Mein verspieltes Land
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Ungarn im Umbruch

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Ungarn im Umbruch

About this book

Zwanzig Jahre nach der Wende erlebt Europa einen dramatischen Szenenwechsel in Ungarn. Zum ersten Mal wird das Land mit einer Zweidrittelmehrheit von einer national-rechtskonservativen Partei regiert. Die Rechtsradikalen stiegen zur drittstĂ€rksten Kraft im Parlament auf. Die Sozialisten haben die HĂ€lfte ihrer WĂ€hler verloren. Wie konnte der einst bewunderte Schrittmacher der Reformen in der kommunistischen Welt zum besorgniserregenden Krisenherd mit starken rechtsradikalen KrĂ€ften werden? Wird der Wahlsieger, MinisterprĂ€sident Viktor OrbĂĄn durch einen nationalbetonten Kurs die zwischenstaatlichen Spannungen in Mitteleuropa verschĂ€rfen? Was ist der Hintergrund der starken fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Töne in den Medien? Wird die neue Regierung die Wirtschaftskrise bewĂ€ltigen und den weiteren Aufstieg der Rechtsextremisten verhindern können? Im Spiegel der Begegnungen mit SchlĂŒsselfiguren aus Politik undWirtschaft, Kultur und Medien beschreibt Paul Lendvai, einer der renommiertesten Ostexperten Europas, Ungarn im Umbruch und bringt dem Leser die verblĂŒffende Geschichte der letzten 20 Jahre seines Heimatlandes ohne Tabus und Vorurteile nĂ€her.

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1. Kapitel
Ein BegrÀbnis als Ende und Anfang

„Die Geschichte ist das Reich der wahren LĂŒge.“
Antal Szerb
 
Der Budapester Heldenplatz ist nicht nur der weitaus grĂ¶ĂŸte Platz in der Hauptstadt Ungarns. Er ist auch der Stein gewordene Traum von historischer GrĂ¶ĂŸe, ein einzigartiges Denkmal des nationalen Ruhmes und der romantischen Verherrlichung der eigenen Geschichte. Hier wurde am 16. Juni 1989, einem warmen FrĂŒhsommertag, vor 250.000 Menschen bei einer zutiefst symboltrĂ€chtigen Feier ein kommunistisches Regime zu Grabe getragen und die unwiderrufliche Weichenstellung Richtung Demokratie besiegelt.
Dieser Platz des kollektiven nationalen GedĂ€chtnisses wirkt allein wegen seiner Lage sehr beeindruckend. Vor dem StadtwĂ€ldchen und am Ende der fast drei Kilometer langen breitesten Straße in Budapest, der an die Champs-ÉlysĂ©es erinnernden AndrĂĄssy-Straße gelegen, steht in der Mitte des Platzes die anlĂ€sslich der Feierlichkeiten zum tausendjĂ€hrigen JubilĂ€um der Landnahme der Magyaren errichtete 36 Meter hohe SĂ€ule, die eine rund fĂŒnf Meter große Figur des Erzengels Gabriel trĂ€gt. Dieser hĂ€lt in der einen Hand die ungarische Krone, in der anderen das apostolische Doppelkreuz.
Das eigentliche Heldendenkmal und die halbkreisförmige SĂ€ulenreihe der beiden Kolonnenbögen mit Standbildern zur Erinnerung an 14 Könige und Helden der ungarischen Geschichte wurden allerdings erst 1929, also 33 Jahre spĂ€ter, vollendet. Die zwei auch vor der Jahrhundertwende im klassizistischen Stil entworfenen Bauten der GrĂŒnderzeit, rechts die Kunsthalle und links das Museum der bildenden KĂŒnste, schließen die architektonische Einheit des Heldenplatzes ab.
