als abgemessene Deutlichkeit, das Werk eher schließen, als anfangen“ könne (A731/B759). Da es aber „gar schlecht mit allem Philosophieren stehen“ würde, wenn „man nun eher gar nichts mit einem Begriffe anfangen können [würde], als bis man ihn definiert hätte“ (A731/B759 Anm.), schickt Kant Begriffserklärungen voraus, die ein ausreichendes Verständnis des Begriffs ermöglichen, um damit weiter arbeiten zu können. Kant liefert in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten also keine Definitionen im strengen Sinne, sondern Erklärungen, die gut genug sind, um eine Grundlage für die Metaphysik der Sitten zu bilden. Da die Metaphysik der Sitten ein „System der Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen“ ist (6:216), können die vorgestellten Begriffe, so auch der Zurechnungsbegriff, als apriorische Begriffe dieses Systems verstanden werden.
2. Das Zurechnungsurteil „in moralischer Bedeutung“
Der Begriff der Zurechnung ist der letzte der Grundbegriffe, die in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten vorgestellt werden, sodass Kant auf viele Begriffe zurückgreifen kann, die er zuvor erläutert hat. Bereits der Anfang der Zurechnungsdefinition setzt die zuvor behandelten Begriffe der Tat, des Gesetzes und der Freiheit (bzw. der freien Ursache, „causa libera“) voraus:
Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung ist das Urtheil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung, die alsdann That (factum) heißt und unter Gesetzen steht, angesehen wird (6:227).
Diese Definition enthält die zentralen Begriffe, die ich in der folgenden Reihenfolge behandeln werde: Was heißt es, dass jemand Urheber und damit nach Kant „freie Ursache“ (causa libera) einer Handlung ist (Abschnitt 3)? Was ist der Unterschied zwischen Handlung und Tat (Abschnitt 4)? Welche Rolle spielen Gesetze für Zurechnung (Abschnitt 5)?
Treten wir zunächst einen Schritt zurück und fragen uns, was eigentlich der Gegenstand eines wie hier beschriebenen Zurechnungsurteils ist. Das Zurechnungsurteil ist ein Urteil über die Beziehung zwischen einer Handlung und ‚jemandem‘ – einem Handelnden, der nach Kant eine Person ist (6:223). Zurechnung beschreibt jemanden als „Urheber […] einer Handlung“. Dass jemand Urheber einer Handlung ist, drückt Kant so aus, dass er den Urheber als causa libera, als „freie Ursache“, bezeichnet. Die Handlung wird damit von rein zufälligem bzw. bloß natürlichem Geschehen abgegrenzt und als „eigene“, freie Handlung einer Person ausgezeichnet. Person und Handlung werden mithin im Zurechnungsurteil in ein bestimmtes Verhältnis gesetzt: Die Handlung ist der Person zurechenbar, wenn die Person als Urheber der Handlung betrachtet werden kann.
Das Zurechnungsurteil identifiziert nicht nur den Urheber und dessen Handlung, sondern impliziert darüber hinaus, dass die Handlung „unter Gesetzen steht“, das heißt, dass die Handlung und auch die Person, der die Handlung zurechenbar ist, nach dem Maßstab von Gesetzen bewertet werden können. Um welche Gesetze handelt es sich dabei? Hier kommt zum Tragen, dass es sich um Zurechnung „in moralischer Bedeutung“ handelt. Der mangelnde Kontrastbegriff eines nicht-moralischen Zurechnungsurteils lässt zunächst die Frage offen, wodurch sich ein moralisches von einem nicht-moralischen Zurechnungsurteil unterscheidet. An vielen Stellen verwendet Kant „moralisch“ im Gegensatz zu „naturgesetzlich“, so z. B. wenn er moralische Gesetze – ethische und rechtliche Gesetze – von Naturgesetzen unterscheidet (vgl. 6:214). Moralische Zurechnung betrachtet demnach eine Person als Urheber einer Handlung, die unter moralischen Gesetzen steht (vgl. Abschnitt 5). Zurechnung in moralischer Bedeutung ließe sich also von Zurechnung in naturkausaler Bedeutung unterscheiden: Einer Lawine ist der Tod von