Einführung, Termini, morphologische Einheiten
Die Morphologie (gr. morphos ‘Gestalt’, logos ‘Lehre’) ist die Lehre von den Gestalten, Formen und ihren Organisationsprinzipien und bezieht sich in dieser Bedeutung zunächst auf den Bau lebender Organismen, dann auch auf Oberflächenformen der Erde. Der stark von darwinistischem Gedankengut beeinflusste Sprachwissenschaftler August Schleicher bezog den Begriff 1859 auf den Bau der Wörter. In diesem Zusammenhang konnte J. Baudouin de Courtenay Ende des 19. Jahrhunderts das Morphem als Oberbegriff verwenden statt der zuvor üblichen Formelemente wie Endung oder Stamm. Leonhard Bloomfield schließlich versuchte sich mit einer ersten Definition. „A linguistic form which bears no partial phonetic-semantic resemblance to any other form, is a simple form or morpheme” (Bloomfield 1933: 161). Heute gilt in der Regel das Morphem als kleinste bedeutungstragende Einheit einer Sprache, parallel zum Phonem auf der Lautebene als der kleinsten bedeutungsunterscheidenden Einheit einer Sprache. Geschweifte Klammern dienen der Kennzeichnung von Morphemen, wenn sie von anderen Einheiten, etwa Lauten, Silben oder Wörtern, abgegrenzt werden sollen. Auf den Begriff des Morphs als kleinstes, aber nicht klassifiziertes bedeutungstragendes Element wird hier verzichtet, weil er zu theoriegebunden ist. Die Morphologie ist diejenige Teildisziplin der Linguistik, die sich mit dem inneren Aufbau der Wörter in ihrem systematischen Zusammenhang befasst, also mit Flexion und Wortbildung. Sie untersucht Vorkommen, Formen und Kombinationen der Morpheme einer Sprache oder sprachübergreifend. Diese Begriffe und Definitionen gehören zum strukturalistischen Gedankengut, das noch heute die Vorgehensweise bei sprachlichen Analysen beeinflusst und zu einer Mehrfachkodierung der Einheiten führte. Denn was traditionell ein Laut oder eine Endung war, wurde definitorisch präzisiert zu Phonem oder Affix.
Im Zentrum der Morphologie steht das Wort, ein Begriff übrigens, der sich einer allgemein anerkannten Definition entzieht, hier verstanden als formal selbständiges Element, im Satz beweglich, mit eigener Bedeutung, zu komplexeren solcher Elemente verbindbar. Zu der strukturalistischen Betrachtungsweise, die eine Einheit, ob Satz oder Wort, als in sich geschlossenes strukturiertes Ganzes versteht, das analytisch in elementare Einzelteile zerlegt werden kann, gehört auch die Verbildlichung dieser Struktur durch vorwiegend binär (zweiteilig) verzweigende Strukturbäume, z.B. bei dem Wort glücklich, das sich in die Morpheme {glück} und {-lich} gliedern lässt.
Die Einheiten, die sich Schritt für Schritt ergeben, sind die unmittelbaren Konstituenten, die in unserem Beispiel identisch sind mit den Morphemen {glück} und {-lich}. Der Strukturbaum versinnbildlicht einerseits die Schritte der Entstehung des Wortes, andererseits repräsentiert bzw. beschreibt er die Struktur als Ergebnis der Entwicklung. Wie wichtig das ist, sehen wir erst bei komplizierteren Beispielen wie
Hier zeigt sich, dass die unmittelbare Konstituente überprüfbar durch die unmittelbare Konstituente {-keit}, in diesem Fall wieder ein Morphem, abgeleitet wird. Dann folgt im nächsten Schritt die Ableitung der unmittelbaren Konstituente überprüf durch {-bar}. Solch ein Strukturbaum oder eine ihm vergleichbare Darstellung, beispielsweise mit indizierten Klammern
bildet einen wesentlichen Teil der morphologischen Analyse eines Wortes. Genauso wichtig ist die Charakterisierung der Morphemtypen. Wir unterscheiden einerseits f r e i e von g e b u n d e n e n Morphemen. Die freien können auch in Isolation vorkommen, vgl. {glück, über, frau, tür, sie, ihm, weil}, die gebundenen hingegen nicht. Sie sind vielfach platzfest, z.B. {-bar, -keit, ver-, ge-}. Eine andere Aufteilung bezieht sich auf die Bedeutung der Morpheme. Sie sind entweder allein sinntragend bzw. l e x i k a l i s c h und beziehen sich auf Gegenstände und Sachverhalte etc. wie {glück, tür, frau, prüf-}. Oder sie sind g r a m m a t i s c h und versprachlichen Beziehungen zwischen lexikalischen Elementen oder Bedeutungsänderungen an einem Lexem, z.B. {in, ihm, und, -bar, -keit, ver-, -e}. Bei der Analyse sind die Morpheme nach diesen beiden Aspekten zu bestimmen, sodass sich eine Kreuzklassifikation ergibt. {glück} ist ein freies lexikalisches Morphem, {weil} ist ein freies grammatisches Morphem, {ver-} ist ein gebundenes grammatisches Morphem und {prüf-} ist ein gebundenes lexikalisches Morphem. Im letzten Fall gab es in der Vergangenheit Diskussionen, weil prüf! in der Befehlsform existiert. Da aber viele Verben im Imperativ eine Formveränderung zeigen (sprich!, gib!, atme!, sammle!), wird für alle Verben ein gebundenes lexikalisches Morphem angesetzt, um eine Aufteilung in gebundene und freie Verbwurzeln zu verhindern. Hier ist die Einheitlichkeit bei der Analyse ausschlaggebend.