„Temetni tudunk“ heißt kurz und bĂŒndig ein oft zitiertes ungarisches Sprichwort, das auf Deutsch etwa so umschrieben werden muss: „Was wir können, ist Menschen begraben“, oder anders ausgedrĂŒckt, „BegrĂ€bnisse veranstalten“. Die BegrĂ€bnisinszenierung vom 16. Juni 1989 war monumental. Vor den sechs mit schwarzen Fahnen drapierten korinthischen SĂ€ulen ragte der samtschwarze Katafalk empor. Obenauf lagen auf den Treppen die fĂŒnf SĂ€rge der vor 31 Jahren bei einem Geheimprozess zum Tode verurteilten und sofort hingerichteten MĂ€rtyrer: des MinisterprĂ€sidenten Imre Nagy und seiner vier SchicksalsgefĂ€hrten. Der sechste leere Sarg symbolisierte die 300 ermordeten FreiheitskĂ€mpfer des Volksaufstandes von Oktober/November 1956.
Die Grenze zwischen Erinnern und Vergessen ist immer schwer zu bestimmen. In Ungarn bedeutete die Konsolidierung des KĂĄdĂĄr-Regimes nach der blutigen Niederschlagung der Revolution im November 1956 durch die sowjetische Armee[1] die „Verdammung des GedĂ€chtnisses“. Alles, was an die triumphalen und tragischen Tage der Revolution erinnerte, war verpönt. Nach mehr als 30 Jahren der kollektiven Amnesie erschien dann plötzlich bei dieser denkwĂŒrdigen Trauerfeier fĂŒr Imre Nagy die verfĂ€lschte, marginalisierte und vergessene Geschichte von 1956 wieder als die glorreiche und niedergeschlagene Revolution, und unter diesem Vorzeichen traten auch die noch lebenden Akteure auf die BĂŒhne der Geschichte.
Es war nicht die formal noch herrschende Staatspartei, die das Programm fĂŒr die Feierlichkeiten an diesem Tag bestimmte, sondern es waren die Mitglieder des im Vorjahr gegrĂŒndeten „Komitees zur Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeit“. Bereits seit neun Uhr frĂŒh strömten die Menschen aus allen Richtungen an den SĂ€rgen bei der Kunsthalle vorbei und legten Blumen und KrĂ€nze nieder. Um halb eins lĂ€uteten die Kirchenglocken im ganzen Land; die Fabriksirenen heulten, die Autofahrer hupten. Der Straßenverkehr blieb stehen und das Land erinnerte sich mit einer Minute des Schweigens an den hingerichteten MinisterprĂ€sidenten der Revolution. Nach den KlĂ€ngen der Nationalhymne und der Wiedergabe einiger SĂ€tze aus einer Rede Imre Nagys sprachen fĂŒnf ehemalige und zum Teil fĂŒr lange Jahre inhaftiert gewesene „SechsundfĂŒnfziger“ – bewegt und persönlich.
Doch fĂŒr die politische VerĂ€nderung, fĂŒr die diese Feier stehen sollte, sorgte ein unbekannter, junger bĂ€rtiger Mann, der damals 26-jĂ€hrige Viktor OrbĂĄn. OrbĂĄn sprach als Letzter im Namen der jungen Generation. Mit seiner fĂŒr die damaligen VerhĂ€ltnisse außerordentlich scharf formulierten antikommunistischen Rede, mit der Forderung nach Demokratie, UnabhĂ€ngigkeit und dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn wurde er schlagartig in Ungarn und sogar im Ausland berĂŒhmt. Auch rĂŒckblickend muss man den bahnbrechenden Charakter seiner mutigen und den protokollarischen Rahmen sprengenden politisch aufsĂ€ssigen Worte anerkennen.
