1. Zeitreisen
LĂ€ngst vergangene Zeiten bestimmen auch heute noch unser Leben, unsere Sprache, unsere Kultur und unsere Sicht auf die Welt. Wem die Gegenwart unserer saturierten Wohlstandsgesellschaft missfĂ€llt oder zu öde erscheint, findet in der Vergangenheit Fluchtpunkte, die zumindest zeitweise Erlösung vom Stress und den Fesseln moderner Zeiten erlauben. Besonders das Mittelalter erfreut sich gröĂter Beliebtheit zur temporĂ€ren Sanierung von Körper und Geist.
Das mittlere Zeitalter
Das Mittelalter ist die lange (um genau zu sein: 1000 Jahre lange) BrĂŒcke zwischen der Antike und der Neuzeit. Grob datiert wird der Beginn dieses Zeitalters auf das Jahr 500 nach Christi Geburt. Mit dem Ende des Römischen Reichs als jahrhundertelangem Hort der Macht und Quelle des Fortschritts in Europa zerfielen seine ehemaligen Territorien in viele kleine feudale Strukturen. Eintausend Jahre lang entwickelten sich Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft in Mitteleuropa nur noch sehr langsam weiter. Das Leben unter der Knute des Klerus und des Adels gerann in totaler Entschleunigung und gewĂ€hrte nur sehr wenigen Menschen Freiheit, Bildung und Wohlstand.
Der Audienzsaal des Papstpalasts in Avignon. Hier residierten PĂ€pste und GegenpĂ€pste von 1335 bis 1430 â einer unfehlbarer als der andere.
24 mm | f/11 | 0,5 s | ISO 100
Um das Jahr 1500 herum geriet diese fest gefĂŒgte Ordnung durch Ereignisse ins Wanken, die das Mittelalter jĂ€h beendeten. Die Erfindung des Buchdrucks und damit die Verbreitung von Wissen und Information ĂŒber eine kleine Kaste Privilegierter hinaus ermöglichte erst das Zeitalter der AufklĂ€rung. Die Reformation beendete die jahrhundertelange UnterdrĂŒckung durch die Kollaboration der katholischen Kirche und der weltlichen MĂ€chte. Das Aufkommen der Feuerwaffen beendete die BlĂŒtezeit der Ritter, deren RĂŒstung zwar noch etwas Schutz gegen fliegende Kugeln bot, deren Schwerter aber der Reichweite der neuen Waffen hoffnungslos unterlegen waren. Die Entdeckung Amerikas im Jahr 1492 öffnete letztlich die engen Horizonte und löste die geronnene Zeit. Eine neue Ăra begann: die Neuzeit. Unsere Zeit.
Expertise
Das vorliegende Buch ist kein Geschichtsbuch. Der Autor ist kein Geschichtslehrer. Der Autor behauptet nicht einmal, ĂŒber besonders tief greifende Kenntnisse ĂŒber das Mittelalter zu verfĂŒgen. Jeder versierte Historiker und Hardcore-Reenactor wird sowohl in diesem Text als auch in vielen Fotos historische Fehler und Schwachstellen finden. Es geht in diesem Werk aber auch gar nicht um historische Akkuratesse, sondern um Anleitungen und Tipps zum Fotografieren. Es geht um SpaĂ am kreativen Tun. Es geht hier nicht um Bildung, sondern um Bilder!
Ăberall in Deutschland findet man â neben allerlei Brauchtum â GebĂ€ude und Anlagen aus dem Mittelalter, die ĂŒber die Jahrhunderte erhalten blieben und den Grundstock unseres kulturellen Erbes bilden: Burgen und Schlösser, Klöster und Kirchen, Stadtmauern und Stadtkerne, Brunnen, TĂŒrme, GrĂ€ben und viele andere steinerne Zeugen der Vergangenheit.
Auch einige sehr beeindruckende Lebewesen, die aus den Tiefen des Mittelalters stammen, haben bis heute ĂŒberlebt: BĂ€ume, die seit Jahrhunderten existieren und schon zu Zeiten der Ritter so groĂ und beeindruckend oder kulturell so bedeutsam waren, dass sie nicht gefĂ€llt wurden und den Holzhunger der damaligen Zeit ĂŒberlebten.
Lebende und tote Relikte des Mittelalters bieten einen unerschöpflichen Fundus ebenso interessanter wie oft auch grandioser Bildmotive. Genauso spannend und vielfÀltig sind die vielen Mittelalterveranstaltungen, in denen das vermeintlich dunkle Zeitalter zu buntem Leben reanimiert wird.
