âDie Geschichte ist das Reich der wahren LĂŒge.â
Antal Szerb
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Der Budapester Heldenplatz ist nicht nur der weitaus gröĂte Platz in der Hauptstadt Ungarns. Er ist auch der Stein gewordene Traum von historischer GröĂe, ein einzigartiges Denkmal des nationalen Ruhmes und der romantischen Verherrlichung der eigenen Geschichte. Hier wurde am 16. Juni 1989, einem warmen FrĂŒhsommertag, vor 250.000 Menschen bei einer zutiefst symboltrĂ€chtigen Feier ein kommunistisches Regime zu Grabe getragen und die unwiderrufliche Weichenstellung Richtung Demokratie besiegelt.
Dieser Platz des kollektiven nationalen GedĂ€chtnisses wirkt allein wegen seiner Lage sehr beeindruckend. Vor dem StadtwĂ€ldchen und am Ende der fast drei Kilometer langen breitesten StraĂe in Budapest, der an die Champs-ĂlysĂ©es erinnernden AndrĂĄssy-StraĂe gelegen, steht in der Mitte des Platzes die anlĂ€sslich der Feierlichkeiten zum tausendjĂ€hrigen JubilĂ€um der Landnahme der Magyaren errichtete 36 Meter hohe SĂ€ule, die eine rund fĂŒnf Meter groĂe Figur des Erzengels Gabriel trĂ€gt. Dieser hĂ€lt in der einen Hand die ungarische Krone, in der anderen das apostolische Doppelkreuz.
Das eigentliche Heldendenkmal und die halbkreisförmige SĂ€ulenreihe der beiden Kolonnenbögen mit Standbildern zur Erinnerung an 14 Könige und Helden der ungarischen Geschichte wurden allerdings erst 1929, also 33 Jahre spĂ€ter, vollendet. Die zwei auch vor der Jahrhundertwende im klassizistischen Stil entworfenen Bauten der GrĂŒnderzeit, rechts die Kunsthalle und links das Museum der bildenden KĂŒnste, schlieĂen die architektonische Einheit des Heldenplatzes ab.
âTemetni tudunkâ heiĂt kurz und bĂŒndig ein oft zitiertes ungarisches Sprichwort, das auf Deutsch etwa so umschrieben werden muss: âWas wir können, ist Menschen begrabenâ, oder anders ausgedrĂŒckt, âBegrĂ€bnisse veranstaltenâ. Die BegrĂ€bnisinszenierung vom 16. Juni 1989 war monumental. Vor den sechs mit schwarzen Fahnen drapierten korinthischen SĂ€ulen ragte der samtschwarze Katafalk empor. Obenauf lagen auf den Treppen die fĂŒnf SĂ€rge der vor 31 Jahren bei einem Geheimprozess zum Tode verurteilten und sofort hingerichteten MĂ€rtyrer: des MinisterprĂ€sidenten Imre Nagy und seiner vier SchicksalsgefĂ€hrten. Der sechste leere Sarg symbolisierte die 300 ermordeten FreiheitskĂ€mpfer des Volksaufstandes von Oktober/November 1956.
Die Grenze zwischen Erinnern und Vergessen ist immer schwer zu bestimmen. In Ungarn bedeutete die Konsolidierung des KĂĄdĂĄr-Regimes nach der blutigen Niederschlagung der Revolution im November 1956 durch die sowjetische Armee die âVerdammung des GedĂ€chtnissesâ. Alles, was an die triumphalen und tragischen Tage der Revolution erinnerte, war verpönt. Nach mehr als 30 Jahren der kollektiven Amnesie erschien dann plötzlich bei dieser denkwĂŒrdigen Trauerfeier fĂŒr Imre Nagy die verfĂ€lschte, marginalisierte und vergessene Geschichte von 1956 wieder als die glorreiche und niedergeschlagene Revolution, und unter diesem Vorzeichen traten auch die noch lebenden Akteure auf die BĂŒhne der Geschichte.