Die gesamte Kundgebung auf dem Heldenplatz wurde vom ungarischen Fernsehen live ĂŒbertragen, ebenso die darauf folgende Beisetzung Imre Nagys und seiner SchicksalsgefĂ€hrten in der Parzelle 301 auf dem gleichen Friedhof, wo sie zuvor in unbezeichneten MassengrĂ€bern verscharrt gewesen waren. Zu Recht bezeichnete der ungarische Essayist PĂ©ter György den 16. Juni 1989 als das erste Beispiel in der Geschichte der TV-Revolutionen in Mitteleuropa. In seiner anregenden Studie vertrat er die Meinung, dass ohne die OrbĂĄn-Rede, die alle gĂ€ngigen Tabus ĂŒber Bord geworfen hatte, der 16. Juni vielleicht nicht einen historischen Wendepunkt markiert hĂ€tte. Neun Jahre spĂ€ter war ĂŒbrigens der FĂŒhrer der Jugendpartei Fidesz (inzwischen ohne Bart) nach einer kometenhaften Karriere schon MinisterprĂ€sident Ungarns.
Trotz des damals etwas riskanten offensiven Charakters der Rede des Vertreters der Nachgeborenen verlief die Gedenkkundgebung friedlich. Es lag ein GefĂŒhl der Trauer, aber auch eine bedrohliche Entschlossenheit – die gewonnenen Freiheiten nie mehr aus der Hand zu geben – ĂŒber der unvergesslichen Szene. Von der ZwiespĂ€ltigkeit der bereits von FlĂŒgelkĂ€mpfen zerrĂŒtteten und dem Untergang geweihten Staatspartei zeugte die Tatsache, dass nicht nur die Familienmitglieder und Freunde der MĂ€rtyrer und die Protagonisten der demokratischen Opposition, sondern auch solche rechtzeitig gewendete FunktionĂ€re bei den SĂ€rgen die Ehrenwache stellen durften, die noch vor Kurzem auf der anderen Seite der politischen Barrikade gestanden waren: MiklĂłs NĂ©meth, der sich von einem biederen FunktionĂ€r zu einem immer selbststĂ€ndiger agierenden MinisterprĂ€sidenten entwickelt hatte und spĂ€ter fĂŒr die historische Grenzöffnung fĂŒr die DDR-FlĂŒchtlinge im September 1989 mitverantwortlich war; PĂ©ter Medgyessy, stellvertretender MinisterprĂ€sident und Mitglied des kommunistischen Zentralkomitees, der 13 Jahre spĂ€ter als siegreicher „parteiloser“ Kandidat der Sozialisten auch zum Regierungschef bestellt werden sollte, sowie MĂĄtyĂĄs SzƱrös, SpitzenfunktionĂ€r als ZK-SekretĂ€r und kurz vorher auf den politisch einflusslosen Posten des ParlamentsprĂ€sidenten abgeschoben.
Die einzige Ausnahme unter diesen Leuten bildete Staatsminister Imre Pozsgay. Als PolitbĂŒromitglied der KP hatte er als erster Politiker des KĂĄdĂĄr-Regimes den Mut bewiesen, in dem Schlussbericht einer Arbeitsgruppe vorgreifend am 28. Januar 1989 die Ereignisse im Herbst 1956 öffentlich nicht lĂ€nger als „Konterrevolution“, sondern als „Volksaufstand“ zu bezeichnen. Im Gegensatz zu den vielen WendehĂ€lsen des zu Ende gehenden Regimes handelte der im Westen damals am besten bekannte Politiker frĂŒh aus innerer Überzeugung. In der Folgezeit spiegelte – wie wir sehen werden – die wechselvolle und zuweilen turbulente persönliche Geschichte dieser und anderer in der Wendezeit zum Zuge gekommenen Politiker auch die jĂ€hen Kehrtwendungen der Innenpolitik wider.
Und was war mit JĂĄnos KĂĄdĂĄr, dem dominierenden Vertrauensmann des Kremls zwischen seinem Seitenwechsel im November 1956 und seiner Entmachtung im Mai 1988? Der gesundheitlich schwer angeschlagene ehrenamtliche ParteiprĂ€sident erschien im April 1989 unerwartet und unangemeldet auf einer ZK-Sitzung der Partei und hielt eine völlig konfuse Rede, indirekt auch ĂŒber seine Verantwortung fĂŒr die Hinrichtung Nagys. Dramatiker und Schriftsteller, Biografen und Psychologen beschĂ€ftigten sich seither mit den Worten und Andeutungen des verstörten Greises, die auch Stoff fĂŒr ein Königsdrama liefern könnten.