Die RĂŒckkehr der Ritter
Seit etwa einem Vierteljahrhundert erlebt das Mittelalter ein erstaunliches Revival â nicht gemeint ist dabei das Comeback von dumpfen StandesdĂŒnkeln und repressiver Moral (die gibt es nur bei den sich besonders fortschrittlich wĂ€hnenden deutschen Gutmenschen). Als Kontrapunkt zum Stakkato technischer und politischer VerĂ€nderungen in der Gegenwart entdecken viele moderne Menschen das einfache, ĂŒbersichtlich geordnete Leben im Einklang mit der Natur in der Vergangenheit als Quelle geistiger Erholung und körperlicher ErtĂŒchtigung.
Ritter Leopold von den »Löwenrittern« reitet ein.
24 mm | f/9 | 1/640 s | ISO 200 | App: VintageScene
Mit wachsendem Zulauf und Erfolg beim Publikum finden seither das ganze Jahr ĂŒber MittelaltermĂ€rkte, Ritterspiele, Keltenfeste und Ă€hnliche Spektakel in ganz Deutschland statt. Hier bieten HĂ€ndler ihre oft selbst hergestellten Waren an. Mittelalterlich Gewandete flanieren ĂŒber die MĂ€rkte und wohnen derweil in Heerlagern rings um den Veranstaltungsort. Ritter verschiedener Epochen treten zu SchaukĂ€mpfen gegeneinander an oder duellieren sich ganz real im sportlichen Vollkontaktwettkampf. Gaukler amĂŒsieren die Besucher. Musiker spielen mittelalterliche Instrumente und hauen dabei auch mal ordentlich auf die Pauke. Es wird geköchelt und gegrillt und getrunken und getanzt. Auf diesen Spektakeln ist selten historische AuthentizitĂ€t gefragt, stattdessen bieten solche Veranstaltungen tolle Fotomotive in HĂŒlle und FĂŒlle.
Schmelztiegel der Geschichte
Kommerzielle MittelaltermĂ€rkte sind ein Sammelsurium alter Völker, Kulturen und vergangener Epochen. Zwar gibt es auch Veranstaltungen, die gröĂten Wert auf eine realistische Darstellung des Gewesenen legen, doch diese haben eher musealen Charakter oder werden von Gruppen zelebriert, die weniger Wert auf Publikumszulauf und Umsatz legen als auf durch Bilder und archĂ€ologische Erkenntnisse fundierte Ausstattung. Die meisten Veranstaltungen gehören eher in den Bereich des »Histotainment«. Das Mittelalter ist lĂ€ngst zu einem prosperierenden Wirtschaftszweig geworden.
Mittelalterfans erweitern ihr altes Ego um ein historisches Alter Ego. Die meisten suchen sich dazu eine bestimmte Rolle aus â die Darstellung einer meist erfundenen Person, manchmal aber auch eines ehedem real existierenden Menschen. Sie kleiden sich möglichst entsprechend dem historisch belegten Habitus ihres mittelalterlichen Vorbilds und geben sich einen Mittelalternamen, unter dem sie auftreten und in der Szene bekannt sind. Viele finden sich in Gruppen zusammen, die sich ein bestimmtes Zeitalter, eine bestimmte Volksgruppe oder ein bestimmtes Thema zurechtlegen und gemeinsam wiederauferstehen lassen.
Teile einer RitterrĂŒstung aus dem 14. Jahrhundert: ein Gambeson (Schutzbekleidung, meist unter dem Kettenhemd getragen), Handschuhe und ein »Hundsgugel« genannter Helm. Das Schwert ist einem Vorbild aus dem 15. Jahrhundert nachempfunden.
85 mm | f/11 | 1/400 s | ISO 200
Dabei gibt es unterschiedliche Strömungen und Tendenzen innerhalb der Mittelalterszene. Die einen legen gröĂten Wert auf eine historische exakte PrĂ€sentation und fertigen nach Möglichkeit alle Teile ihrer RĂŒstung oder Gewandung selbst nach belegbaren Vorbildern. Die meisten aber nehmen es etwas weniger genau und mischen auch mal â ganz nach Lust, Laune und Geldbeutel â Epochen, Völker und StĂ€nde durcheinander.
AuĂerdem gibt es natĂŒrlich diejenigen Mittelalterfans, die sich eher nur dem SpaĂ und vielleicht auch dem Trunke ergeben wollen, sich einen auf dem Markt erstandenen historisierenden Kittel undefinierter Provenienz ĂŒberziehen, ein Schwert umschnallen und losziehen, ohne sich groĂ um die Geschichte zu kĂŒmmern. Und schlussendlich findet man auch auf MittelaltermĂ€rkten Fantasyfans, deren Darstellung eher auf Comic- und Filmfiguren basiert als auf realistischen Vorbildern.
