Teil 2_UnterstĂŒtzungssysteme: Praxis und Ableitungen
Von der Hilfsschule zum regionalen sonderpÀdagogischen Förderzentrum
Lars Krackert, Eike Fischer
Einleitung
Im Sommer 2007 beschloss die Schulkonferenz der Pestalozzischule Schleswig, kĂŒnftig keine SchĂŒler*innen mehr neu in der Stammschule aufzunehmen. Alle Kinder und Jugendlichen, bei denen ein sonderpĂ€dagogischer Förderbedarf neu festgestellt werden sollte oder die mit einem solchen nach Schleswig und Umgebung zogen, sollten integrativ beschult werden. Dieser Schulkonferenzbeschluss wurde in den folgenden Jahren konsequent umgesetzt. Gleichzeitig wurde den SchĂŒler*innen, die die Stammschule noch besuchten, die Wahl gelassen, ihre Schulzeit an der Schule zu beenden oder schon vorher in eine Grund- oder Hauptschule zu wechseln. Dieser Prozess erstreckte sich ĂŒber einen Zeitraum von sechs Jahren. Im Sommer 2013 verlieĂen die letzten SchĂŒler*innen die Stammschule. Seit diesem Zeitpunkt wurden alle Kinder und Jugendlichen mit einem sonderpĂ€dagogischen Förderbedarf in einer der 23 Kooperationsschulen unterrichtet. Das Förderzentrum Schleswig-Kropp â wie die Pestalozzischule seit der Fusion mit dem Förderzentrum Kropp im Jahr 2009 heiĂt â ist eine Schule ohne SchĂŒler*innen im eigenen Haus.
Dieser Entscheidung ging eine fast hundertjĂ€hrige Geschichte als separate Sonderschule voraus. Am 1. Oktober 1913 wurde die Hilfsschule der Stadt Schleswig gegrĂŒndet. Damals besuchten rund 50 Kinder die neue Schule, die sich zum Ziel gesetzt hatte, jene zu fördern, die die in der Volksschule geforderten Leistungen nicht zeigen konnten. Nach einer kurzen Pause wĂ€hrend des Zweiten Weltkriegs entstand 1949 die Pestalozzischule Schleswig, die im Laufe der folgenden Jahre in unterschiedlichen GebĂ€uden der Stadt Schleswig untergebracht war. UnabhĂ€ngig vom Bauwerk aber war die pĂ€dagogische Idee in dieser Zeit die gleiche: Die SchĂŒler*innen wurden aus ihren Klassen und Schulen in Schleswig und den umliegenden Gemeinden herausgeholt, um gemeinsam in Schleswig in speziellen Klassen unterrichtet zu werden. Die BegrĂŒndung hierfĂŒr lag in der Entlastung der Volksschulen und der Annahme, dass Kinder und Jugendliche in homogenen Lerngruppen optimal gefördert werden könnten.
Dies Ă€nderte sich zu Beginn der 1990er-Jahre. Nachdem in Hamburg etwa zehn Jahre zuvor die ersten Integrationsklassen an Grundschulen aufgrund der BemĂŒhungen von Elterninitiativen starteten (Wocken 1987) und auch auf politischer Ebene durch die Salamanca-ErklĂ€rung der gemeinsame Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen in den Blick geriet (UNESCO 1994), gab es im Kollegium der Pestalozzischule Schleswig ebenfalls Diskussionen, ob und an welchen Schulen solche Klassen eingerichtet werden könnten.