Am Tag der Trauerkundgebung saß der 77-jĂ€hrige Mann in seinem Wohnhaus am RosenhĂŒgel und fragte seine Frau und die anwesenden Pfleger, ohne den von ihm verratenen und an den Galgen ausgelieferten Genossen Imre Nagy beim Namen zu nennen: „Wird jener Mann heute beerdigt?“ Drei Wochen spĂ€ter starb JĂĄnos KĂĄdĂĄr, zutiefst symboltrĂ€chtig am 6. Juli 1989, also an jenem Tag, an dem das Oberste Gericht Imre Nagy und seine SchicksalsgefĂ€hrten offiziell rehabilitierte.
Trotz der historischen Verantwortung, die auf KĂĄdĂĄr lastet: Mehr als 60.000 Menschen zogen in knapp 24 Stunden an seinem in der Eingangshalle des damaligen Parteihauses aufgebahrten Sarg vorbei. Alle Umfragen seit dem Systemwechsel zeigen, dass der VerrĂ€ter und Mörder von Imre Nagy als jovialer Landesvater und als „Markenzeichen einer Goldenen Zeit“ im GedĂ€chtnis blieb. Ende der neunziger Jahre hielten 42 Prozent der Befragten KĂĄdĂĄr fĂŒr „den sympathischsten Politiker des 20. Jahrhunderts“ und bis heute liegt er an der Spitze auf der Rangliste der historischen Persönlichkeiten des Jahrhunderts.
Diese nachtrĂ€gliche VerklĂ€rung des KĂĄdĂĄr-Regimes mag zum Teil eine Reaktion auf die gewaltigen neuen Probleme nach der Wende gewesen sein. Doch ist der „weiche Systemwechsel“ in Ungarn untrennbar von jenem Herrschafts- und FĂŒhrungsstil, der Politik der „kleinen Freiheiten“ und den Konzessionen im Alltag gewesen, die mit dem KĂĄdĂĄr-Kurs verbunden waren und dem Land damals das Attribut der „lustigsten Baracke des sozialistischen Lagers“ in den westlichen Medien verschafft hatten. Die Ambivalenz in der Beurteilung der vergangenen Diktatur liefert bis heute einen der SchlĂŒssel zum VerstĂ€ndnis der in Ungarn so ausgeprĂ€gten Tendenz, Zuflucht in die Vergangenheit zu suchen.
[1]
Infolge der KĂ€mpfe zwischen dem 23. Oktober und dem 31. Dezember 1956 starben 2652 Menschen, verwundet wurden fast 20.000; auf sowjetischer Seite gab es 669 Tote und 1541 Verwundete. Die Anzahl der FlĂŒchtlinge schwankt je nach SchĂ€tzung zwischen 180.000 und 200.000.

2. Kapitel
Systemwechsel der Halbheiten

Als Auslandskorrespondent und spĂ€ter als Kommentator des Österreichischen Rundfunks (ORF) konnte ich aus Wien sozusagen in einer doppelten Position als Außenseiter und doch dank meiner Sprachkenntnisse auch als Eingeweihter den faszinierenden Prozess des Systemwechsels in Ungarn beobachten. Es ist allerdings ein Systemwechsel der Halbheiten geblieben. Mein befreundeter Kollege Adam Michnik hatte in Warschau diesen Vorgang damals zugleich ironisch und geistreich so beschrieben: Man habe einen (ostdeutschen) Wartburg in einen Mercedes umbauen wollen, und noch dazu wĂ€hrend der Fahrt. Wie kann man alles innerhalb eines Systems umbauen – mit Menschen, die bereits in der zweiten Generation in einer Diktatur gelebt haben? Nur so kann man den Sinn des scheinbaren Widerspruches verstehen, den der ungarische Politologe Ferenc Miszlivetz einmal im Jahr 2007 so formuliert hat: Was die Institutionen und das politische System betrifft, sei Ungarn zwar eine Demokratie – aber eine Demokratie ohne Demokraten.