Menschen naturkausal zurechenbar, aber nicht in moralischem Sinn. Nach Kants Definition lässt sich der Unterschied zwischen moralischer und naturkausaler Zurechnung darauf zurückführen, dass sich die Ursache des Ereignisses unterscheidet: Moralische Zurechnung stellt einen Zusammenhang zwischen einer freien Ursache („causa libera“) und einer Handlung her. Kann man die Ursache nicht als frei bezeichnen, lässt sich die Handlung entsprechend auch nicht nach moralischen Gesetzen bewerten, sondern nur nach kausalen Gesetzmäßigkeiten untersuchen. Kant markiert den Unterschied zwischen bloß naturkausaler Urheberschaft und Zurechnung in moralischer Bedeutung auch dadurch, dass er in seinen Vorlesungen zur Moralphilosophie terminologisch zwischen Zuschreibung und Zurechnung von Handlungen unterscheidet. In der Nachschrift Kähler illustriert Kant den Unterschied zwischen bloß naturkausaler Zuschreibung und moralischer Zurechnung am Beispiel eines Betrunkenen: „Wir können einem etwas zuschreiben aber nicht zurechnen zE. einem Rasenden oder Besoffenen, seine Handlungen können ihm zugeschrieben aber nicht zugerechnet werden“ (Kähler 87, §125 ff.). Geisteskranke oder Betrunkene sind offenbar nicht in demselben Sinn Urheber ihrer Handlungen wie gesunde Erwachsene bei klarem Bewusstsein.
3. Urheberschaft (causa libera)
Der Kern des Zurechnungsurteils ist, dass es auf einen besonderen Zusammenhang zwischen einer Person und einer Handlung verweist. Dieser Zusammenhang spiegelt sich auf Seiten der Person darin wider, dass diese als „Urheber“ bezeichnet wird, und auf Seiten der Handlung darin, dass diese „Tat“ genannt wird. Kant bindet Urheberschaft, wie im erläuternden Klammerausdruck „causa libera“ klar wird, an eine bestimmte Art der Ursächlichkeit: Eine Person ist insofern Urheber einer Handlung, als sie deren freie Ursache ist. Um Kants Begriff der Urheberschaft einzuführen, ist es deshalb zuvor nötig, den Begriff der Kausalität zu skizzieren und darzulegen, was Kant mit Freiheit bzw. freier Ursächlichkeit meint (vgl. genauer Kapitel 2).
Lässt man zunächst den Begriff der Freiheit außen vor, kann man eine Person dann als Ursache bezeichnen, wenn sie eine Wirkung hervorbringt, und das heißt nach Kant: insofern die Person handelt. Die Handlung eines Subjekts ist die „Causalität dieser Ursache“ (A542/B570), also das Bewirken selbst. Diese Konzeption macht zunächst deutlich, dass man von einer Handlung im Kantischen Sinn nicht ohne Weiteres sagen kann, dass moralische Zurechnung der Handlung kausale Zurechnung notwendig voraussetzt. Denn es ist nicht die Handlung, die verursacht ist; vielmehr ist die Wirkung durch die Handlung der Person verursacht. Indem eine Person eine Handlung ausführt, wird sie Ursache einer Wirkung; sie verwirklicht Zwecke. Der Kern der These, dass moralische Zurechnung kausale voraussetzt, lässt sich auch auf Kants Theorie übertragen: Einer Person ist nur dann eine Handlung bzw. eine Wirkung zurechenbar, wenn sie die handelnde Ursache ist bzw. die Wirkung durch ihre Handlung hervorgebracht hat.
Weiterhin legt die Konzeption der Person als handelnde Ursache nahe, ein substanzkausalistisches Modell als Grundlage zu vermuten. Diesem Modell zufolge besitzen Substanzen Kräfte, die sie dazu befähigen, Ursache zu sein und durch ihr Handeln Veränderungen hervorzubringen. Dass eine Substanz kausal wirksam ist, heißt, dass sie ihre Kräfte in Übereinstimmung mit ihrer Natur und den Umständen aktiv ausübt (vgl. Watkins 2005, 13). Dieses Modell ist gut dazu geeignet, Handlungsbeschreibungen zugrunde gelegt zu werden („Brutus tötete Cäsar“), während ein ereigniskausalistisches Modell, das Kausalität als Regularität zwischen Ereignissen auffasst, die Rolle der handelnden Person nicht deutlich macht („Dolchstiche verursachten Cäsars Tod“).