Toleranz
In der Mittelalterszene werden fast alle Strömungen und Darstellungen nebeneinander toleriert. Tempelritter trinken mit keltischen Heiden, orientalische TĂ€nzerinnen palavern mit adeligen Jungfrauen, Ritter in schweren RĂŒstungen lachen mit einfachen Recken, die im Mittelalter wohl nicht einmal zum Pagen getaugt hĂ€tten. Adelige und Bauern unterscheiden sich hier in der Regel nur in ihren finanziellen Möglichkeiten oder der inneren Bereitschaft zur Investition in ihre mittelalterliche Ausstattung.
Emanzipation im Mittelalter: Schwertkampftraining der Damen.
17 mm | f/11 | 1/160 s | ISO 200
In einer Zeit, in der MĂ€nner noch echte Kerle waren, waren Frauen in der Ăffentlichkeit eher zur unterwuÌrfigen ZuruÌckhaltung gezwungen. GluÌcklicherweise sind die meisten Weibsbilder in der modernen Mittelalterszene natuÌrlich emanzipierte, selbstbewusste Frauen, die selbst mit dem Schwerte rasseln und sich von keinem Kerl sagen lassen, wo es langgehen soll.
Erdig
Die Protagonisten des modernen Mittelalters lieben es eher bodenstĂ€ndig. In den Heerlagern und auf den MĂ€rkten trĂ€gt man Schwerter statt Smartphones. MĂ€nner tragen Kettenhemden statt Krawatten, Frauen Holzschuhe statt Pumps. Die Mittelalterszene ist nichts fĂŒr Stubenhocker, PC-Junkies und Nageldesign-Trullas.
Das gilt auch fuÌr die zahlreichen Kinder, die ihre Eltern in die gegenwĂ€rtige Vergangenheit begleiten. Die Kids spielen gluÌcklich auf der blanken Erde, oft mit Holzspielzeug und ganz ohne Fernseher und Computer (zumindest nicht im Lager). Es gibt keine Autos â hier wird noch richtig gelaufen! Abends gehtâs bei einbrechender Dunkelheit ins Bett. Die Eltern hocken dann nicht vor dem Plasma-TV, sondern am Lagerfeuer, fuÌhren GesprĂ€che in frischer Luft oder genieĂen schweigend den Abend unter freiem Himmel â ganz ohne Handygebimmel und Werbejingles.
Obacht!
Die Mittelalterszene hat â wie jede Szene â eigene Begriffe und Redewendungen hervorgebracht; das reicht bis hin zu einer eigenen Sprache, dem sogenannten »Marktsprech«.
Vorab sei darauf hingewiesen, dass die historischen Vorbildern nachempfundene Kleidung der Mittelalterfans stets »Gewandung« genannt wird. Wer die Gewandung ein »KostĂŒm« schimpft, lĂ€uft Gefahr, umgehend mit dem Schwert tranchiert zu werden! AuĂerdem »campiert« man nicht in einer Burg oder einem Heerlager â man lagert.
ZurĂŒck in die Vergangenheit?
Wer nun allerdings annimmt, Mittelalterfans wÀren reaktionÀr oder altbacken, liegt völlig falsch. Ich kenne keinen Mittelalterprotagonisten, der sein durchschnittlich sicheres Leben in der Jetztzeit dauerhaft eintauschen wollte gegen eine normale durchschnittliche Existenz zur damaligen Zeit (»König« oder »Prinzessin« zÀhlen wir dabei nicht zur normalen durchschnittlichen Existenz).
Im Mittelalter gab es Bildung, Wohlstand und persönliche Freiheit nur fĂŒr sehr wenige Privilegierte. Alle anderen lebten in völliger AbhĂ€ngigkeit von ihren Herrschern in einem fortwĂ€hrenden Ăberlebenskampf und starben meist sehr frĂŒh. Viele Kinder erlebten ihren fĂŒnften Geburtstag nicht, die Eltern hatten eine Lebenserwartung von etwa 35 Jahren. Hygiene, medizinische Behandlung, Schulen und vieles andere, das wir heute als SelbstverstĂ€ndlichkeit ansehen, waren nicht existent oder zumindest sehr selten. Errungenschaften der Neuzeit wie persönliche Freiheit, Reisefreiheit, gar Urlaub, Versicherungen oder eine Rente gab es nicht einmal ansatzweise. Strom, Motoren und die meisten anderen Dinge, ohne die uns ein Leben heute kaum noch realisierbar erscheint, wurden erst Jahrhunderte nach dem Ende des mittleren Zeitalters erfunden.
Werkzeuge der Knochenflicker. Chirurgen waren im Mittelalter noch einfache Handwerker, sterile Instrumente ebenso unbekannt wie die Narkose.
34 mm | f/9 | 1/500 s | ...