Was geschah eigentlich im viel gerĂŒhmten annus mirabilis 1989 in Ungarn, im Land des grĂ¶ĂŸten Volksaufstandes im Europa der Nachkriegszeit? Im Gegensatz zu den anderen OstblocklĂ€ndern verband sich der Systemwechsel weder mit einem politischen Umsturz noch mit einer dramatischen revolutionĂ€ren Entwicklung. Es gab damals fĂŒr die Menschen – im Kontrast zu den wenigen Tagen des scheinbar siegreichen Aufstandes im Herbst 1956 – kein GefĂŒhl einer moralischen Erneuerung oder einen gewaltigen Drang nach Abrechnung mit den WĂŒrdentrĂ€gern des alten Regimes. Kein einziger kommunistischer SpitzenfunktionĂ€r oder Chef der diversen Geheimdienste wurde zur Verantwortung gezogen.
Charakter, Sinn und Ablauf der Ereignisse wurden im Zuge der zunehmenden innenpolitischen Polarisierung der vergangenen zwei Jahrzehnte zu heftig umkĂ€mpften Streitfragen. Die Begriffe und Konfliktlinien zwischen den jeweiligen Protagonisten sind fĂŒr auslĂ€ndische Beobachter wegen des jĂ€hen Positionswechsels der einzelnen politischen Gruppen im Lauf der Zeit beinahe unĂŒbersichtlich geworden. Wenn jemand wie der legendĂ€re Rip Van Winkle (in Washington Irvings Kurzgeschichte) die 20 Jahre seit dem Umbruch verschlafen hĂ€tte, wĂŒrde er die politischen Hauptgestalten von heute kaum erkennen.
Der einstige bĂ€rtige Jungrevoluzzer Viktor OrbĂĄn fĂŒhrt inzwischen eine große, rechtskonservative, klerikale und stramm nationalistische Partei, die nach ihrem Wahlsieg den Anspruch erhebt, fĂŒr 15 bis 20 Jahre als zentrale politische Kraft die Magyaren nach Belieben und ohne starke Opposition regieren zu können. Die vernichtend geschlagenen Sozialisten, damals die politischen Erben der leninistischen Staatspartei, wurden und werden angeklagt, dem Auslandskapital TĂŒr und Tor geöffnet und das Land ohne RĂŒcksicht auf die arbeitenden Menschen an den globalen Kapitalismus (aus)verkauft zu haben. Der Bund der Freien Demokraten (SzDSz), einst die lauteste antikommunistische und 1990 zweitstĂ€rkste Partei, hat mehrmals (insgesamt fast zwölf Jahre lang) Regierungskoalitionen mit jenen frĂŒheren Exkommunisten und heutigen Sozialisten gebildet, die die SzDSz-WortfĂŒhrer 1989–1990 auf Gedeih und Verderb bekĂ€mpft hatten. Nach FlĂŒgelkĂ€mpfen lösten sich die Liberalen 2009 praktisch auf und auch die seinerzeit mĂ€chtigste bĂŒrgerliche Sammelpartei MDF (Ungarisches Demokratisches Forum) schrumpfte zu einer mikroskopischen GrĂ¶ĂŸe. Eine völlig neue Kraft scheint mit ihrem kometenhaften Aufstieg die rechtsradikale Gruppe „Jobbik“ zu sein; doch findet man auch hier die Wurzeln in der ungarischen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
All das, was sich vor und sogar nach der Wende 1989 abspielte, war in einem tieferen Sinn eine Reflexion auf die historische Erfahrung aus dem Jahre 1956.[1] Die entscheidende Bedeutung des spontanen und unerwarteten Volksaufstandes (23. Oktober 1956 bis 4. November 1956) lag darin, dass er den Zerfallsprozess des osteuropÀischen Imperiums der Sowjetunion zum extremsten bisher erreichten Punkt brachte, aber auch zeigte, dass der durch die sowjetische Hegemonie gekennzeichnete Status quo in Osteuropa aus der eigenen Kraft der Revoltierenden nicht grundsÀtzlich zu Àndern war.
