Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen leiden hĂ€ufig unter VerĂ€nderungen der Wahrnehmung, die sie in ihrer Teilhabe einschrĂ€nken. Durch Ergotherapie können Strategien erlernt werden, mit denen es diesen Menschen gelingt, im Alltag gezielt z. B. auf WahrnehmungsĂŒber- oder -unterempfindlichkeit und ReizĂŒberflutung einzuwirken, wodurch sich ihre LebensqualitĂ€t deutlich steigern lĂ€sst. Dieses Buch bietet Menschen mit Autismus, Angehörigen und Fachleuten Wissen und praxisnahe Anregungen, wie Stress reduziert werden kann, um ausgeglichener und leistungsfĂ€higer zu werden.
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»Die Autismus-Spektrum-Störung wird heute als ein bestimmtes Cluster an Persönlichkeitseigenschaften angesehen, das mit StÀrken und SchwÀchen einhergeht« (Schildbach, 2019, S. N1).
Wenn Menschen mit Autismus lernen, kompetent mit ihren Wahrnehmungsbesonderheiten umzugehen, gelingt es ihnen oft erstmals, ihre Potenziale auszuschöpfen. Sie entdecken ihre StÀrken und können sie selbstbewusst den SchwÀchen entgegensetzen.
Die Sensorische Integrationstherapie (SI-Therapie) wird zunehmend bei Autismus-Spektrum-Störungen eingesetzt.
Liegen WahrnehmungsverÀnderungen vor, verbessert SI-Therapie bei positivem Verlauf:
âąÂ  Motorische Koordination,
âąÂ  Auge-Hand-Koordination,
âąÂ  Aktivierungsniveau,
âąÂ  KonzentrationsfĂ€higkeit,
âąÂ  Handlungsplanung,
âąÂ  Lernschwierigkeiten,
âąÂ  sprachliche und kommunikative FĂ€higkeiten,
âąÂ  Verhaltensprobleme,
âąÂ  Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Die amerikanische Psychologin und Ergotherapeutin Dr. A. Jean Ayres entwickelte in den 1970er-Jahren den therapeutischen Ansatz »Sensorische Integrationstherapie«. Nachdem sie in den 1950er-Jahren als Teil einer Forschungsgruppe Kinder mit Lernschwierigkeiten untersuchte, kam sie zu dem Schluss, dass neuronale Dysfunktionen die Ursache ihrer Schwierigkeiten waren. Ihre Idee war es, »hirnfunktionale Störungen durch gezielte Nachentwicklung zu verbessern« (Schaefgen, 2007, S. 5).
»Die Sensorische Integration ist ein normaler neurologischer Prozess, bei dem das Gehirn eingehende Sinnesreize aus der Umwelt ordnet, und dem Menschen ermöglicht, sich in seiner Umwelt angemessen zu verhalten. Die Sinnesreize werden organisiert und verarbeitet, verknĂŒpft und interpretiert. Auf diese Art und Weise werden die Sinnesinformationen fĂŒr den Menschen bedeutsam und nutzbar. Diese Nutzung kann in einer Wahrnehmung oder Erfassung des Körpers oder der Umwelt bestehen, aber auch in einem angepassten Verhalten oder einem Lernprozess. Durch die Sensorische Integration wird erreicht, dass alle Abschnitte des Zentralnervensystems, die erforderlich sind, damit ein Mensch sich sinnvoll und emotional zufrieden mit seiner Umgebung auseinandersetzen kann, aufeinander abgestimmt werden.« (Definition der Gesellschaft fĂŒr Sensorische Integration Deutschland e. V. â GSID).
SI-Therapie findet in spielerischer Umgebung statt, meist in RÀumen mit Klettermöglichkeiten, aufgehÀngten SpielgerÀten, Matten, Trampolinen, HÀngematten und teilweise unebenem Boden. »Das wichtigste Therapiemittel ist aber der Körper des Kindes« (Ayres, 2016, S. 197). In spielerischer AtmosphÀre beobachtet der Therapeut genau, »wie die Sinnessysteme aktiviert werden, und ob bestimmte Verhaltensweisen auftreten oder nicht« (ebd.). Die BewegungsaktivitÀten werden dabei eingesetzt, um eine Verbesserung der Hirnfunktion zu erreichen (vgl. ebd., S. 196). »Eins der Behandlungsziele ist es, die Selbststeuerung des Kindes zu stÀrken, damit es selbstbestimmter leben kann.« (ebd., S. 198).
HauptsÀchlich wird die SI-Therapie bei Kindern angewendet, mittlerweile aber auch bei erwachsenen Klienten mit Körperwahrnehmungsstörungen (z. B. aus der Neurologie, Psychiatrie und Gerontologie).