Im Verlauf der folgenden Jahre entwickelten sich innerhalb der Pestalozzischule Schleswig zwei »Abteilungen«. Die Zahl der Schulen, die sich dem Gedanken der Integration öffneten und wohnortnah SchĂŒler*innen mit den sonderpĂ€dagogischen Förderbedarfen Lernen, Sprache und Emotionale und soziale Entwicklung beschulten, wuchs stetig. DemgegenĂŒber stand die »Stammschule«, in der all die Kinder und Jugendlichen unterrichtet wurden, von denen man annahm, dass sie im integrativen Unterricht nicht optimal gefördert werden könnten, da ihr Lerntempo und -verhalten oder ihre emotionale und soziale Entwicklung zu weit von den Möglichkeiten der Grund- oder Hauptschule entfernt seien. Ihre Zahl sank, da Eltern vermehrt keine Beschulung mehr in der Stammschule wĂŒnschten und sich parallel dazu die pĂ€dagogischen Rahmenbedingungen an den Kooperationsschulen der Pestalozzischule Schleswig verĂ€nderten, um der gewachsenen HeterogenitĂ€t der SchĂŒlerschaft gerecht zu werden. Dies hatte zur Folge, dass insbesondere SchĂŒler*innen mit herausfordernden Verhaltensweisen die Stammschule besuchten. Ihnen fehlten aber positive Vorbilder, an denen sie sich orientieren konnten.
Die Entscheidung, Schule ohne SchĂŒler*innen zu werden, wurde vor dem Hintergrund dieser verschiedenen Entwicklungen getroffen â und bildet die Grundlage fĂŒr die pĂ€dagogische Arbeit des Förderzentrums Schleswig-Kropp.
Wie arbeitet ein Förderzentrum ohne SchĂŒler*innen im eigenen Haus? Arbeit mit den SchĂŒler*innen und LehrkrĂ€ften an den Kooperationsschulen
FĂŒr eine erfolgreiche UnterstĂŒtzung der Kooperationsschulen ist es zunĂ€chst wichtig, die Organisationsstruktur und Arbeitsweise eines solchen Förderzentrums nĂ€her in den Blick zu nehmen. In Schleswig-Holstein bestehen die Förderzentren als eigenstĂ€ndige Einheiten in Bezug auf die Verwaltung von Ressourcen (LehrkrĂ€fte, Sachmittel) und (sonder-)pĂ€dagogische Konzepte in der Regel weiter. Die SonderschullehrkrĂ€fte sind auch weiterhin an die Förderzentren angegliedert. Ein groĂes Kollegium bietet den Vorteil, dass förderzentrumsintern Kompetenzen weitergegeben und so besser genutzt werden können. FĂŒr die Wahrnehmung der Interessen von SchĂŒler*innen mit sonderpĂ€dagogischem Förderbedarf an Regelschulen und den LehrkrĂ€ften, die diese unterstĂŒtzen, bedarf es einer Schulleitung mit sonderpĂ€dagogischem Hintergrund. So wird ein Interessenkonflikt mit den BedĂŒrfnissen des allgemeinen Systems (z. B. Abstellung von LehrkrĂ€ften aus der Doppelbesetzung zum Vertretungsunterricht) reduziert.
Die Arbeit der LehrkrĂ€fte ist darauf ausgerichtet, die SchĂŒler*innen an den Grund- und Gemeinschaftsschulen vor Ort zu unterstĂŒtzen. In der Praxis sieht es so aus, dass das Personal des Förderzentrums an ein oder zwei Kooperationsschulen arbeitet und damit erste Ansprechpartner*innen fĂŒr LehrkrĂ€fte, SchĂŒler*innen und Eltern sind. Bei Fragen, die zunĂ€chst nicht beantwortet werden (können), stehen Schulleitung und die anderen LehrkrĂ€fte des Förderzentrums zur weiteren Beratung zur VerfĂŒgung, sodass eine breite sonderpĂ€dagogische Expertise genutzt werden kann.