Ab den sechziger Jahren wurde dann dasselbe Land wieder als PrĂŒfstein dafĂŒr betrachtet, wie viel Freiheit ein kommunistisches System ohne dramatische UmwĂ€lzungen und ohne Heraufbeschwörung einer sowjetischen Intervention zu gewĂ€hren und zu ertragen vermag. Die unbarmherzige Zerschlagung der Opposition und die lange Zeit uneingeschrĂ€nkte sowjetische UnterstĂŒtzung, die abgrundtiefe EnttĂ€uschung ĂŒber den Westen, der wie schon 1849 und 1945 das kleine Land seinem Schicksal ĂŒberlassen hatte, und die weit verbreitete Apathie verschafften den Kommunisten sowohl Zeit als auch Möglichkeiten und den nötigen Spielraum, um mit materiellen Konzessionen wichtige Elitegruppen zu neutralisieren und fĂŒr Kompromisse zu gewinnen.
Die raffinierte Taktik von Zuckerbrot und Peitsche trug verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig schnell relativ viele FrĂŒchte. Im ersten Jahrzehnt nach dem Oktoberaufstand stiegen die Reallöhne pro Kopf sogar um 47 Prozent. Die peripheren Konzessionen (berufliches Fortkommen ohne Parteibuch, grĂ¶ĂŸere FreizĂŒgigkeit im kulturellen Leben und die Verminderung der alltĂ€glichen Schikanen) bedeuteten betrĂ€chtliche Erleichterungen fĂŒr die BĂŒrger. Die Befriedung des Dranges nach mehr Wohlstand und etwas mehr Freiheit fĂŒhrte allmĂ€hlich zu einem Konsolidierungs- und Normalisierungsprozess, den 1956 niemand zu erwarten gewagt hĂ€tte. Die psychologisch ungeheuer wichtige und stĂ€ndig erweiterte Möglichkeit von Reisen in den Westen trug im Gegensatz zu den anderen OstblocklĂ€ndern viel zur Akzeptanz und wachsenden PopularitĂ€t des Regimes bei.
In den siebziger und achtziger Jahren entstand in Ungarn der Typus des erfolgreichen KleinbĂŒrgers, den der Politologe LĂĄszlĂł Lengyel als den „Homo KĂĄdĂĄricus“ im Gegensatz zum „Homo Sovieticus“ bezeichnet hat. Nach seiner Analyse lebte dieser in der staatlichen, zugleich aber auch in der „Zweiten Wirtschaft“ und profitierte in der Stadt und auf dem Lande aus diesen NebeneinkĂŒnften. In der „BlĂŒtezeit des reifen KĂĄdĂĄrismus“ wurden das öffentliche und das Privatleben nach der Devise getrennt: „Wir politisieren oben – ihr lebt unten.“ Dieser stillschweigende Modus Vivendi, in dem sich die Staatspartei und das Volk gleichermaßen der Grenzen des Möglichen bewusst waren, ließ eine ungarische Spielart des Kommunismus zu.
Das wirtschaftlich, psychologisch und politisch wichtigste Ereignis der achtziger Jahre war die Verordnung ĂŒber die Möglichkeit zur GrĂŒndung von Kleinunternehmen mit bis zu 30 Angestellten, gefolgt von betrieblichen wirtschaftlichen Arbeitsgemeinschaften (rund zehn Prozent der BeschĂ€ftigten in der Industrie), die nach Dienstschluss auf eigene Rechnung arbeiten durften. In der sogenannten „Zweiten Wirtschaft“, einschließlich der privaten Hofstellen und Hilfswirtschaften in der Landwirtschaft, wurden bereits 1985 schĂ€tzungsweise 17 bis 19 Prozent des Nationaleinkommens erarbeitet.