Lorna J. King â ihres Zeichens Pionierin der SI â beziffert die Zahl »aller Kinder mit Autismus, die zusĂ€tzlich Defizite in der Verarbeitung von Sinnesreizen aufweisen« auf »etwa 85 bis 90 Prozent« (King, 1996, S. 5). SI bietet sich also explizit bei Autismus an.
Roseann Schaaf, stellvertretende Direktorin an der Thomas Jefferson University in Philadephia, erklÀrt die »Entstehung typisch autistischer Verhaltensweisen, die bei 80 Prozent der Menschen mit Autismus auftreten, durch Schwierigkeiten mit der sensorischen Modulation« (Schaaf, Toth-Cohen, Johnson, Outten & Benevides, 2011, S. 374).
Zu diesen typischen Verhaltensweisen zÀhlen:
âąÂ  Selbststimulation (z. B. Wippen mit dem Oberkörper, Flattern mit den HĂ€nden, sich drehen),
âąÂ  Vermeidungsverhalten (z. B. sich bei ZimmerlautstĂ€rke die Ohren zuhalten),
âąÂ  sensorische Reizsuche (z. B. Nesteln an Kleidung, Kauen an den Lippen),
âąÂ  Nicht-Wahrnehmung von Reizen (z. B. fehlende Reaktion auf Ansprache).
Die SI-Therapie setzt an Wahrnehmungsbesonderheiten an. Ăber- und unterempfindliche Kinder erreichen in der Therapie einen Erregungszustand, in dem sie Reize aus der Umwelt adĂ€quat verarbeiten können und somit auch adĂ€quate Reaktionen zeigen. Das Verhalten ist angemessen.
Dies funktioniert auch bei Autismus: In einer amerikanischen Pilotstudie wurden bei der Behandlung von autistischen Kindern mit SI-Therapie deutlich positive VerÀnderungen in typisch autistischem Verhalten wie Stereotypien oder stark eingegrenzten Interessen festgestellt (vgl. Pfeiffer, Koenig, Kinnealey & Sheppard, 2011).
Eine weitere randomisierte und kontrollierte Studie ĂŒber die Wirksamkeit von SI-Therapie bei Autismus, wird derzeit an 180 Kindern mit Autismus unter der Leitung von Roseann Schaaf (2018) in New York durchgefĂŒhrt. Mit den Ergebnissen ist 2020 zu rechnen.
In der ergotherapeutischen Praxis werden neben der Sensorischen Integrationstherapie sensorisch-basierte Interventionen fĂŒr die Klienten genutzt. Als handlungsorientierte Therapieform ist der Fokus immer auf die AktivitĂ€ten des tĂ€glichen Lebens (AdtLâs) und die Teilhabe ausgerichtet. So können Strategien aus der Therapie im tĂ€glichen Leben genutzt werden.
WĂ€hrend in Literatur und Studien das Augenmerk vor allem auf der Arbeit mit Kindern liegt, können auch erwachsene Menschen mit Autismus durch das VerstĂ€ndnis der WahrnehmungszusammenhĂ€nge ihre LebensqualitĂ€t verbessern. Wer versteht, warum er in bestimmten Situationen einer ReizĂŒberflutung erliegt, kann frĂŒhzeitig dagegen ansteuern. Er erlebt sich als selbstwirksam.
2 Wahrnehmung und Autismus
Um die wahrnehmungsspezifischen Probleme von Menschen mit Autismus zu verstehen, ist es hilfreich, den Prozess der Wahrnehmung im Allgemeinen zu betrachten. So werden die verÀnderten Reaktionen auf einen Reiz nachvollziehbar.
Definition der Wahrnehmung
Wahrnehmung ist der Prozess und das Ergebnis der Informationsgewinnung und verarbeitung von Reizen aus der Umwelt und dem Körperinneren eines Lebewesens. Die Informationen werden gefiltert und Teil-Informationen zusammengefĂŒhrt, so dass subjektiv sinnvolle GesamteindrĂŒcke entstehen. Diese werden laufend mit gespeicherten Vorstellungen abgeglichen.