Das regionale Förderzentrum versteht sich als UnterstĂŒtzungssystem der Grund- und Gemeinschaftsschulen. Es lassen sich fĂŒnf Arbeitsfelder beschreiben:
âgemeinsamer Unterricht
âsonderpĂ€dagogische Diagnostik und Förderung
âprĂ€ventive Förderung
âBeratung
âspezifische Förderangebote
Abbildung 1: FĂŒnf Arbeitsbereiche des Förderzentrums Schleswig-Kropp
Quelle: Förderzentrum Schleswig-Kropp
Wie Abbildung 1 zeigt, steht im Zentrum der gemeinsame Unterricht. GrundsĂ€tzlich werden alle SchĂŒler*innen gemeinsam unterrichtet. Das bedeutet natĂŒrlich nicht, dass alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt am selben Thema auf die gleiche Weise arbeiten, sondern dass ausgehend vom individuellen Leistungs- und Entwicklungsstand Lerngegenstand und -arrangement ausgewĂ€hlt werden mĂŒssen. Vom individuellen Arbeitsplan ĂŒber phasenweise Kleingruppenarbeit bis zum Unterricht im gesamten Klassenverband ist alles möglich. FĂŒr die Ausgestaltung des Unterrichts bedarf es einer engen Kooperation der beteiligten LehrkrĂ€fte.
»Was, das kann ich alles?« Seit dem letzten FörderplangesprĂ€ch ist Dennisâ Förderplan enorm gewachsen. Er ist völlig perplex. Das Lob scheint ihm ein bisschen peinlich zu sein, doch der Blick zu seinem Vater und seinen beiden LehrkrĂ€ften verrĂ€t auch Stolz. Dennis wird im inklusiven Unterricht in einer Gemeinschaftsschule beschult und besucht die 6. Klasse.
Stockend liest Dennis einen Absatz vor: »Bei den Bundesjugendspielen erreichte er in seinem Jahrgang das beste Weitsprungergebnis. â Aber das ist doch gar nicht wichtig âŠÂ« Die Klassenlehrkraft widerspricht: »Na klar ist das wichtig! Mit deiner Sprungtechnik bist du zum Beispiel fĂŒr Jonas ein so gutes Vorbild, dass er seine eigene Technik verbessern konnte. Darauf kannst du wirklich stolz sein!«
Dennis ist ein Beispiel fĂŒr einen SchĂŒler, der herausragende Leistungen im Fach Sport erbracht hat. Alexandra beispielsweise ist trotz ihres sonderpĂ€dagogischen Förderbedarfs mit dem Förderschwerpunkt Lernen sprachlich sehr begabt. Wenn es um Definitionen und ErklĂ€rungen geht, wenden sich ihre MitschĂŒler*innen in der 7. Klasse als Erstes an sie.
Die Evaluationsergebnisse der Befragung unserer Kooperationsschulen zeigen, dass der GroĂteil unserer Kooperationspartner*innen die individuelle kompetenzorientierte Bewertung und RĂŒckmeldung seitens der SonderschullehrkrĂ€fte wahrnehmen und rĂŒckmelden. So geben 94 Prozent der Befragten beispielsweise an, dass die Sonderschullehrkraft die Lernenden nach individuellen MaĂstĂ€ben beurteilt.
So unterschiedlich wie unsere SchĂŒler*innen sind auch ihre Leistungen und Begabungen. Daher begleiten wir die Lernenden mithilfe von individueller sonderpĂ€dagogischer Förderplanarbeit und unterstĂŒtzen die Kolleg*innen der Regelschule prĂ€ventiv bei der Lernplanerstellung und -fortschreibung. Das beinhaltet kompetenzorientiertes Fördern und damit auch Fordern, gestĂŒtzt durch Förderplan- bzw. LernplangesprĂ€che in Zusammenarbeit mit den RegelschullehrkrĂ€ften, Eltern und Lerncoaching mit den Kindern und Jugendlichen.
Da die Lernenden nur noch im gemeinsamen Unterricht beschult werden, hat sich seit 2011 die Zahl derjenigen kontinuierlich erhöht, die den ersten allgemeinbildenden Schulabschluss im Rahmen ihrer allgemeinen Schulpflicht erreichen konnten. Dies wÀre in einem separierenden System nicht möglich gewesen.
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