Der Umbruch in der Gesellschaft löste eine leidenschaftliche Diskussion ĂŒber „Reiche“ und „Arme“ aus. Ein Literaturblatt beschrieb das Geheimnis des ungarischen „Wirtschaftswunders“ so: „In der ersten Schicht – wĂ€hrend der HauptbeschĂ€ftigung – spart man mit der Arbeitskraft, um in der zweiten Schicht – nebenberuflich – das Geld zu verdienen, mit dem man dann, in der dritten Schicht, eine Wohnung baut.“ Ein Soziologe hat das so formuliert: „Vom Lohn kann man nicht leben, bei der NebenbeschĂ€ftigung kann man sich sogar bereichern.“ Und wie immer in Ungarn, wurde die widerspruchsvolle Lage blitzschnell in einem Witz zusammengefasst: „Was ist der Sozialismus? Der lĂ€ngste Weg vom Kapitalismus zum Kapitalismus.“
Im Gegensatz zu den damals in vielen westlichen BlĂ€ttern verbreiteten Klischees ĂŒber „das kommunistische Wunderland“ (so der Titel eines „Spiegel“-Buches im Sommer 1983) spielten sich freilich auch die Wandlungen zum Besseren innerhalb des kommunistischen Systems ab. Vom Anfang bis zum Ende der Herrschaft KĂĄdĂĄrs gab es drei grundlegende Tabus, die niemand infrage stellen durfte: das Einparteiensystem, also die Parteidiktatur; die BĂŒndnistreue zur Sowjetunion, also die Fremdherrschaft; und die Bewertung des Aufstandes von 1956 als Konterrevolution, also auch die RechtmĂ€ĂŸigkeit der Vergeltung, einschließlich des Nagy-Prozesses. Bei der Betrachtung des langen und verschlungenen Weges JĂĄnos KĂĄdĂĄrs (1912–1989), vom Henker und Kerkermeister zum „Landesvater“ und „guten König“ wĂ€hrend der 32 Jahre des mit seinem Namen untrennbar verbundenen Regimes, muss man rĂŒckblickend die ungeheure politische Bedeutung seiner Persönlichkeit hervorheben, und das ungeachtet seiner inzwischen ĂŒberzeugend dokumentierten ĂŒblen Rolle hinter den Kulissen bei der Hinrichtung seiner einstigen KampfgefĂ€hrten LĂĄszlĂł Rajk (1949) und Imre Nagy (1958). Dieser Schreibmaschinentechniker und lebenslange BerufsfunktionĂ€r unterschied sich bei seinen Auftritten stets von anderen kommunistischen ...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Inhalt
  6. Einleitung
  7. 1. Kapitel Ein BegrÀbnis als Ende und Anfang
  8. 2. Kapitel Systemwechsel der Halbheiten
  9. 3. Kapitel JĂłzsef Antall – ein politisches PhĂ€nomen
  10. 4. Kapitel Die Wurzeln des ungarischen Antisemitismus
  11. 5. Kapitel Wiedergeburt der Postkommunisten mit Gyula Horn
  12. 6. Kapitel Der junge Komet – Viktor Orbán
  13. 7. Kapitel Das Medgyessy-RĂ€tsel oder das Scheitern eines Blenders
  14. 8. Kapitel Sendungsbewusstsein einer verfĂŒhrbaren Nation
  15. 9. Kapitel Glanz und Niedergang Ferenc GyurcsĂĄnys
  16. 10. Kapitel Die Macht der diskreten Pressezaren
  17. 11. Kapitel Auf Gedeih und Verderb im Kalten BĂŒrgerkrieg
  18. 12. Kapitel Roma und Juden im Fadenkreuz der Rechtsradikalen
  19. 13. Kapitel Selbstmord der Linken – auf Raten
  20. 14. Kapitel Sieger im Endkampf – OrbĂĄn ĂŒber alles
  21. Abbildungsnachweis