2.1 Wahrnehmung als Prozess
Im Prozess der Wahrnehmung (
Abb. 2.1) werden Reize ĂŒber die Sinnesorgane aus dem Körperinneren (Nahsinne) oder der Umwelt (Fernsinne) aufgenommen. Ăber Nervenfasern gelangen die Informationen ins Gehirn, wo sie verarbeitet und mit Reizen aus anderen Sinnessystemen verschaltet werden. Die Reize werden gefiltert, so dass nur »wichtige« Informationen ins Bewusstsein gelangen. Es erfolgt ein Abgleich mit gespeicherten Informationen. Der Reiz wird als »gefĂ€hrlich« oder »angenehm« bewertet, woraufhin eine entsprechende Reaktion erfolgt (Kampf, Flucht, Erstarrung oder Hingabe). Die Reaktion, die mit Bewegung oder verĂ€nderten TonusverhĂ€ltnissen der Muskulatur einhergeht, bewirkt eine neue Reizaufnahme. Der Wahrnehmungsprozess nimmt seinen Lauf.
Abb. 2.1: Die Wahrnehmung als Prozess
Im Autismus arbeiten die Filtersysteme nicht adĂ€quat, was eine Ăber- bzw. Unterempfindlichkeit fĂŒr spezifische Reize zur Folge hat und zu einer verĂ€nderten Bewertung fĂŒhrt. Reize, die objektiv unbedeutend sind, werden z. B. als »Angriff« bewertet. Die subjektiv passende Reaktion ist Verteidigung; objektiv wirkt sie unangemessen.
Eine adÀquate Wahrnehmung ist zunÀchst davon abhÀngig, dass unsere acht Sinnessysteme einwandfrei funktionieren:
Fernsinne
⹠auditive Wahrnehmung (Hören)
âą visuelle Wahrnehmung (Sehen)
âą gustatorische Wahrnehmung (Schmecken)
âą olfaktorische Wahrnehmung (Riechen)
âą taktile Wahrnehmung (FĂŒhlen/ Tasten)
Nahsinne
âą propriozeptive Wahrnehmung (Körperwahrnehmung: z. B. AusmaĂe, Gelenkstellung, Muskeltonus)
âą viszerale Wahrnehmung (Wahrnehmung der inneren Organe: z. B. Blase, Darm, beschleunigter Herzschlag)
âą taktile Wahrnehmung (Hitze- und KĂ€lteempfinden, Wahrnehmung von Schmerz und unspezifischer BerĂŒhrung)
Unsere Sinnessysteme nehmen Reize aus dem Körper und der Umwelt auf. Im Gehirn werden die EindrĂŒcke der verschiedenen Sinne miteinander verschaltet und mit bereits Erlebtem abgeglichen, so können Reize eindeutig identifiziert und adĂ€quat bewertet werden, worauf die passende Reaktion erfolgt.
Nehmen wir beispielsweise ein tiefes Grollen wahr (auditive Wahrnehmung) und fĂŒhlen zugleich Wind auf der Haut (taktile Wahrnehmung), wĂ€hrend sich ĂŒber uns der Himmel verdunkelt (visuelle Wahrnehmung), so erkennen wir Donner als Ursache des GerĂ€uschs. Wir gehen ins Haus (adĂ€quate Reaktion), da wir wissen (GedĂ€chtnisabgleich), dass es gefĂ€hrlich ist, sich wĂ€hrend eines Gewitters drauĂen aufzuhalten.
Die adÀquate Reaktion auf einen Reiz ist abhÀngig von der adÀquaten Wahrnehmung, der Verschaltung, der verschiedenen WahrnehmungsmodalitÀten und der Bewertung.
2.2 Wahrnehmung bei Autismus (Diskrimination und Modulation)
Bereits in den 1980er-Jahren wurden bei autistischen Kindern und Erwachsenen auĂergewöhnliche Reaktionen auf sensorische Reize beschrieben. Autistische Kinder reagierten entweder zu stark, zu schwach oder gar nicht auf sensorische Stimuli (vgl. Fisher, Murray & Bundy 2001, S. 597; siehe auch Allen 1988; Ayres & Tickle, 1980; Baumann & Kemper, 1985).
Wahrnehmungsschwierigkeiten können im Bereich der Diskrimination oder in der Modulation auftreten. HÀufig bestehen in beiden Bereichen gleicherma...
Table of contents
Deckblatt
Titelseite
Impressum
AbkĂŒrzungs- und Fachwortverzeichnis
Geleitwort
Inhalt
Vorwort
Danksagung
1 Einleitung
2 Wahrnehmung und Autismus
3 Lebenspraktische Hilfe â die therapeutische Perspektive
4 Strategien und Methoden bei WahrnehmungsverÀnderungen
5 Die AktivitÀten des tÀglichen Lebens (AdtL)
6 Autismus in der Ergotherapie â Fallbericht einer Mutter zweier Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung
7 Ăbersicht: Typische Anzeichen und HilfsmaĂnahmen