Das Vermögen, das Menschen befähigt, Ursache von Wirkungen bzw. Gegenständen zu sein, ist der Wille bzw. die Willkür (vgl. auch Kapitel 2). Kant beschreibt den Willen bzw. die Willkür als besondere Formen des „Begehrungsvermögens“, d.h. der Fähigkeit, „durch seine Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein“ (6:211). Menschen können Ursache von Gegenständen sein, und zwar aufgrund ihrer Vorstellungen. Das Begehrungsvermögen des Menschen beschreibt Kant genauer als ein „Begehrungsvermögen nach Begriffen“ (6:213), was bedeutet, dass Menschen nach besonderen Vorstellungen handeln können, nämlich nach Zweckbegriffen. Beispielsweise kann ich mir ein Brot bzw. die Herstellung eines Brotes zum Zweck machen und aufgrund dieser Vorstellung beginnen, entsprechende Handlungen wie Einkaufen und Backen zu vollziehen, um das Brot zu verwirklichen. Auf diese Weise werde ich handelnd zur Ursache des Brotes.
Im Gegensatz zu Tieren, die nach Kant ebenfalls ein Begehrungsvermögen besitzen, haben Menschen eine freie Willkür. Wenn Kant von einem Urheber als „freier Ursache“ der zurechenbaren Handlung spricht, verweist er auf die besondere Kausalität des menschlichen Willens: Insofern der Wille freie Ursache ist, ist auch seine Kausalität eine Kausalität aus Freiheit. Kausalität aus Freiheit besteht im Kern darin, dass durch sie „etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach nothwendigen Gesetzen bestimmt sei“ (A447/B475). Kausalität aus Freiheit ist demnach Erstursächlichkeit. Damit ist das wesentliche Merkmal transzendentaler Freiheit benannt, die Kant als „das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Causalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht“ (A533/B561) charakterisiert und feststellt, dass eine so verstandene Freiheit der „eigentliche Grund“ (A448/B476) der Zurechnung ist (vgl. Kapitel 2). Bevor Kants Freiheitsbegriff im zweiten und dritten Kapitel einer genaueren Diskussion unterzogen wird, will ich hier nachvollziehen, was sich für den Zusammenhang von Freiheit und Urheberschaft in Bezug auf Zurechnung ergibt.
Erstens wird ersichtlich, dass der Freiheitsbegriff mit der Idee der Urheberschaft vereinbar sein bzw. diesen sogar ermöglichen soll. Zweitens muss die Freiheit der Person erlauben, dass die Handlungen der Person unter (moralischen) Gesetzen stehen. Der erste Punkt macht deutlich, dass die Bezeichnung der Person als freie Ursache implizieren sollte, dass der Verweis auf die Person bzw. ihre Entscheidung ausreicht, um die Handlung zu erklären und nach weiteren Ursachen nicht mehr sinnvoll gefragt werden kann. Diese Überlegung zeigt, dass sich die Konzeption von Erstursächlichkeit anbietet, um Freiheit mit Urheberschaft zu verknüpfen und als Grundlage der Zurechnung zu verwenden.
Der zweite Punkt weist darauf hin, dass die Person in der Weise frei sein muss, dass sie geeignete Adressatin der vernünftigen bzw. moralischen Gesetze ist, nach denen eine zurechenbare Handlung bewertet werden kann. Dieser Zusammenhang wird im 2. Kapitel genauer untersucht. Festzuhalten ist hier, dass ein Subjekt nach Kant nur dann frei ist, wenn es unter Normen steht, die es sich selbst gegeben hat bzw. als seine eigenen anerkennt. Doch die Freiheitsbedingung in der Definition der Zurechnung verweist noch auf einen weiteren Umstand, der erfüllt sein muss, damit eine Handlung zurechenbar ist: Das Subjekt wird als „causa libera“ einer bestimmten Handlung angesehen. Das heißt, dass das Subjekt nicht nur im allgemeinen einen freien Willen besitzen, sondern dass es auch in Bezug auf die konkrete Handlung eine freie Ursache sein muss. Die Person muss in Bezug auf die Handlung, deren Zu...