Es war nicht die formal noch herrschende Staatspartei, die das Programm fĂŒr die Feierlichkeiten an diesem Tag bestimmte, sondern es waren die Mitglieder des im Vorjahr gegrĂŒndeten âKomitees zur Wiederherstellung der historischen Gerechtigkeitâ. Bereits seit neun Uhr frĂŒh strömten die Menschen aus allen Richtungen an den SĂ€rgen bei der Kunsthalle vorbei und legten Blumen und KrĂ€nze nieder. Um halb eins lĂ€uteten die Kirchenglocken im ganzen Land; die Fabriksirenen heulten, die Autofahrer hupten. Der StraĂenverkehr blieb stehen und das Land erinnerte sich mit einer Minute des Schweigens an den hingerichteten MinisterprĂ€sidenten der Revolution. Nach den KlĂ€ngen der Nationalhymne und der Wiedergabe einiger SĂ€tze aus einer Rede Imre Nagys sprachen fĂŒnf ehemalige und zum Teil fĂŒr lange Jahre inhaftiert gewesene âSechsundfĂŒnfzigerâ â bewegt und persönlich.
Doch fĂŒr die politische VerĂ€nderung, fĂŒr die diese Feier stehen sollte, sorgte ein unbekannter, junger bĂ€rtiger Mann, der damals 26-jĂ€hrige Viktor OrbĂĄn. OrbĂĄn sprach als Letzter im Namen der jungen Generation. Mit seiner fĂŒr die damaligen VerhĂ€ltnisse auĂerordentlich scharf formulierten antikommunistischen Rede, mit der Forderung nach Demokratie, UnabhĂ€ngigkeit und dem Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn wurde er schlagartig in Ungarn und sogar im Ausland berĂŒhmt. Auch rĂŒckblickend muss man den bahnbrechenden Charakter seiner mutigen und den protokollarischen Rahmen sprengenden politisch aufsĂ€ssigen Worte anerkennen.
Die gesamte Kundgebung auf dem Heldenplatz wurde vom ungarischen Fernsehen live ĂŒbertragen, ebenso die darauf folgende Beisetzung Imre Nagys und seiner SchicksalsgefĂ€hrten in der Parzelle 301 auf dem gleichen Friedhof, wo sie zuvor in unbezeichneten MassengrĂ€bern verscharrt gewesen waren. Zu Recht bezeichnete der ungarische Essayist PĂ©ter György den 16. Juni 1989 als das erste Beispiel in der Geschichte der TV-Revolutionen in Mitteleuropa. In seiner anregenden Studie vertrat er die Meinung, dass ohne die OrbĂĄn-Rede, die alle gĂ€ngigen Tabus ĂŒber Bord geworfen hatte, der 16. Juni vielleicht nicht einen historischen Wendepunkt markiert hĂ€tte. Neun Jahre spĂ€ter war ĂŒbrigens der FĂŒhrer der Jugendpartei Fidesz (inzwischen ohne Bart) nach einer kometenhaften Karriere schon MinisterprĂ€sident Ungarns.
Trotz des damals etwas riskanten offensiven Charakters der Rede des Vertreters der Nachgeborenen verlief die Gedenkkundgebung friedlich. Es lag ein GefĂŒhl der Trauer, aber auch eine bedrohliche Entschlossenheit â die gewonnenen Freiheiten nie mehr aus der Hand zu geben â ĂŒber der unvergesslichen Szene. Von der ZwiespĂ€ltigkeit der bereits von FlĂŒgelkĂ€mpfen zerrĂŒtteten und dem Untergang geweihten Staatspartei zeugte die Tatsache, dass nicht nur die Familienmitglieder und Freunde der MĂ€rtyrer und die Protagonisten der demokratischen Opposition, sondern auch solche rechtzeitig gewendete FunktionĂ€re bei den SĂ€rgen die Ehrenwache stellen durften, die noch vor Kurzem auf der anderen Seite der politischen Barrikade gestanden waren: MiklĂłs NĂ©meth, der sich von einem biederen FunktionĂ€r zu einem immer selbststĂ€ndiger agierenden MinisterprĂ€sidenten entwickelt hatte und spĂ€ter fĂŒr die historische Grenzöffnung fĂŒr die DDR-FlĂŒchtlinge im September 1989 mitverantwortlich war; PĂ©ter Medgyessy, stellvertretender MinisterprĂ€sident und Mitglied des kommunistischen Zentralkomitees, der 13 Jahre spĂ€ter als siegreicher âparteiloserâ Kandidat der Sozialisten auch zum Regierungschef bestellt werden sollte, sowie MĂĄtyĂĄs SzƱrös, SpitzenfunktionĂ€r als ZK-SekretĂ€r und kurz vorher auf den politisch einflusslosen Posten des ParlamentsprĂ€sidenten abgeschoben.
