II
DAS FIXSTERNVERZEICHNIS IN DER „PERSISCHEN SYNTAXIS“ DES GEORGIOS CHRYSOKOKKES
In der Kulturgeschichte ist bekannt, welche bedeutende Rolle der islamisch-arabische Kulturkreis bei der Überlieferung antiken Wissens an das moderne Europa einst spielte. Zeugen für diesen Traditionsvorgang wie auch für die eigenen Leistungen des Orients bilden die zahlreichen mittelalterlichen europäischen Werke vieler Disziplinen, die teils aus dem Arabischen übersetzt, teils aus arabischen Vorlagen kompiliert sind. Sie enthalten meist nicht nur das übernommene Wissen, sondern auch Wörter, termini und Namen aus der orientalischen Originalsprache.
Von solchen Werken sind vor allem diejenigen der westeuropäischen lateinischen Überlieferung bekannt, da sie im Traditionskontinuum einen zentralen Platz einnahmen und jahrhundertelang weiterwirkten.
Die wissenschaftliche Literatur der Byzantiner blieb demgegenüber im westlichen Europa lange Zeit unbekannt und hatte an dem großen Traditionsprozeß so gut wie keinen Anteil. So hat ihr auch die Forschung bis heute entsprechend weniger Aufmerksamkeit zugewandt.1 Auch in der mittelgriechischen Literatur gibt es indessen Texte, die, ähnlich den zahlreichen lateinisch-westeuropäischen Werken, Elemente orientalischer Herkunft aufweisen. In der astronomischen Nomenklatur zeigen sich solche Einflüsse bei Mondstationen,2 Planeten,3 Unwettersternen,4 Fixsternen und natürlich in der Fachterminologie.
Eines dieser auf orientalischen Vorlagen beruhenden mittelgriechischcn astronomischen Werke ist die
des Georgios Chrysokokkes. Darin ist ein Fixsternverzeichnis mitenthalten, das im folgenden besprochen werden soll.
5 Alles bisher Bekannte über Chrysokokkes hat U. Lampsides zusammengestellt,
6 der auch zahlreiche Handschriften aufführt, die nach Katalogangaben die'
enthalten. Über den Gesamtinhalt und die textgeschichtlichen Zusammenhänge der ’E
berichtet zuletzt ausführlich D. Pingree in seinem Aufsatz über „Palaeologan Astronomy”.
7 An dieser Stelle soll jetzt nur von dem Fixsternverzeichnis gehandelt werden.
Dieses Sternverzeichnis erschien zum erstenmal gedruckt 1645 in Paris;8 der Herausgeber Bullialdus hatte den Text einer nicht näher bezeichneten griechischen Handschrift entnommen, die sich in der „Bibliotheca Regis Christianissimi“ befand.9 Bereits Bullialdus hatte versucht, Näheres über das anzunehmende orientalische Vorbild der Tafeln in Erfahrung zu bringen.10 E. B. Knobel11 bezeichnet den persischen Autor Cothb-Eddin Schirazi als orientalischen Urheber, was jedoch lediglich ein Mißverständnis ist.12 L. A. Sedillot13 nimmt an, daß diese Tafeln letzten Endes auf Ibn Yūnis14 zurückgehen.
Die Textuntersuchung des Sternverzeichnisses an insgesamt zweiundzwanzig Fundstellen führt neuerdings zu ganz eigenen Ergebnissen. Es erscheinen drei völlig verschiedene Formen dieses Verzeichnisses, die freilich nach den Angaben der Kataloge und Bibliographien immer in den Chrysokokkes-Text gehören.
Typ I umfaßt 25 Sterne wie bei Bullialdus und ist abgeleitet aus einem arabischen Tafelwerk. Dagegen Typ II mit 67 Positionen stammt aus einem persischen Original. Diese Herkunftsverhältnisse werden durch die anschließende Edition sowohl der griechischen wie der orientalischen Texte verdeutlicht. Typ III schließlich enthält 30 Sterne aus einer alten astrologischen Tradition, die noch unter das dritte Jahrhundert n. Chr. hinabreicht.
Hieraus kann mit aller Vorsicht geschlossen werden, daß wir uns bei den Chrysokokkes-Texten in einem noch nicht genügend geklärten Bereich bewegen. Seine ’E
war konzipiert als Einführung und Erklärung „persischer“ astronomischer Texte, die durch Gregorios Chioniades unter der Regierung Alexios’ II. Komnenos von Trapezunt (1297–1330) aus Tabrīz,
15 also wirklich aus Persien, nach Byzanz gebracht und auch von ihm ins Griechische übersetzt worden waren.
16 Die mehrfach vorkommende Jahreszahl 1346 gehört nach allgemeiner Ansicht zur Abfassung der 'E
durch Chrysokokkes.
17 Wenn man aber annimmt, daß er es war, der ältere Tafeln auf 1346 umgerechnet hat, so bleibt unerklärlich, warum er dabei in Typ II eine Längendifferenz gegen Ptolemäus von 18°23', dagegen in Typ III eine Differenz von+ 18°3o' für die gleiche Epoche angewendet hat.
Abseits hiervon steht Typ I mit Epoche und Koordinaten von 1115, die unverändert beibehalten sind. I scheint also an der Textbearbeitung von 1346 nicht teilgenommen zu haben.18
Auffällig ist auch, daß mehrere Handschriften19 das Verzeichnis gleichzeitig in zwei Typen (I und III) enthalten. Hierbei ist zu bemerken, daß es sich bei I und III um in jeder Beziehung völlig verschiedene und untereinander unabhängige Typen handelt.
Es ist daher nicht sicher zu bestimmen, welcher dieser Texte eindeutig primär Bestandteil des Chioniades-Chrysokokkischen Traditionskomplexes war und wieweit hier auch Texte des gleichen Themenbereichs, jedoch anderer Herkunft eingedrungen sind. So wie sich die Text- und Quellengeschichte der drei Verzeichnistypen aus dem augenblicklichen Stand der Erschließung ablesen läßt, spricht die Wahrscheinlichkeit am meisten dafür, daß II zu den von Chioniades aus dem Persischen übersetzten astronomischen Texten gehört, die dann später Chrysokokkes kommentiert hat.20 Die Datierung der Handschrift I f (vor 1308) erlaubt kaum, Chioniades für den Übersetzer von I zu halten. Eher dürfte ...