Das symmetrische Nein
Die bisherige These lautet: Protest ist eine Reaktion auf die begrenzte Institutionalisierungsfähigkeit von Konflikten. Es geht also um die Absorptionsfähigkeit von Nein-Stellungnahmen in den institutionalisierten Verfahren in Organisationen des Staates, der Wirtschaft, aber auch der Bildung oder des Rechts. Darüber hinaus hat die Frage der Bearbeitung des Nein-Potenzials von Kommunikation auch eine kulturelle Dimension, wenn man es so nennen will. Um es auf eine Formel zu bringen: Wenn es ein Signum der gegenwärtigen Kultur gibt, dann ist es ohne Zweifel die exponentielle Ausweitung von Sprecherpositionen. Vielleicht ist das im Bereich der Kunst und der Popkultur am frühesten zu besichtigen gewesen. Moderne Kunst hat sich dadurch ausgezeichnet, dass sie das Nein-Potenzial von Kommunikation so weit ausgereizt hat, dass es für die zeitgenössische Kunst immer schwieriger wurde, überhaupt noch Abweichungen zu finden, die als solche registriert werden können. Ob es um die Malerei, die bildende Kunst, die Musik oder die Literatur geht: Das 20. Jahrhundert hat Genres und Eindeutigkeiten aufgelöst oder zumindest infrage gestellt. Alle überkommenen Formen und ihre Formvorschriften wurden über den Haufen geworfen.
Es ist kein Zufall, dass dies ausgerechnet in der Kunst sichtbar wurde, weil die Funktion der Kunst gerade darin zu suchen ist, auf die Form selbst hinzuweisen, indem das Medium als Medium sichtbar wird. Kunst verweist den Blick darauf, dass alles negiert werden kann – vielleicht ist Kunst selbst eine Form der Negation, weil sie stets den Alltagsblick, die herkömmliche Sehgewohnheit und die Erwartung an bestimmte Anschlüsse enttäuschen, negieren muss, um überhaupt unter Kunstverdacht zu geraten. Das geht so weit, dass Kunst im 20. Jahrhundert dies noch steigert, vielleicht sogar steigern muss, und den unverfälschten Alltagsgegenstand zum Kunstwerk erklärt, um in der Erwartbarkeit des »Normalen« auf die Unerwartbarkeit der künstlerischen Performanz hinzuweisen. Die Provokation, jeder sei ein Künstler (Joseph Beuys), oder die Provokation, einfach eine Suppendose unverfälscht abzubilden (Andy Warhol), lebt davon, dass hier die Nicht-Verfälschung zur vollständigen Verfälschung der Erwartung an die Kunst wird. Es ist das absolute Nein, weil es den Erwartungen in keiner Weise folgt – und ist damit Protest sowohl gegen Alltagsgewohnheiten als auch gegen den Kunstbetrieb selbst.
An der Kunst wird deutlich, was sich in der Gesellschaft zunehmend ereignet: Die eine legitime Form beziehungsweise ein klarer Kanon bestimmter Formen wird durch eine Vielfalt von Formen konterkariert, die immer mehr Möglichkeiten denkbar werden lassen. Was in der Kunst die Auflösung des Stils und der deutlichen Formvorschrift ist, ist in der allgemeinen gesellschaftlichen Kommunikation zunächst die Auflösung von Konventionen bis hin zur Etablierung von Sprecherpositionen, die es zuvor nicht gegeben hat. Denkt man an die sichtbarsten Auswirkungen der gesellschaftlichen Liberalisierungen der 1960er- und 1970er-Jahre, so waren dies zunächst sehr alltagsnahe Negationen von Erwartungen – man kann sich heute kaum mehr vorstellen, wie sehr Kleidungsstile, vor allem Frisuren, aber auch Kommunikationsstile zum alltäglichen familiären Battlefield um mögliche Nein-Stellungnahmen geworden sind. Was sich heute in einer fast universal gewordenen popkulturellen Form der Mixtur und Rekombination von Stilen und ästhetischen Referenzen zeigt und milieu-, vor allem aber generationsübergreifend geworden ist, war in den 1960er- und 1970er-Jahren eine alltägliche Form der Etablierung von Nein-Stellungnahmen im Alltag. Man hat das gerne als Individualisierung und Pluralisierung interpretiert, vor allem ist es aber Ausdruck der kommunikativen Etablierung von Nein-Stellungnahmen zum Erwartbaren. Pluralisierung würde ja nur heißen, dass sich der Möglichkeitsraum erweitert hat. Pluralität wäre ein Nebeneinander von Unterschiedlichem – der soziale Sinn solcher pluraler Formen war aber in nicht unerheblichem Maße das Antipodische, eine Nein-Stellungnahme, die die Form eines Generationskonfliktes angenommen hat.