Die einzige Ausnahme unter diesen Leuten bildete Staatsminister Imre Pozsgay. Als PolitbĂŒromitglied der KP hatte er als erster Politiker des KĂĄdĂĄr-Regimes den Mut bewiesen, in dem Schlussbericht einer Arbeitsgruppe vorgreifend am 28. Januar 1989 die Ereignisse im Herbst 1956 öffentlich nicht lĂ€nger als âKonterrevolutionâ, sondern als âVolksaufstandâ zu bezeichnen. Im Gegensatz zu den vielen WendehĂ€lsen des zu Ende gehenden Regimes handelte der im Westen damals am besten bekannte Politiker frĂŒh aus innerer Ăberzeugung. In der Folgezeit spiegelte â wie wir sehen werden â die wechselvolle und zuweilen turbulente persönliche Geschichte dieser und anderer in der Wendezeit zum Zuge gekommenen Politiker auch die jĂ€hen Kehrtwendungen der Innenpolitik wider.
Und was war mit JĂĄnos KĂĄdĂĄr, dem dominierenden Vertrauensmann des Kremls zwischen seinem Seitenwechsel im November 1956 und seiner Entmachtung im Mai 1988? Der gesundheitlich schwer angeschlagene ehrenamtliche ParteiprĂ€sident erschien im April 1989 unerwartet und unangemeldet auf einer ZK-Sitzung der Partei und hielt eine völlig konfuse Rede, indirekt auch ĂŒber seine Verantwortung fĂŒr die Hinrichtung Nagys. Dramatiker und Schriftsteller, Biografen und Psychologen beschĂ€ftigten sich seither mit den Worten und Andeutungen des verstörten Greises, die auch Stoff fĂŒr ein Königsdrama liefern könnten.
Am Tag der Trauerkundgebung saĂ der 77-jĂ€hrige Mann in seinem Wohnhaus am RosenhĂŒgel und fragte seine Frau und die anwesenden Pfleger, ohne den von ihm verratenen und an den Galgen ausgelieferten Genossen Imre Nagy beim Namen zu nennen: âWird jener Mann heute beerdigt?â Drei Wochen spĂ€ter starb JĂĄnos KĂĄdĂĄr, zutiefst symboltrĂ€chtig am 6. Juli 1989, also an jenem Tag, an dem das Oberste Gericht Imre Nagy und seine SchicksalsgefĂ€hrten offiziell rehabilitierte.
Trotz der historischen Verantwortung, die auf KĂĄdĂĄr lastet: Mehr als 60.000 Menschen zogen in knapp 24 Stunden an seinem in der Eingangshalle des damaligen Parteihauses aufgebahrten Sarg vorbei. Alle Umfragen seit dem Systemwechsel zeigen, dass der VerrĂ€ter und Mörder von Imre Nagy als jovialer Landesvater und als âMarkenzeichen einer Goldenen Zeitâ im GedĂ€chtnis blieb. Ende der neunziger Jahre hielten 42 Prozent der Befragten KĂĄdĂĄr fĂŒr âden sympathischsten Politiker des 20. Jahrhundertsâ und bis heute liegt er an der Spitze auf der Rangliste der historischen Persönlichkeiten des Jahrhunderts.
Diese nachtrĂ€gliche VerklĂ€rung des KĂĄdĂĄr-Regimes mag zum Teil eine Reaktion auf die gewaltigen neuen Probleme nach der Wende gewesen sein. Doch ist der âweiche Systemwechselâ in Ungarn untrennbar von jenem Herrschafts- und FĂŒhrungsstil, der Politik der âkleinen Freiheitenâ und den Konzessionen im Alltag gewesen, die mit dem KĂĄdĂĄr-Kurs verbunden waren und dem Land damals das Attribut der âlustigsten Baracke des sozialistischen Lagersâ in den westlichen Medien verschafft hatten. Die Ambivalenz in der Beurteilung der vergangenen Diktatur liefert bis heute einen der SchlĂŒssel zum VerstĂ€ndnis der in Ungarn so ausgeprĂ€gten Tendenz, Zuflucht in die Vergangenheit zu suchen.