Bild 1: Morphemtypen
Mit dem Begriff der Wurzel kommen wir zum nächsten Unterscheidungsaspekt. Viele Wörter lassen sich morphologisch nicht weiter zerlegen, etwa Glück, Schuh, Haus. Deswegen heißen sie S i m p l i z i a (im Singular Simplex). Sie sind gleichzeitig auch freie Morpheme und gehen historisch auf eine, in der Regel rekonstruierte, Ausgangsform zurück, die als Wurzel bezeichnet wird. Der Begriff Wurzel als morphologische Einheit verbindet diesen geschichtlichen Aspekt mit der Tatsache, dass sich das Morphem nicht weiter zerlegen lässt und damit auch die Wurzel des Wortes ist. Wenn der zweite Aspekt im Vordergrund steht, finden sich auch Begriffe wie Stamm oder Basis- bzw. G r u n d m o r p h e m. Aber Achtung! Als Stamm wird genauso oft die Wurzel selbst wie auch der Wortrest ohne die gerade abgezweigte Endung verstanden, etwa überprüfbar zu Überprüfbarkeit. In diesem Band wird S t a m m / B a s i s verwendet für ein Morphem oder eine Morphemkonstruktion, die durch ein Morphem erweiterbar ist. Als Wortstämme gelten daher sowohl gebundene (gib-st, Graph-ie) und freie Morpheme (Schuh-e, Glück-s, glück-lich) als auch Morphemkonstruktionen (Hausschuh-e, glücklich-er). In dem Wort glücklicher ist {glück} die Wurzel, sie ist morphologisch nicht weiter zerlegbar, und glücklich die Basis/der Stamm, an die das Suffix {-er} gehängt wird.
Eine W u r z e l ist sowohl ein lexikalisches Grundmorphem, also nach Tilgung aller Affixe oder anderer Grundmorpheme, als auch historisch gesehen die Ausgangsform. Ein Grundmorphem ist typischerweise lexikalisch. Freie grammatische Morpheme wie von oder in werden in den Lehrbüchern nicht dazu gezählt. Sie bilden zwar in sehr wenigen Fällen auch Komposita (Vormittag, Untertasse, Weil-Satz) und verhalten sich dann wie Grundmorpheme, aber sie kommen nur als bestimmende, nicht als bestimmte Komponente vor und sind damit auch nicht der Wortbildungskern, sodass hier rein semantisch auch kein „Grund“morphem vorliegt. Ein komplexes Wort baut in der Regel auf einem lexikalischen Grundmorphem bzw. einer Wurzel auf.
Aus heutiger Sicht sind manche ursprünglich komplexe Einheiten nicht mehr als solche erkennbar. Auch Formen, die zwar vielleicht einmal erweiterte Wurzeln waren, heute aber aussehen wie ein Simplex wie Kind, fassen wir synchron als Wurzeln auf. Manche Wurzeln kommen nur gebunden vor {werf-}. Eine Wurzel ist gleichzeitig ein Stamm beim letzten Analyseschritt wie bei dem Wort Überprüfbarkeit {prüf-}. Die Termini Wurzel und Grundmorphem können bei der morphologischen Analyse ausgetauscht werden. Allerdings hat der Begriff Wurzel in der Wortgeschichtsforschung eine eigene Bedeutung.
Demgegenüber sind Affixe unselbstständige, positionsgebundene, reihenbildende Wortbildungs- und Wortformbildungseinheiten wie {ver-, -ung, -lich, -s}, die an eine Wurzel bzw. Stamm gehängt werden. Sie werden nicht abgeleitet. Im Gegensatz zu den Grundmorphemen haben sie weniger lexikalische als grammatisch-relationale Bedeutung, obwohl einzelne von ihnen mit charakteristischen Inhalten verbindbar sind, so -chen ‘klein’ (Kindchen, Pröbchen) oder -er ‘Person’ (Denker, Turner). Daher ist die inhaltliche Bestimmung sekundär gegenüber der rein strukturellen. Die Termini Affix und Grudann handelt es sich um einndmorphem stammen aus dem Strukturalismus, davor wurden Begriffe wie Endung oder Wurzel verwendet, die weniger präzise sind. Denn analog zu Affix unterscheiden wir je nach Position u.a. P r ä f i x (vorne angehängt), S u f f i x (hinten) und Z i r k u m f i x (beides, auch diskontinuierliches Morphem genannt). I n f i x e, die in einen Stamm eingefügt werden, gibt es im Deutschen nicht, im Lateinischen haben wir convalēre ‘gesund sein’, convalēscere ‘gesund werden’. Ein I n t e r f i x tritt zwischen zwei Stämme. Eine andere Unterscheidung bezieht sich darauf, ob das Affix die Wortform ändert, dann handelt es sich um ein F l e x i o n s a f f i x oder F l e x i v (Kind-er, turn-t), oder ein neues Wort bildet, dann ist es ein D e r i v a t i o n s a f f i x (kindlich, Turn-er). {-er} in Kinder ist ein Flexionssuffix, grammatisc...