Es gehört wohl ohnehin zum bürgerlichen Konzept von Jugend, ein bestimmtes, freilich kontrolliertes Maß an Nein-Stellungnahmen zur gesellschaftlichen Norm zu pflegen. Aber spätestens in den Jugendkulturen des späten 20. Jahrhunderts wurde dies zum konstituierenden Prinzip einer Lebensform, die sich mehr und mehr daran gewöhnt hat, mit Abweichungen und Nein-Stellungnahmen umzugehen. Wahrscheinlich kann man Modernisierungsprozesse ohnehin als Emanzipationsgeschichte von Sprecherinnen und Sprechern rekonstruieren, was sich vor allem in der Alltagsrelevanz von sozialen Bewegungen gezeigt hat: Arbeiterbewegung, Bürgerrechtsbewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Homosexuellenbewegung haben nicht zu großflächigen Massenprotesten oder gar Revolutionen geführt, sondern wurden letztlich von den inklusionsfördernden Potenzialen des Staates aufgenommen, also durch die Inklusion von Nein-Stellungnahmen in die Entscheidungsprozesse von Institutionen der Gesellschaft. Damit konnte den Bewegungen recht gegeben und unkontrollierbarer Protest zugleich unterminiert werden. Die Arbeiterbewegung findet sich als betriebliche Mitbestimmung wieder. Aus einem unversöhnlichen Feminismus wurden Frauenförderprogramme. Und Akteure der Friedensbewegung wurden später Befürworter von Militäreinsätzen mit UN-Mandat. Der Wohlfahrtsstaat westlichen Typs ist in der Lage, visionären Protest in die Form des Verwaltungsaktes zu bringen. Damit war womöglich die Protestgeneration der 1960er-Jahre selbst ein Produkt der Folgenlosigkeit von Massenprotest im Wohlfahrtsstaat bei gleichzeitiger Anerkennung seiner politisierbaren und erreichbaren Ziele.
Doch auf alltagskultureller Ebene hat diese institutionelle Anerkennung von Protestforderungen letztlich zu einer Aufweichung des klassischen Jugendkonzepts als Moratorium oder Schonphase geführt und das, was man in der bürgerlichen Gesellschaft der »Jugend« zugerechnet hat, nun quasi universalisiert. Sollten Jugendliche gewissermaßen ausprobieren, was möglich ist, sollten sie sich an den Erwartbarkeiten abarbeiten, wohl wissend, dass diese Phase spätestens mit der Inklusion in die klassischen Institutionen des Arbeitslebens und der Familie vorbei sein würde, scheint sich diese Möglichkeit nun biografisch zu verändern. Das führt zu einer Multiplikation von Sagbarkeiten, die im Alltag tatsächlich als Nein-Stellungnahmen aufgefallen sind. Nicht von ungefähr suchen gegenwärtige Kulturkritiken semantisch nach »erwachsenen« Formen. So richtig solche Diagnosen sind, so sehr verkennen sie womöglich, dass in der normativen Erwartung des »Erwachsenen« gerade jene Art der Kommunikation gemeint ist, der es gelungen ist, Nein-Stellungnahmen in institutionelle und verfahrensförmige Bahnen zu lenken. Exakt das scheint immer weniger zu gelingen.
Moderne Gesellschaften waren stets von einer gewissen Pluralität geprägt, vor allem im Hinblick auf die kulturelle Ausformung unterschiedlicher Milieus und Auffassungen. Neu war dagegen, dass es immer schwerer gelang, so etwas wie eine legitime Form der Selbstbeschreibung der gesellschaftlichen Realität zu gewährleisten. Die Idee des »Erwachsenen« meint exakt das – nach dem Moratorium des Jugendlichen kommt das Individuum in einer Gesellschaft an, deren Grundregeln relativ bekannt sind und in denen durchaus so etwas wie ein Normalmaß an Abweichung vorgesehen ist. Diese Form der bürgerlichen Eindeutigkeit scheint nicht mehr zu gelten. Nun kann man diese Geschichte durchaus als eine Verfallsgeschichte erzählen, lässt dabei aber womöglich die Bedingungen außer Acht, unter denen dies geschieht. Man kann sie auch feiern, verfehlt das Wesentliche damit aber auch. Es lohnt sich also, weiter auf der Spur dessen zu bleiben, was ich hier jenen kulturellen Trend zur Etablierung von Nein-Stellungnahmen nenne.
Zunächst kann man diagnostizieren: Es entstanden seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts Sprecherpositionen, die zuvor weniger legitim das Wort erheben konnten. Modernisierung kann als ein Emanzipations- oder Inklusionsprozess unterschiedlicher Gruppen der Gesellschaft angesehen werden: Der Untertan wird zum Bürger emanzipiert, Arbeiter und untere Schichten werden mit Gleichheitsrechten ausgestattet, Frauen werden gleichberechtigt, Behinderung, nichtheterosexuelle Lebensformen und alternative Lebensstile werden anerkannt, ästhetische Abweichung wird alltagstauglich, Kritikfähigkeit wird zum entscheidenden Erziehungsziel, die Individualität des Lebensentwurfs darf sich vor allem an sich selbst und weniger an ausgebauten Karrierepfaden orientieren usw.
Vor allem alternative Lebensstile der linksalternativen Szene, wie sie Ende der 1960er-Jahre im unmittelbaren Gefolge der Ereignisse um 1968 entstanden sind und ab den 1980er-Jahren eher abflauten, können als ganze Lebensformen in Form einer Nein-Stellungnahme gelesen werden. Mit der Protestkultur des linksalternativen Lebens wird eine Inklusion alternativer Lebensformen in die Gesellschaft durch Exklusion ganzer Szenen aus erwartbaren Strukturen verfolgt. Es entstand ein Habitus, der das Leben selbst zu einer Art Protest, zu einer lebensweltlichen Nein-Stellungnahme gemacht hat. Studien gehen davon aus, dass in den 1970er-Jahren zehn bis–15 Prozent der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Deutschland diesem Alternativ- und Protestmilieu angehört haben. Es geht also nicht um eine marginale Gruppe.
Die linksalternative Szene umfasste unterschiedliche Formen, etwa eine reichhaltige Alternativpresse, alternative Formen des Ökonomischen mit einem Schwerpunkt im Dienstleistungssektor (Gastronomie, Buchläden, Musik, Kunst, Weiterbildung etc.), alternative Wohn-, Lebens- und Erziehungsformen...